Europas Rüstung und ihre wirtschaftlichen Folgen
Im Schatten des russischen Angriffskriegs und unter dem Spardiktat des Stabilitäts- und Wachstumspakts dominiert ein neuer Rüstungskeynesianismus die EU-Agenda. Welche Folgen das für unseren Wohlstand hat, zeigt Teil eins dieser Analyse.
Der Chefökonom des Wiener Momentum Instituts Oliver Picek, den man diskret auch in den Kulissen des MMT-institutionalistischen Postkeynesianismus antreffen kann, spricht ein großes Wort gelassen aus. Sinngemäß stellt er fest, dass ein neuer europäischer Rüstungskeynesianismus kaum Wirkung entfalten kann, solange die EU an ihren austeritätsgeprägten Fiskalregeln im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts festhält. Der oft beschworene Weg zu „europäischer Souveränität“ bleibt damit unvollständig – trotz der strategischen Neuorientierung der US-Außen- und Bündnispolitik. Zugleich rückt erneut die Frage in den Fokus, was „Souveränität“ im institutionellen Gefüge der EU konkret bedeutet – jenseits der abstrakten Vision einer föderalen „Europäischen Republik“.
Aus ökonomischer Sicht und im Interesse des Wohlstands der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung ist die Produktion von Rüstungsgütern höchst problematisch. Denn Rüstungsgüter sind sogenannte unreproduktive Investitionsgüter, wie der Soziökonom Günther Grunert mehrfach auf MAKROSKOP betont hat. Darunter fallen alle dauerhaften Anlagegüter, die mit ihrer Herstellung auch ihren Endzweck erreicht haben und keine weiteren Beiträge für die wohlstandsfördernde Produktion sonstiger Waren und Dienstleistungen liefern.
Lesen Sie auch:
Ein olivgrünes Wirtschaftswunder?
Günther Grunert | 25. März 2025
Gute Rüstungsausgaben, schlechte Bildungsausgaben?
Günther Grunert | 01. Mai 2024
Das lässt sich anhand des Vergleichsbeispiels zwischen Panzer und Lokomotive exemplifizieren, für deren Herstellung annähernd die gleichen Ressourcen (geeignete Rohstoffe, entwickelte Technologien und qualifizierte Arbeitskräfte) mobilisiert werden müssen. Der Panzer rollt in Friedenszeiten aus der Montagehalle der Waffenfabrik direkt ins Arsenal der Armee, wo er für einen mutmaßlichen Einsatzes gepflegt und gewartet wird, um gelegentlich auf den Truppenübungsplätzen ins Manöver gefahren zu werden.
Die Lokomotive ist hingegen elementarer und dauerhaft genützter Bestandteil der schienengebundenen Verkehrsinfrastruktur, die zum Transport von Personen und Gütern unerlässlich ist. In den Preisen der betreffenden Transportdienstleistungen, die von den Produzenten sonstiger Waren und Dienstleistungen laufend in Anspruch genommen werden, wird der anteilige Reproduktionswert (Wiederbeschaffungswert) der Lokomotive in Form von valorisierten Abschreibungen kalkuliert.
Mit Fug und Recht kann man behaupten, dass der Panzer der Landesverteidigung dient und daher zur äußeren Sicherheit beiträgt, die erst eine gedeihliche Produktions- und Dienstleistungswirtschaft ermöglicht. Während aber die Verkehrslogistik einer entwickelten Volkswirtschaft für die Herstellung sonstiger Waren und Dienstleistungen alternativlos ist, kann die äußere Sicherheit eines Landes auch durch kooperative und kollektive Friedenssicherung anstelle der Produktion von Rüstungsgütern zur dauernden Aufrechterhaltung der abschreckungswirksamen „Kriegstauglichkeit“ erreicht werden.
Unter den politischen Rahmenbedingungen der organisierten Friedfertigkeit sind weniger Panzer und mehr Lokomotiven und folglich ein gesteigerter Wohlstand bei gleicher Ressourcennutzung naheliegend und möglich. Die biblische Anleihe „Schwerter zu Pflugscharen“ der Friedensbewegung hat mehr als alles andere ihre ökonomische Berechtigung für eine Produktions- und Dienstleistungswirtschaft, die auf breiten Wohlstand gerichtet ist. Der Überbegriff heißt „Friedensdividende“. An wen sie ausgezahlt wird, bestimmt das vorherrschende Verteilungsregime, dessen neoliberale Version die untere Bevölkerungshälfte regelmäßig ziemlich leer ausgehen lässt.
