Gruselmärchen als Geschäftsmodell
Der Ökonom Bernd Raffelhüschen schlägt eine drastische Erhöhung von Zuzahlungen der gesetzlichen Krankenversicherten bei der Inanspruchnahme von Leistungen vor. In den Medien wird dieser Unsinn als seriöser Diskussionsvorschlag bewertet.
Seit über 20 Jahren beschwört Bernd Raffelhüschen, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Freiburg, in Talkshows und gut bezahlten Vorträgen die Unbezahlbarkeit der Sozialversicherung. Sein Geschäftsmodell ist der Märchenonkel, der Gruselgeschichten über den unsere Wirtschaft und die nachwachsende Generation wie ein Vampir aussaugenden Sozialstaat präsentiert.
Kürzlich brachte er sich über die BILD-Zeitung, dem Fachorgan für Ereignisschöpfung, mal wieder ins Gespräch. Er fordert drastisch erhöhte Selbstbehalte bei der Inanspruchnahme von Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Andernfalls steuerten wir auf einen Beitragssatz von 35 Prozent zu. Diesen Unsinn verkündete er schon vor vier Monaten an gleicher Stelle.
Das Märchen von der Kostenexplosion
Das Märchen von der Kostenexplosion im Gesundheitswesen wird seit Jahrzehnten von etlichen Ökonomen und Publizisten erzählt. Vor vierzig Jahren behauptete der Ökonom Walter Krämer, dass die Gesundheitsausgaben im Jahre 2019 fast das gesamte Wertschöpfungspotenzial unserer Volkswirtschaft auffressen würden, wenn man die GKV-Leistungen nicht drastisch kürze und besonders teure Eingriffe nicht rationiere.
Solche Apokalypsen sind auf Schlagzeilen zielender Unsinn, der mit unseriösen Zahlentricksereien unterfüttert wird. Klar, die Gesundheitsausgaben wachsen seit Jahrzehnten stärker als die Löhne und die Volkswirtschaft. Der durchschnittliche GKV-Beitragssatz lag Anfang der 1980er Jahre bei 8,2 Prozent und ist heute fast doppelt so hoch. Diese Entwicklung bringt zwar politischen Handlungsbedarf, ist aber nicht wirklich dramatisch und stellt auch nicht die GKV in Frage.[1]
Gibt es im Gesundheitswesen eine „Kostenkrankheit“?
Ärztliche und pflegerische Leistungen sind personenbezogene Dienste, die wegen ihrer gegenüber der Industrieproduktion geringeren Rationalisierbarkeit einen immer größeren Anteil des Arbeitskräftepotenzials und der Wertschöpfung moderner Volkswirtschaften beanspruchen.
Für die Verbraucher drückt sich dieser Prozess in relativ zum Einkommen sinkenden Konsumgüterpreisen und steigenden Ausgaben für Dienstleistungen aus. Vor vierzig Jahren kostete ein Farbfernseher etwa die Hälfte des durchschnittlichen Monatseinkommens, heute bekommt man ein technisch deutlich besseres Gerät schon für einen Wochenlohn. Dagegen werden medizinische Behandlungen und pflegerische Betreuung teurer.
Der US-Ökonom William Baumol bezeichnet diesen Effekt als „cost disease“. Es handelt sich aber um keine Krankheit, also einen abnormen Zustand, sondern um die Folge von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Während in der Industrie durch erhöhte Produktivität Stellen abgebaut werden, entstehen Im Gesundheitswesen neue Arbeitsplätze mit hohem Wertschöpfungspotenzial. Allein im vergangenen Jahrzehnt wurden dort über eine Million neue Jobs geschaffen. Solche Struktureffekte blenden Leute wie Raffelhüschen aus, weil sie ihnen die Story von der unbezahlbaren sozialen Kranken- und Pflegeversicherung kaputtmachen.
