Covid-19-Strategiepapier

Die Pandemie als Forum für Eitelkeiten

| 28. Juni 2022

Gesundheitsminister Lauterbachs neuer Plan zur Pandemiebekämpfung beruht auf verschiedenen Szenarien. In Ordnung, angesichts der Unsicherheit über die zu erwartende Entwicklung. Wären da nicht profilierungssüchtige Politiker, Wissenschaftler und Journalisten, die stets alles besser wissen.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat ein Strategiepapier zur weiteren Bekämpfung der Covid 19-Pandemie vorgelegt. Es basiert auf einem Papier des ExpertInnenrats der Bundesregierung mit drei Szenarien:

  • Günstiges Szenario: Es dominiert eine gegenüber den Omikron-Stämmen harmlosere Variante von Covid-19. Neue Infektionsschutzmaßnahmen sind nicht erforderlich.
  • Basisszenario: Die Gefährdung bleibt wie bei den jetzt dominierenden Omikron-Varianten. Die im Winter 2022/23 zu erwartenden Infektionswellen erstrecken sich über einen längeren Zeitraum. Maskenpflicht und das Abstandsgebot sollten nach regionalen Maßgaben gelten. Auch Obergrenzen für Veranstaltungen in geschlossenen Räumen können geboten sein.
  • Ungünstiges Szenario: Es dominiert eine neue Virusvariante mit stärkerer Übertragbarkeit, die auch vollständig Geimpfte mit schweren Verläufen treffen kann. Neben den allgemeinen Schutzmaßnahmen muss die Nachimpfung großer Bevölkerungsteile vorbereitet werden.

Tests und Verbalimpfungen

Der Beirat geht von der zweiten Variante als der mit der höchsten Wahrscheinlichkeit aus. Das Bundesgesundheitsministerium hat für diesen Fall einen 7-Punkte-Plan erstellt, der unter anderem die Vorbereitung einer Impfkampagne mit angepassten Impfstoffen von Moderna und BioNTec und für Ende Juni eine mittlerweile verabschiedete Novellierung der Corona-Testverordnung vorsieht. Auf Druck der FDP sind Corona-Tests nur noch für definierte Personenkreise kostenfrei, wie zum Beispiel Kleinkinder, Schwangere und Personen mit Corona-Infizierten im selben Haushalt. Alle anderen müssen für den Test drei Euro bezahlen.

Das hat für große Aufregung auch in Kreisen gesorgt, die sonst bei jeder Gelegenheit höhere Selbstbeteiligungen bei Krankenkassenleistungen als Patentrezept zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen und zur Stärkung der Eigenverantwortung anpreisen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung warnt, das sei ein fahrlässiger „Blindflug in der Pandemie“. Damit werde kein finanzieller Druck auf Impfunwillige ausgeübt, sondern die Ausweitung der Pandemie gefördert. Schon der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn sei im vergangenen Herbst mit der Abschaffung der kostenfreien Bürgertests gescheitert.

In der Tat sind die damit bewirkten Spareffekte gering und die gesundheitspolitischen Wirkungen fragwürdig. Großer Schaden ist aber wohl nicht zu befürchten. Das Streichen kostenloser Corona-Tests ist die hilflose Symbolpolitik eines Finanzministers, der nicht weiß, wie er aus der selbst gestellten Falle der Schuldenbremse herauskommt und stattdessen ins Kleinkrämerische verfällt.

Unterdessen betätigt sich Karl Lauterbach als Kassandra und warnt vor einer im Herbst einsetzenden großen Pandemiewelle, auch wenn es dafür noch keine Anzeichen gibt, wie der ExpertInnenrat feststellt. Nun gehört es zu den Aufgaben eines Gesundheitsministers, vor der Verharmlosung der Lage in der Pandemie zu warnen. Aber mit seinen beständigen „Verbalimpfungen“, so die treffende Bezeichnung des Salon-Philosophen Peter Sloterdijk für seine Dramatisierungen der Infektionslage, betreibt er einen riskanten Kurs.