Die Preisgabe der „Friedensdividende“ durch graduelle Umwidmung der verfügbaren Ressourcen im Zuge der gesteigerten Produktion von Rüstungsgütern hat weitreichende Konsequenzen, die mit der Funktionsweise der monetären Produktions- und Dienstleistungswirtschaft als Grundtypus kapitalistischer Geldwirtschaften zusammenhängt. Mit der Produktion von Rüstungsgütern werden nämlich entlang ihrer Wertschöpfungsketten durch die einschlägige Ressourcenmobilisierung und -verwertung Geldeinkommen in Form von Löhnen und Gewinnen generiert. Sie repräsentieren ein monetäres Nachfragevermögen (landläufig: Kaufkraft) für zivile Lohn- und Kapitalgüter (landläufig: Konsum- und Investitionsgüter), denen kein geeignetes Angebot entspricht, weil sich die hergestellten Rüstungsgüter infolge ihres unreproduktiven (diesfalls: militärischen) Endzwecks einer konsumptiven oder investiven Verwendung entziehen. Es entsteht eine Übernachfrage, die auf die Waren- und Dienstleistungsströme aus der Konsum- und Investitionsgüterproduktion mit Inflationsimpulsen einwirkt.
Keynes „erzwungenes Sparen“
Unreguliert schließt die Rüstungsinflation die Angebotslücke im Zivilgütersektor, indem die reale Nachfrage auf das Niveau seines beschränkten Angebots abgesenkt wird. Als fiskalpolitische Alternative kann ein spezieller Steuerzuschlag – wie ein ‚Rüstungssoli‘ – helfen, zu viel Nachfrage in der Wirtschaft abzuschwächen. So soll verhindert werden, dass durch hohe Rüstungsausgaben die Preise stark steigen. Gleichzeitig fließt ein Teil des Geldes, das vorher von der Notenbank kam, über die Steuerzahlungen wieder zurück zum Staat.
So oder so wird am Ende die Rüstungsrechnung von der arbeitenden Zivilbevölkerung durch steigende Preise bezahlt. Unter dem Regime der EU-Fiskalregeln steht überdies das gemeinschaftliche Regelwerk samt Kontroll- und Anpassungsmechanismen (im Rahmen des europäischen Semesters) zur Verfügung, um den restriktiven Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) auch unter rüstungskeynesianischer Expansion mit gesicherter Abwälzung der unausweichlichen Konsolidierungslasten an die unteren und mittleren Einkommensschichten zu entsprechen.
Um genau das zu verhindern, hat Keynes in seiner kriegswirtschaftlichen Diskussionsschrift How to Pay for the War: A Radical Plan for the Chancellor of the Exchequer (1940) das Konzept des „erzwungenen Sparens“ lanciert. Übernachfrage (Ausgaben von Rüstungsarbeitern treffen auf einen ressourcenverknappten und daher angebotsbeschränkten Konsumgütersektor) sollte zur Inflationsabwehr in Form einer Art laufenden Zwangsanleihe abgeschöpft werden, so Keynes.
Diese Alternative oder Ergänzung zum progressiven Lohn- und Einkommenssteuerzuschlag („Rüstungssoli“) begründet eine anwachsende Forderung gegen den Staat, die nach Kriegsende bei Auslaufen des Rüstungsbooms durch eine Steuergutschrift zur freien Verfügung eingelöst wird und gegen die Nachkriegsrezession infolge des Abbaus der Rüstungskapazitäten nachfragewirksam und stabilisierend wirkt. Das heißt: Dem „erzwungenen Sparen“ entspricht der „aufgeschobene Konsum“, dessen herstellungsnotwendiger Ressourcenbedarf vordem in die Rüstungsproduktion gelenkt wurde.
Die arbeitende Bevölkerung zahlt daher nicht für die Rüstungsrechnung, sondern kreditiert auf verzinslicher Anleihebasis einen Teil der finanziellen Mittel für die staatlichen Rüstungsausgaben. Finanzwirtschaftlich kann das nur funktionieren, wenn die kriegswirtschaftliche Zwangsanleihe aus monetärer Staatsfinanzierung rückerstattet wird. Allein die Notenbank des geldsouveränen Staates kann die Schulden – im Wege der fiskalischen Seigniorage sogar zinskostenfrei – übernehmen, die durch die unreproduktive Ressourcenverschwendung der Rüstungsproduktion in Kriegszeiten entstehen. In der „konsolidierten Staatsbilanz“ heben sich die Forderungen der Notenbank gegen die Finanzbehörde aus der Zwangsanleihenrefinanzierung und die korrespondierenden Verbindlichkeiten der Finanzbehörde an die Notenbank auf.
Eine „Goldene Rüstungsregel“?