Raffelhüschens Vorschläge
Den Kern von Raffelhüschens Vorschlägen sieht laut BILD so aus: “Kassenpatienten sollen künftig die ersten 800 Euro für Arztbesuche (ausgenommen stationäre OPs) selbst tragen.“ Ob sich diese Summe aufs Quartal oder Jahr bezieht, bleibt in dem BILD-Artikel vom 16. Juni 2023 unklar. Das vor vier Monaten von der BILD-Zeitung verbreitete Konzept ist konkreter:
- Die Versicherten sollen zunächst die Hälfte der Behandlungskosten selbst tragen, bei weiter anfallenden Ausgaben 20 Prozent. Dieser Selbstbehalt soll 500 Euro pro Behandlung und 2000 Euro pro Jahr nicht übersteigen.
- Geringverdiener erhalten einen Zuschuss vom Staat.
- Die Versicherten reichen die von Arztpraxen, Krankenhäusern und Apotheken gestellten Rechnungen zur Erstattung bei ihren Krankenkassen ein.
- Außerdem soll gesundheitsschädliches Verhalten sanktioniert werden, indem etwa Raucher oder Übergewichtige höhere Beiträge zahlen. Folgekosten von Risikosportarten sollten komplett von den Versicherten getragen werden.
Gesundheitsökonomische Ignoranz
Derartige seit Jahrzehnten immer wieder verkündeten Empfehlungen sind sichere Indikatoren für die gesundheitsökonomische Ignoranz ihrer Protagonisten. Kenneth Arrow, einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, hat bereits vor 60 Jahren darauf hingewiesen, dass es im Gesundheitswesen keine Konsumentensouveränität gibt und damit eine wesentliche Voraussetzung für die ökonomische Rationalität solcher Modelle fehlt.
Das Gesundheitswesen ist ein weitgehend von der Angebotsseite gesteuerter Wirtschaftszweig. Dort bestimmen vor allem die Versorgungsstrukturen und die Arbeitskultur der Institutionen und (ärztlichen) Berufe den Umfang der Leistungen. Deshalb ist die Steuerung der Gesundheitsausgaben über finanzielle Anreize für Patientinnen und Patienten ein Irrweg.
Dennoch nimmt in Lehrbüchern zur Gesundheitsökonomie Moral-Hazard-Theorem nach wie vor breiten Raum ein, wonach soziale Krankenversicherungen und staatliche Versorgungssysteme zu einer medizinisch nicht begründbaren Leistungsausweitung führen. Es ist eigentlich schon als Hypothese untauglich, weil es unterstellt, dass ärztliche Behandlungen auch ohne medizinischen Grund erstrebenswert sind. Das kann man schon mit dem Hinweis auf unangenehme Zahnarztbesuche, zeitraubendes Herumsitzen in Wartezimmern, den herben Genuss von Schmerztherapien oder lange Wartezeiten auf Arzttermine als unrealistisch verwerfen.
Die aus dem Moral-Hazard- Theorem abgeleitete Favorisierung von Selbstbeteiligungen der Patientinnen und Patienten hat keine Substanz. Die vorhandenen Bestandsaufnahmen zu den Wirkungen dieses Instruments zeigen keinen positiven Effekt auf die Ausgaben für medizinische Behandlungen. Selbstbeteiligungen sind entweder hoch und ausgabenwirksam, haben aber unerwünschte soziale und gesundheitliche Effekte. Oder sie sind niedrig und sozialverträglich, haben dann aber kaum Auswirkungen auf die Leistungsinanspruchnahme und Ausgaben.
Stammtischgeschwätz
Auch die anderen Empfehlungen von Raffelhüschen sind unsinnig. Schon sein Vorschlag, Kassenpatienten sollten mit einer Rechnung über die erbrachten Leistungen informiert werden, ist lächerlich. Glaubt er allen Ernstes, dass medizinische Laien die oft seitenlangen Auflistungen von Leistungen mit entsprechenden Gebührenordnungspositionen auf ihre Korrektheit prüfen können? Damit haben selbst die Fachleute der Krankenversicherungen Probleme.
Genauso unsinnig ist die von Raffelhüschen geforderte Sanktionierung von ungesundem Verhalten durch höhere Beiträge. Es ist ein beliebtes Stammtischmärchen, dass etwa Raucher oder starke Trinker die Krankenkassen mit den Folgekosten ihrer Laster übermäßig belasten. Sie schädigen sich selbst, aber nicht die Versichertengemeinschaft.