Beständige Menetekel von großen Krisen, die dann nicht eintreffen, führen leicht zu einer Immunisierung in der Bevölkerung auch gegenüber berechtigten Warnungen.  Karl Lauterbach sorgt regelmäßig mit seinen unabgestimmten Ankündigungen für Verärgerung im Regierungslager. Er kann sie sich leisten, weil seinen mit vielen politischen Tretminen verbundenen Job niemand außer ihm haben will. Aber es wird klar, weshalb Olaf Scholz Karl Lauterbach nicht in seinem Kabinett haben wollte. In der US-Politik bezeichnet man Leute wie ihn als lose cannon, eine unberechenbare politische Figur, die schon mal auf die eigenen Leute schießt.   

Fehleinschätzungen

Die Bestandaufnahme und daraus abgeleiteten Empfehlungen des ExpertInnenrats sind in einem nüchternen Duktus gehalten. Die vorhandenen Kenntnisse werden gebündelt, ohne dabei zu verschweigen, dass eine valide Bewertung der bisher ergriffenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in einigen Punkten noch nicht möglich ist. Über längerfristige Folgen der Schließung von Schulen und Kitas wird man ebenso erst in etlichen Jahren Genaueres wissen wie über die sozialen und demografischen Parameter der Impfkampagne.

Die Corona-Pandemie ist nicht nur für die Politik, sondern auch für Virologen und Epidemiologen eine neue Erfahrung. Sie hat so manche für sicher gehaltenen Erkenntnisse über den Haufen geworfen. Zur Erinnerung: Am Beginn der Pandemie verkündeten die Experten unisono, dass ein Durchimpfungsgrad von 60 bis 70 Prozent für einen längeren Schutz vor dem Virus ausreicht. Heute wissen wir, dass das eine zu optimistische Erwartung war. Solche Fehleinschätzungen sind keine Ignoranz, sondern angesichts der Komplexität der Covid 19-Pandemie fast normal. Daher ist ihr beständiges Monitoring erforderlich, um die Entwicklungen korrekt einschätzen zu können.

Neue Aufklärung?

Leider haben die Medien und auch etliche Wissenschaftler nicht viel dazu beigetragen, diesen Aspekt der Unsicherheit wissenschaftlicher Erkenntnisse der Bevölkerung zu vermitteln. Zu Beginn der Pandemie wurde in publizistischen Schnellschüssen über eine neue Phase der wissenschaftlichen Politikberatung schwadroniert. So verstieg sich der Ökonom Marcel Fratzscher im Herbst 2020 in seinem Buch Die neue Aufklärung zu der These (s. 15 f.):

„Die Corona-Pandemie könnte (…) einen Wendepunkt darstellen, der ein neues Zeitalter einläutet – ein Zeitalter der Aufklärung, das die Herausforderungen unserer Zeit meistert und mit seinem Bewusstseinswandel hin zu einem neuen Humanismus einhergeht: ein Zeitalter, in dem die Eigenverantwortung des Individuums, die Wissenschaft und Rationalität sowie die Fokussierung auf die großen Fragen der Zeit im Mittelpunkt stehen.“

Nun ja, mit dieser sich immerhin auf Immanuel Kant beziehenden These von der Wissenschaft als Macht der Aufklärung bewegt sich Fratzscher auf dünnem Eis. Bereits John Maynard Keynes wies 1932 im Nachwort zu seiner General Theory darauf hin, dass „Wahnsinnige in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, ihren wilden Irrsinn aus dem (zapfen), was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre vorher verfasste.“

Heute werden die Sozial- und die Schuldenbremse akademisch abgesegnet, obwohl es für sie keinerlei Evidenz gibt. Und Immanuel Kant ist bei der auch im Wissenschaftsbetrieb grassierenden Cancel Culture wohl nicht mehr eine politisch korrekte Bezugsperson, seit er dort allen Ernstes als Rassist verfemt wird. Die Wissenschaftsgemeinde verkündet keine in Stein gemeißelten Weisheiten, sondern ihren Wissensstand, der je nach Sichtweise unterschiedlich ausfallen kann und ohne Kontroversen nicht vorstellbar ist.

Eitelkeiten und Peinliches

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wissenschaftliche Politikberatung ist (nicht nur) in der Pandemiepolitik unverzichtbar. Die Einrichtung des ExpertInnenrats mit Vertretern verschiedener akademischer Fächer war richtig. Seine jetzt vorgelegten ersten Empfehlungen sind eine seriöse Bestandsaufnahme des bisherigen Pandemieverlaufs. Man muss nicht in jedem Detail mit ihm übereinstimmen, aber das Papier ist eine gute Grundlage für eine sachliche Diskussion der Pandemiepolitik.