Die jüngere Vergangenheit macht die Abträglichkeit des EU-Fiskalregimes (nicht zum ersten Mal) recht deutlich. Angesicht der dramatischen Wirtschaftseinbrüche, die von der gesundheitspolitischen Gefahrenabwehr der Coronapandemie (unter anderem Lockdowns) zwangsläufig ausgelöst wurden, war am 17. März 2020 die allgemeine Ausweichregel des SWP aktiviert worden, mit der die Sanktionsmechanismen bei Überschreitung der Maastricht-Kriterien generell pausierten.
Die Ausweichklausel blieb über die Teuerungskrise hinweg aufrecht, zumal die aus der Pandemie angestauten Lieferkettenstörungen und das Sanktionsregime im Energierohstoffhandel in Reaktion auf den Ukrainekriegs eine (teils spekulative) Inflationswelle ungeahnten Ausmaßes befeuert haben. Da preisregulierende Markteingriffe ausblieben, wurden ersatzweise budgetwirksame Notmaßnahmen der sozialen Sicherung (unter anderem Energiepreisbremsen) ergriffen. Dadurch konnten bis zur Aufhebung der allgemeinen SWP-Ausweichregel ab dem 30. April 2024 und dem Inkrafttreten eines modifizierten Überwachungsmechanismus („präventiver und korrektiver Arm“ der Budgetkonsolidierung) der unveränderten Maastricht-Kriterien automatische und diskretionäre Stabilisatoren der krisenbetroffenen EU-Volkswirtschaften im Umfang der jeweiligen Defizit- und Verschuldungsanstiege wirksam werden. So milderten die EU-Mitgliedsstaaten die wirtschaftlichen Krisenfolgen von Pandemie und Inflation ab.
Unterstützt wurde diese gelockerte EU-Stabilitätspolitik überdies mit dem Hilfsprogramm Next Generation EU (NGEU) im Umfang von 806,9 Milliarden Euro, aus dem als Kerninstrument die Recovery and Resilience Facility (RRF) – Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF) hervorging – mit einem Finanzierungsrahmen von 650 Milliarden Euro für den Ausnützungszeitraum 2020-26.
Die Besonderheit dieser – gemessen am EU-BIP – moderaten Unterstützungsaktion ist ihre Refinanzierung im Rahmen der Begebung von gemeinschaftsgarantierten Anleihen der Europäischen Kommission (EK-Bonds anstelle von Eurobonds[1]) und eine Mittelzuteilung von 359 Milliarden Euro an die EU-Länder in Form von nicht rückzahlbaren Finanzhilfen (neben 291 Milliarden Euro in rückzahlbarer Darlehensform).
Damit dieses Konstrukt den äußeren Anschein der „deutschen Stabilitätskultur“ (Ausschluss der solidarischen Länderhaftung für EU-Gemeinschaftsschulden und von finanzausgleichsverdächtigen Transferzahlungen) wahrt, wurden ans Groteske grenzende Um- und Sonderwege beschritten: die EU-Garantie für die Bondgläubiger wurde durch eine Ausweitung des Budgetplafonds für EU-Eigenmittel (2 Prozent des EU-BIPs für den Beitragsklub) dargestellt und die EK-Anleihen mit einem Tilgungsplan (2028-58) aus eben diesen Budgeteigenmitteln unterlegt.
Solche Kopfstände in der Bilanzkosmetik, um die deutschstämmige Stabilitätsneurose zu sedieren, will man sich bei der von der Kommissionspräsidentin am 6. März 2025 angekündigten Finanzierungserleichterung für Rüstungsausgaben im Umfang von 800 Milliarden Euro (Fünf-Punkte-Plan ReArm Europe) offensichtlich ersparen. Mit Ausnahme einer Darlehensfazilität in Höhe von 150 Milliarden Euro für gemeinschaftliche Rüstungsprojekte soll die Aktivierung der nationalen SWP-Ausweichregel dafür sorgen, dass die EU-Überwachungs- und Anpassungsverfahren bei übermäßigem Defizit (ÜD-Verfahren) nicht auf steigende Verteidigungsausgaben reagieren.
Darüber hinaus sollen EU-Budgetumschichtungen aus den Kohäsionsprogrammen zu Rüstungsprojekten erleichtert und die Europäische Investitionsbank (EIB) sowie der private Kapitalmarkt für die Risikofinanzierung der Rüstungsindustrie mobilisiert werden. Die operative Ausgestaltung dieses Finanzschemas für die europäische Nach- und Aufrüstung bleibt abzuwarten.
