Arbeitsmarkt und Migration

Fachkräftemangel: Widersprüche – und was Gewerkschaften sagen

| 16. April 2024
@midjourney

Fachkräftezuwanderung kann nicht die einzige Lösung darstellen. Denn die Migrationspolitik erfordert hohe Investitionen für die Integration in den Arbeitsmarkt – während die Schuldenbremse diese Investitionen gleichzeitig unterbindet.

Der dominierende Fachkräftemangeldiskurs ist stark von dem Gedanken geprägt, vor allem auf die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zu setzen.[1] Unsere beiden Thesen dazu lauten:

  • Um Fachkräftemängel zu vermeiden, ist auch die Steigerung der Arbeitsproduktivität ein elementarer Baustein;
  • Zuwanderung erfolgte in den vergangenen zehn Jahren vor allem aufgrund von Kriegen in den Herkunftsländern und verlief am Arbeitsmarkt leider oft wenig erfolgreich.

Aus gewerkschaftlicher Sicht bilden Arbeitskräfteknappheiten günstige Voraussetzungen, um höhere Verdienste durchzusetzen. Gleichzeitig sind bestehende Arbeitskräftemängel beispielsweise in der Care-Arbeit entscheidende Hemmnisse dafür, mit ausreichender Personalausstattung eine bessere Betreuungsqualität zu etablieren und damit das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen mit höheren Wochenarbeitsstunden zu erhöhen.

Während öffentlich nahezu inflationär von Mangel gesprochen wird, identifiziert die Bundesagentur für Arbeit (BA) Fachkräfteengpässe in etwa einhundert Berufen, die überwiegend im Handwerk, dem Einzelhandel, der Pflege und der Gastronomie angesiedelt[2] und in denen prekäre Arbeitsbedingungen stark verbreitet sind. Die Übergänge zwischen Knappheit und Mangel sind oft nicht trennscharf. So stellt die BA für Pflege- und Baufachkräfte „Anzeichen eines Engpasses“ fest, obwohl in beiden Berufen auf eine offene Stelle jeweils ein Bewerber kommt. Es handelt sich mithin um einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt, der für arbeitslose oder wechselwillige Arbeitnehmer große Chancen bietet.

Arbeitsproduktivität stärker in den Blick nehmen

Unsere erste These lautet: Fachkräftemängel könnten mit einer Steigerung der Arbeitsproduktivität mittels höher Investitionen behoben werden.[3] Mithin mit einer industrie- und strukturpolitischen Strategie, die vor allem auf Investitionen und Innovation setzt. „Wenn Arbeitskräfte knapper werden, steigt ihr Preis (also der Lohn)“, urteilt Joachim Ragnitz und schlussfolgert zutreffend: „Höhere Arbeitskosten geben wiederum einen Anreiz zur Substitution von Arbeit durch Kapital bzw. Technologie. Das führt zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität.“[4]

Den Ansatz, „Arbeitskräftemängel durch eine Ausweitung des Arbeitsangebots“ und „Steigerung der Erwerbsmigration“ zu überwinden, kritisiert Alexander Horn als „neo-merkantilistisches Denken“.[5] Auch Marcel Fratzscher wirbt für eine Strategie der höheren Produktivität: „Arbeitskräftemangel reduziert die Marktmacht der Arbeitgeber und zwingt sie, einen größeren Teil ihres Ertrags an die Beschäftigten abzugeben und weniger an ihre Eigentümer auszuschütten“. Die Arbeitgeber seien dann gezwungen, „mehr in ihre Beschäftigten, bessere Arbeitsbedingungen oder eine größere Kapitalausstattung zu investieren“.

Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2023); eigene Berechnungen.

Wie die Abbildung zeigt, ist die Arbeitsproduktivität im verarbeitenden Gewerbe zwischen 2015 und 2022 um 3,7 Prozent gesunken, obwohl parallel erhebliche Arbeits- und Fachkräftemängel bestanden.

Grundvoraussetzung einer erhöhten Arbeitsproduktivität sind höhere Investitionen in den Kapitalstock. Ausweislich der Grafik ist das Investitionsniveau 2021 aber niedriger als 2015. Die rückläufige Entwicklung der Investitionsquoten[6] bestätigt diesen Befund (2015 = 100, 2021 = 88,0).

