Meinung

Verzweiflung. Realismus. Fürsorglichkeit.

| 12. Juli 2023
istock.com/Liudmila Kiermeier

Tiefster Pessimismus scheint angebracht: Trotz aller Rhetorik und vieler Taten werden die Klimaziele weltweit regelmäßig nicht erreicht. Zeit, in Ruhe ein Apfelbäumchen zu pflanzen.

Wer meinen Text „CO2-freie Fabrik: Die Herren meinen es ernst“ als Loblied auf den Kapitalismus als Klimaretter gelesen hat, ist zu Recht skeptisch. Sieht die Realität nicht eher so aus wie Rainer Land sie in seinem Artikel vom November 2022 beschreibt? Seit 2020, stellt er fest, sei der Zug zur Erreichung des 2-Grad Ziels abgefahren. Tiefster Pessimismus scheint angebracht: Trotz aller Rhetorik und vieler Taten werden die Klimaziele weltweit regelmäßig nicht erreicht. In Deutschland kann eine Partei, die den menschengemachten Klimawandel bestreitet, auf mehr als 20 % der Wählerstimmen hoffen. Und global ist im Gefolge des Ukraine-Krieges die Dynamik des Wettbewerbs zwischen den Großmächten immer deutlicher zu spüren und torpediert die für eine rechtzeitige Energiewende erforderliche intensive internationale Zusammenarbeit.

Das Apfelbäumchen

Dennoch, schreibt Land, bleibe zu bedenken, wie wir mit dem zu erwartenden Szenario umgingen, und ob man humane Bedingungen für die Überlebenden und das letzte Jahrhundert erhalten könne. Denn nur so könnten wir weiter leben im Angesicht einer Welt, die sich selbst zerstört. Wie kann ein denkender und tatkräftiger Mensch dem Gefangensein zwischen tiefster Verzweiflung und idealistischer Traumtänzerei, selbstüberschätzender Hyperaktivität und depressiver Lähmung entkommen? Die Antwort: Indem er in aller Ruhe ein Apfelbäumchen pflanzt.

Laut dem Theologen Martin Schloemann war es nicht Martin Luther, der für so eine Haltung plädierte; der habe sich eher auf den Weltuntergang gefreut.[1] Wer nicht so „tickt“, kann im Hier und Jetzt dazu beitragen, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen, nicht in erster Linie als individueller Konsument, sondern als homo (nicht vir!) politicus, der seinen Daseinszweck und seine politischen Ziele nicht danach definiert, wie viel er auf Kosten anderer für sich selbst herausholen kann, sondern begreift, dass sein Einzelschicksal eng verknüpft ist mit dem seiner Mitmenschen. Wir sind der Zukunft nicht blind ausgeliefert. Wir können die Entwicklungen unserer Gesellschaften zu begreifen und zu beeinflussen suchen.

Nirgendwo ist der Zusammenhang zwischen dem persönlichen Verhalten und dem Großen Ganzen so offensichtlich wie bei der Klimathematik. Wenn das Große Ganze nicht mitspielt, werden alle konkreten Veränderungsbemühungen zunichte gemacht, wie am Beispiel der hektischen Beschleunigung der deutschen Energiewende in Folge des Konfliktes mit Russland zu sehen ist. Der Konflikt ist keineswegs als die lang erwartete Chance für das Klima anzusehen, sondern führt zunächst zu starkem Widerstand und in der Energiegesamtbilanz zur Erhöhung der CO2-Emissionen. Andererseits besteht die Veränderung des Großen Ganzen aus unzähligen kleinen Veränderungen, die zusammen genommen weit mehr als die Summe ihrer Einzelteile ergeben könnten. In diesem Sinne sind die deutschen Energiewendefortschritte zu begrüßen.

Investieren oder extrahieren?