Indes wird diese „Goldene Rüstungsregel“ (in Form der nationale SWP-Ausweichregel für Rüstungsausgaben) typischerweise von keiner „Goldenen Investitionsregel“ (in analoger Form für öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, Bildung, Gesundheit, Alterssicherung, Pflege, Forschung und Entwicklung, Produktivität, Industrieförderung, Klima- und Umweltschutz, Migration und Integration und so weiter) begleitet, wie sie im einleitend erwähnten Artikel Oliver Picek fordert, um Vollbeschäftigung und Preisstabilität in einem wohlfahrtsstaatlich gestärkten Binnenmarkt zu erreichen.
Mit einer goldenen Investitionsregel würde die vielbeschworene „europäische Souveränität“ erst ein wirtschaftliches Fundament erhalten, dessen Tragfähigkeit über die angestrebte Unabhängigkeit im NATO-Militärbündnis von den USA hinausreicht. Erst dann könnte man den teils disruptiv veränderten geopolitischen und geoökonomischen Rahmenbedingungen Rechnung tragen, ohne in die „Kanonen-statt-Butter“-Falle mit ihren gesellschaftszerstörerischen und demokratiegefährdenden Konsequenzen zu tappen.
Doch gerade geschieht genau das Gegenteil: Nachdem die allgemeinen Ausweichregeln aufgehoben wurden, unterzieht die EU die neuen Überwachungs- und Anpassungsverfahren zur Einhaltung der Maastricht-Kriterien einem umfangreichen Praxistest, indem sie mehreren EU-Staaten – darunter auch Frankreich – ÜD-Verfahren zur Haushaltskonsolidierung aufzwingt.
Österreichs klientelistisches Überförderungsprogramm
Österreich ist die jüngste Kandidatin in diesem Prozedere. Die schwarz-grüne Vorgängerregierung der kürzlich gebildeten Dreierkoalition aus Rechtskonservativen (ÖVP), Sozialdemokraten (SPÖ) und Liberalen (NEOS), mit der ein rechtspopulistischer FPÖ-Kanzler Kickl im Bündnis seiner inzwischen mandatsstärksten Partei mit der ÖVP auf dem letzten Drücker verhindert werden konnte, hat die allgemeine Ausweichregel völlig ressourcenvergessen und verschwenderisch angewendet. Mit einem klientelistischen „koste es, was es wolle“-Überförderungsprogramm für den privaten Unternehmenssektor und weitgehender Inaktivität gegenüber einem eskalierenden Inflationszyklus hat diese Regierung das Land in seine längste Rezession seit dem Zweiten Weltenkriegt gestürzt.
Folgende und noch einige weitere Bestimmungsgründe haben durch die automatischen Stabilisatoren das Budgetdefizit und die Neuverschuldung über die Grenzen der Maastricht-Kriterien katapultiert:
- Konsumzurückhaltung und hohe Sparneigung im Haushaltssektor als Folge des nachwirkenden Inflationsschocks und der allgemeinen Unsicherheit,
- Investitionsabstinenz und hohe Ausschüttungsneigung im überförderten Unternehmenssektor als Folge abrupter Absatzeinbrüche in den industriellen Kernsparten nach Rekordgewinnen in der vorangegangenen Pandemie- und Inflationsphase,
- eine nachlassende Auslandsnachfrage als Folge der strukturellen Industriekrise (zunehmende Konkurrenz – Beispiel China – aus dem globalen Süden, Innovations- und Investitionsrückstände, lahmende Produktivität, Knappheit von qualifizierten Arbeitskräften wegen eklatanter Mängel im Bildungssystem) und
- steigende, von der Illusion anhaltender Arbeitsmarktrobustheit camouflierte Beschäftigungslosigkeit.
Die neue Regierung eröffnet daher die Legislaturperiode mit einem rigorosen Sparprogramm überwiegend zu Lasten der arbeitenden Bevölkerungsmehrheit. Dieses führt in eine rezessive Konjunkturentwicklung, die in eine ausgewachsene Wirtschaftskrise überzugehen droht. Der einzige Lichtblick im unvermeidlichen Würgegriff der EU-Fiskalregeln ist der neue sozialdemokratische Finanzminister Markus Marterbauer, einer der herausragendsten Wirtschaftsforscher des Landes aus der Schule der postkeynesianischen Makroökonomik. Dieser hat sich dezidiert dazu verpflichtet, mit seiner Budgetpolitik den drohenden Teufelskreis der konjunkturellen Abwärtsspirale zu durchbrechen.
Das ÜD-Verfahren ist dabei unter den obwaltenden Umständen ein flexibler Rettungsanker, aber auch die Exportwirksamkeit der öffentlichen Ausgabenprogramme in Deutschland und der restlichen EU werden diesen Weg über den Binnenmarkt unterstützen.
----------