Um höhere private Investitionen zu mobilisieren, wären im Sinne des Keynesianischen Multiplikatoreffekts höhere öffentliche Investitionen erforderlich. Doch auch die sind wegen der restriktiven Fiskalpolitik des Landes mitsamt Schuldenbremse gleichfalls stark zurückgegangen.[7]

Zuwanderung in den Arbeitsmarkt erfolgreicher gestalten

Unsere zweite These ist: Angesichts einer Arbeitslosenquote von unter vier Prozent kann eine an den tatsächlichen Kompetenzbedarfen ausgerichtete Zuwanderung einen Beitrag zu einer besseren Fachkräfteversorgung leisten. Allerdings ist der Erfolg der humanitär motivierten Zuwanderung – nach Jahrzehnten der erfolgreichen Migration aus Südeuropa – in puncto Arbeitsmarktintegration bislang überschaubar. Auch die Bertelsmann Stiftung (2022) berichtet für Deutschland hierzu: „Die Rekrutierung ausländischer Fachkräfte wird von Unternehmen weiterhin sehr wenig genutzt.“

Während die Fachkräftezuwanderung, die stets auch mit negativem Brain-Drain-Effekten auf die Herkunftsgesellschaften beispielsweise in ihrer Versorgung mit Pflegekräften und ärztlichem Personal verbunden sein können, gering sei, sei der Zuzug Geflüchteter hoch.[8]

Die Zahl der Migranten aus Syrien, Afghanistan, Irak usw., die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, betrug 2023 gerade einmal 63.000 Personen. Gleichzeitig bezogen 51.000 Erwerbsfähige mit diesem Migrationshintergrund Grundsicherungsleistungen. Unter den Migranten mit Asylhintergrund, die größtenteils seit dem Jahr 2015 nach Baden-Württemberg kamen, ist demzufolge ungefähr jeder Zweite nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt, was für Betroffene wie auch die Gesellschaft gleichermaßen nachteilig ist.

Der Bundesarbeitsminister orientiert nunmehr unter dem Slogan „Job-Turbo“ die Arbeitsagenturen auf eine schnellere Vermittlung der Migranten in Arbeit, die erfahrungsgemäß vor allem im Bereich der Helfertätigkeiten des Niedriglohnsektors liegen dürfte.

Diese Entscheidung ist einerseits richtig, wenn sie dazu beiträgt, die Einmündung in Erwerbsarbeit zu unterstützen. Sie birgt andererseits die Gefahr, dass Bildungspotenziale von Migranten nicht gehoben werden und sie dauerhaft in prekärer Arbeit verbleiben könnten. Dies wäre weitgehend inkompatibel mit einer Innovations-, Fachkraft- und Hochlohnstrategie, die auf eine erhöhte Arbeitsproduktivität zielt.

Mehr Optimismus hinsichtlich einer guten Passung könnte sich bei der Gruppe der aus der Ukraine Geflohenen ergeben. Von ihnen verfügen 72 Prozent über einen Hochschulabschluss und elf Prozent über eine berufliche Qualifikation.[9] Allerdings ist die Mehrzahl von ihnen wegen fehlender Kinderbetreuung und fehlender Anerkennung von Zeugnissen noch nicht in Arbeit.

Gewerkschaftliche Ansatzpunkte auf mehreren Ebenen

Arbeitgeberverbände und Teile der Politik neigen dazu, einseitig auf die Lösung ihrer Fachkräfteprobleme mittels Zuwanderung zu setzen, Investitionen in die Steigerung der Arbeitsproduktivität und damit verbunden in die Qualifizierung der Beschäftigten jedoch zu vernachlässigen.

Fachkräftezuwanderung ist zwar richtig. Sie kann realistischerweise aber nicht die einzige Lösung darstellen. Zum einen, weil gar nicht so viele qualifizierte Kräfte nach Deutschland kommen wollen. Zum anderen muss der Blickwinkel aus gewerkschaftlicher Sicht auch auf die soziale Infrastruktur, die Frage nach ausreichend Wohnungen, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen etc. erweitert werden.

Grundsätzlich: Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, auch Menschen, die bereits im Land leben, Beschäftigungs- und Berufsperspektiven zu eröffnen. Das gilt genauso für Frauen, die aus der Teilzeitfalle herauskommen wollen, wie für Menschen aus den ärmeren EU-Ländern und Geflüchtete, die nur zu prekären Bedingungen Arbeit finden. Deshalb warnen wir an dieser Stelle vor einer Engführung der Debatte. Integration ist eine große Kraftanstrengung für alle Beteiligten. Und sie braucht Zeit. Weder ein naives „Wir schaffen das!“ noch die Fixierung auf ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild werden den komplexen Herausforderungen der mittelbaren Zukunft gerecht.

Es sind erheblich höhere Investitionen in die frühkindliche und schulische Bildung der Kinder der Geflüchteten wie der sozial schwachen autochthonen Bevölkerung zugleich erforderlich. Die Investitionsrückstände in Schulen und Kindergärten, wo sich der Integrationserfolg aller Kinder maßgeblich entscheidet, betragen knapp sechs Milliarden Euro[10], für die angesichts der rigiden Haushaltspolitik keine Finanzierung existiert.