Hoher Alkohol- oder Nikotingenuss sind zweifelsohne sehr ungesund, auch wenn Pegeltrinker wie Winston Churchill oder Kettenraucher wie Helmut Schmidt ein hohes Alter erreicht haben. In der Regel reduziert ein gesundheitlich riskanter Lebensstil die Lebenserwartung, jedoch mit dem Effekt, dass die individuellen im gesamten Leben anfallenden Behandlungskosten eher sinken als steigen. Menschen mit gesundheitlich riskantem Lebensstil sind für die Krankenkassen per Saldo ein eher gutes Risiko, ganz zu schweigen von den Renten- und Lebensversicherungen.
Reformbedarf
Damit keine Missverständnisse entstehen: Das aktuelle Defizit der GKV ist kein unvermeidliches Schicksal, sondern vor allem die Folge von ineffektiven Strukturen unseres Gesundheitswesens und damit von politischen Versäumnissen und Fehlentscheidungen. Ohne ständiges Nachjustieren der Steuerungsinstrumente kann sich das Gesundheitswesen zu einem Fass ohne Boden entwickeln:
- Wir leisten uns in der stationären Versorgung ein absurdes Nebeneinander von Mangel und Überfluss.
- In der ambulanten ärztlichen Versorgung verdienen sich Praxen mit vielen Privatabrechnungen dumm und dämlich, während andere Mühe haben, über die Runden zu kommen.
- Es wird ein „Pflegenotstand“ beklagt, der das Ergebnis einer unsinnigen Sparpolitik und von Versäumnissen in der Ausbildung von Pflegekräften ist.
- Das GKV-System hat eine unzureichende Finanzierungsgrundlage mit einer absurden Verzerrung des Solidaritätsprinzips. Dort führt die geltende Beitragsmessungsgrenze von knapp 5000 Euro dazu, dass freiwillig Versicherte mit einem darüber liegenden beitragspflichtigen Monatseinkommen mit steigendem Gehalt einen sinkenden Beitragssatz zahlen.
Aber auch wenn diese Probleme zielgerichtet angepackt werden, kann damit das Wachstum der Gesundheitsausgaben nur in geordnete Bahnen gelenkt werden. Die Ausgaben für die medizinische und pflegerische Versorgung werden auch bei einer effektiven Kostensteuerung stärker steigen als das Bruttoinlandsprodukt und die Löhne. Aber das ist kein Drama, sondern eine grundsätzlich zu bewältigende Herausforderung.
Ideologische Borniertheit
Raffelhüschen preist sich auf seiner Webseite als „Ass in puncto Sozial- und Steuerpolitik“ an. Eine solche eitle Selbsteinschätzung ist typisch für einen vor allem in der Medienwelt anzutreffenden Sozialcharakter, den der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt als „Bullshitter“ beschreibt: „Der Bullshitter fälscht Dinge. Aber das heißt nicht, dass sie zwangsläufig falsch sind.“ Er pflegt die Kommunikationstechnik, mit selektiven Fakten die Realität ergebnisorientiert zurechtzubiegen.
Der von Raffelhüschen verbreitete Unsinn wäre nicht erwähnenswert, wenn er nicht in sich als seriös verstehenden Medien ein positives Echo hätte:
- Dorothea Siems, Chefökonomin der Welt, sieht darin nicht nur einen richtigen Reformansatz, sondern auch zusätzliche Einnahmen der GKV. Das ist ein Schmarren, weil es sich bei Selbstbehalten um eine Verschiebung der Ausgaben von den Krankenkassen zu den Privathaushalten handelt, die das GKV-Budget verringern.
- In der FAZ fordert Christian Gleinitz „große Würfe á la Raffelhüschen“, obwohl diese sich - siehe oben - längst als untauglich zur Steuerung der Ressourcen im Gesundheitswesen erwiesen haben.
Beide präsentieren sich als Scholastiker, die sozial- und gesundheitspolitische Reformen nicht an deren ökonomischer und sozialer Effektivität messen, sondern an der Kompatibilität mit der Doktrin der freien Marktwirtschaft. Früher hat man in katholischen Zwergschulen solche Eigenschaft mit „Religion sehr gut, Kopfrechnen schwach“ benotet.
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