Doch diese Seriosität ist einigen Experten offenbar abhandengekommen. Es war vielleicht keine gute Idee, Christian Drosten und Hendrik Streeck im ExpertenInnenrrat zunächst gemeinsam mit der Bearbeitung der virologischen Aspekte der Pandemie zu betrauen. Drosten hat den für die Bearbeitung dieses Themas zuständigen Ausschuss des Rates wegen Arbeitsüberlastung verlassen, bleibt aber im Rat.

Dabei sind nicht unterschiedlichen Sichtweisen das Problem, die sind im Wissenschaftsbetrieb normal. Die Virologie ist keine mit mathematischer Exaktheit zu betreibende Wissenschaft, weil die Verbreitung von Viren stets mit sozialen Parametern zu tun hat, die sich nur schwer in Formeln mit Ewigkeitswert pressen lassen. Da ergeben sich schon mal unterschiedliche Sichtweisen.

Aber Drosten und Streeck sind, aus welchen Gründen auch immer, miteinander verfeindet. Eine offensiv ausgetragene, auch gelegentlich mit Invektiven geführte Rivalität kommt im Wissenschaftsbetrieb vor, wird aber in diesem Fall von Drosten mit einer ins Persönliche gehenden Aggressivität ausgetragen. Der Historiker René Schlott hat in der FAZ Drostens Attitude, von einer naturwissenschaftlichen „Wahrheit“ abweichende sozialwissenschaftliche Sichtweisen als „unlautere Absichten und eine verdeckte politische Agenda“ zu denunzieren, zu Recht als „autokratisches Wissenschaftsverständnis“ kritisiert.

Querschüsse in den Medien

Solche spektakulären Streitereien werden von den Medien gerne aufgegriffen, schon weil persönlicher Krach stets auch eine unterhaltsame Seite hat. In der Pandemie musste man sich außerdem daran gewöhnen, dass die Journals und Talkshows jeweils ihre eigenen Hausvirologen haben. Auch als seriös geltende Publizisten sitzen ihren Quellen auf und verheddern sich in vorschnellen Verdikten.

Ein solcher Fall ist ein Artikel der Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt in der Süddeutschen Zeitung. Ihr war ein unabgestimmter Arbeitsentwurf des Berichtes der ExpertInnenrats zugespielt worden, den sie mit Bezug auf Quellen, „die nicht namentlich genannt“ werden wollen, als „handwerklich schlecht gemacht“ aburteilt. Er werde von „Fachkreisen“ verrissen und dokumentiere eine „einseitige Auswahl und Kommentierung der wissenschaftlichen Literatur“. Der in dem Papier enthaltene Hinweis, für bestimmte Maßnahmen des Lockdowns gebe es keine Evidenzen, sei einseitig:

„Nur weil es keine Evidenz gibt, heißt es nicht, dass Maßnahmen nicht wirken, mitunter fehlen nur die Daten, die die Wirkung belegen.“

Das hält sich auch die Homöopathie zugute und preist ihre nutzlosen Globuli als langfristig effektive Heilmittel an. Das ist kein seriöser Journalismus, sondern auf Hörensagen beruhende Kolportage.

Gefragt ist Nüchternheit

Gegenüber dem von Christina Berndt zitierten Papier haben sich im jetzt veröffentlichten Bericht des ExpertInnenrats zahlreiche Veränderungen und Korrekturen ergeben. Er wurde einstimmig verabschiedet, also auch mit der Stimme von Christian Drosten. Soweit sich das beurteilen lässt, gibt der Bericht in der für solche Statements gebotenen Kürze den Stand des Wissens einschließlich seiner Lücken wieder. Für eine Wiedereinführung von Maßnahmen, die über eine begrenzte Maskenpflicht, das normale Abstandsgebot und auf bestimmte Personengruppen beschränkte Impfkampagnen hinausgehen, gibt er nichts her.

Das wird Anhängern einer Pandemiepolitik mit rigiden Kontaktsperren, Ausgangsverboten und einer strafbewehrten Impflicht nicht gefallen. Aber solche Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten lassen sich nur in Extremlagen rechtfertigen, die auch nicht ansatzweise in Sicht sind. Gefragt sind nüchterne Analysen und Konzepte ohne substanzlose Kassandrarufe.