„Im Kampf gegen den Fachkräftemangel“ identifiziert die BA zutreffend ein „Potenzial von 112.000“ Vollzeitstellen unter teilzeitbeschäftigten Frauen, deren Erwerbsbeteiligung erhöht werden könnte. Der Höchststand an Beschäftigten resultiert in der Tat sehr stark aus der Ausweitung der Teilzeitarbeit, die ganz überwiegend weiblich geprägt ist. Mit einer Erhöhung ihres Arbeitsstundenvolumens könnten die betroffenen Frauen nicht nur einen Beitrag zur besseren Fachkräfteversorgung leisten, sondern auch das eigene Einkommen steigern.

Allerdings wählen viele Frauen beispielsweise aus Pflege oder Kinderbetreuung bewusst Teilzeitarbeitszeitmodelle, weil sie den hohen Arbeitsbelastungen sonst nicht standhalten könnten. Arbeitsbedingungen müssen gesundheitsförderlicher sein, um Fachkräfte zu gewinnen.

Die Weiterbildung in den Arbeitsalltag zu integrieren ist eine weitere Stellschraube. Die Landesregierung hat in enger Kooperation mit Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften erfolgreiche Ansätze entwickelt: Beispielsweise das Onlinekursportal „The Chänce“ mit Beratungsangeboten. Ergänzend besteht die von Südwestmetall und IG Metall gemeinsam getragene Agentur Q, die auf Grundlage des Tarifvertrags zur Qualifizierung Unternehmen und Betriebsräte berät. Hinzu kommen die betrieblichen Weiterbildungsmentoren, die kollegial und auf Augenhöhe im Betrieb beraten.

Gleichwohl – und darin besteht ein weiterer Widerspruch – können Bildungsbedarfe, die wesentlich durch zukünftige betriebliche Prozessveränderungen entstehen, nur dann identifiziert werden, wenn in den betroffenen Betrieben Transformationskonzepte existieren. Tatsächlich verfügt weniger als die Hälfte der Betriebe über eine Transformationsstrategie, noch wird der Qualifizierungsbedarf systematisch ermittelt. Das Dilemma ist: Wenn die Fort- und Weiterbildungsbedarfe betrieblich nicht bekannt sind, können auch die arbeitsmarktpolitischen Instrumente wie die Weiterbildungsförderung (§ 82 SGB III) oder das Qualifizierungsgeld (§ 82 a SGB III) nicht wirksam eingesetzt werden.

Der wesentliche Widerspruch des Fachkräftemangeldiskures besteht mithin zwischen einer linksliberalen, primär an humanitären Werten orientierte Migrationspolitik, aus der naturgemäß hohe Investitionsbedarfe für eine Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt folgen, und einer rechtsliberalen Fiskalpolitik, die mit einer strikten Neuverschuldungsregel in Grundgesetz und Landesverfassung diese erforderlichen Investitionen gleichzeitig unterbindet. Mehr denn je wird mit der künftigen Ausgestaltung der Investitions- und Integrationspolitik über künftige Fachkräfteengpässe entschieden.

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[1] vgl. u. a. Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus 2022. Sämtliche Befunde in diesem Beitrag beziehen sich - wenn nicht anders vermerkt - auf Baden-Württemberg.
[2] BA (2023): Engpassberufe in Baden-Württemberg, Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg
[3] vgl. Sachverständigenrat (2023): Wachstumsschwäche überwinden – in die Zukunft investieren, Jahresgutachten 2023/2024, Wiesbaden, S. 119-128.
[4] Ragnitz, Joachim (2023) Modernisierungsschub durch Fachkräftemangel, in: ifo Dresden berichtet 1/2023, S. 26-27.
[5] Horn, Alexander (2023): Die wahre Ursache des Fachkräftemangels ist die schwache Produktivität, in: Wirtschaftswoche, 2. Oktober 2023
[6] Investitionen im verarbeitenden Gewerbe im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt im jeweiligen Jahr
[7] vgl. Scholz, Jendrik (2019): Migrations- und Integrationspolitik am Beispiel Baden-Württembergs, in: Zeitschrift Sozialismus 4/2019, S. 67.
[8] vgl. Schultz, Susanne U. (2022): Fachkräftemigrationsmonitor 2022 der Bertelsmann Stiftung – Fachkräfteengpässe von Unternehmen in Deutschland, Trends und Potenziale zum Zuzug ausländischer Fachkräfte, Gütersloh, S. 6.
[9] vgl. Brücker, Herbert/Ette, Andreas/Grabka, Markus M. u. a. (2022): Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland – Flucht, Ankunft und Leben, IAB/BiB/BAMF/SOEP, Nürnberg, S. 6-7.
[10] vgl. Rüffer, Christian/Scheller, Henrik (2021): KfW-Kommunalpanel 2021, Frankfurt am Main, S. 12.