Wohl keiner wird freudig darauf gewartet haben, angesichts der Begrenztheit des Planeten endlich seine Lebensweise ändern zu dürfen. Was den Klimawandel betrifft, befinden sich alle wichtigen Akteure in tiefen Interessenkonflikten und handeln entsprechend widersprüchlich. Der Blogger Aurelien[2] schreibt, es habe in der Welt schon immer zwei grundlegende Arten von Wirtschaftssystemen gegeben, nämlich ein investierendes / schaffendes und ein räuberisches / ausbeuterisches. Das für letzteres typische Verhalten habe heute seinen rein wirtschaftlichen Ursprung verlassen und stelle nun ein Modell dafür dar, wie die westliche Gesellschaft auf allen Ebenen funktioniere.

Die Zukunft der Menschheit hängt entscheidend davon ab, wie Menschen, Menschengruppen, Unternehmen und ganze Staaten mit den zwei Seelen in ihrer Brust umgehen, ob die Vernunft siegt und es uns auf allen Ebenen gelingt, unsere extraktionistische Lebensweise aufzugeben. Menschliche Gemeinschaften sind daran im Laufe der Geschichte schon mehrfach gescheitert. In jeder Gesellschaft gibt es so etwas wie ein Allgemeinwohl, das nur bei Strafe des Untergangs des gesamten Staatswesens ignoriert werden kann. Die Akzeptanz dieser, heute global gültigen Wahrheit ist keineswegs einfach, schon gar nicht nach 40 Jahren neoliberaler Indoktrination im Sinne von „There is no such thing as society.“

Den Wandel herbeiführen

Wie Rainer Land feststellt, ist das Instrumentarium zur Bekämpfung des Klimawandels da, was fehle sei der gemeinsame politische Wille. Aurelien konstatiert, dass drei Faktoren zusammenkommen müssten, um einen „grundlegenden, diskontinuierlichen politischen Wandel herbeizuführen.“

„Erstens: eine Gruppe von Personen mit einem gemeinsamen (wenn auch nicht unbedingt identischen) Ziel. Die zweite ist eine klare Vorstellung von dem, was gewollt wird, entweder in Form einer Ideologie oder zumindest in Form definierter politischer Ziele. Und drittens die Ressourcen und die Organisation, die in der Lage sind, dieses Ziel zu erreichen. Nur zwei davon zu haben, ist nicht genug.“

Stellt man sich diese Form der Wirksamkeit nur als Übernahme eines gesamten Staatswesens oder gar als Weltherrschaft vor, scheitern wir als „kleine Teilchen“, ehe wir überhaupt aus den Puschen kommen. Jeder kann jedoch als Mitglied der unterschiedlicher Gemeinschaften und in unterschiedlichen Rollen dazu beitragen, dass im Kleinen die genannten drei Faktoren im Sinne zukunftsfähiger menschlicher Kooperation zusammenkommen und wirksam werden. Der „extraktionistisch gepolte“ Teil der Gesellschaft organisiert sich übrigens schon lange so und mit großem Erfolg.

Klimapolitik als Klassenkampf

Im Rahmen globaler und nationaler sozialer Hierarchien ist Klimapolitik Klassenkampf. Dem Ökonomen Steven Keen zufolge konkurrieren im heutigen Kapitalismus „die sozialen Klassen der Menschheit um die Anteile an der nützlichen Arbeit, die durch die Ausbeutung der bereits vorhandenen Energie – in erster Linie der fossilen Brennstoffreserven des Planeten – geschaffen wird.“[3] Dabei herrscht eklatante Verteilungsungerechtigkeit: Die reichsten 10% der Menschheit verursachen ca. 50% des lebensstil-bedingten CO2-Ausstoßes der Welt, während die ärmsten 50% lediglich für 10% der Emissionen verantwortlich sind. Die meisten von ihnen leben in den am stärksten vom Klimawandel betroffenen Gegenden der Welt.

Wer bisher fett gelebt hat, möchte seine Privilegien erhalten. Wer auskömmlich lebte, möchte nicht verzichten müssen, während die Superreichen weiter prassen. Wer endlich eine Chance auf Verbesserung seines Lebensstandards sieht, möchte sich nicht damit abfinden müssen, dass andere den ihm zustehenden Anteil am Planeten Erde bereits aufgebraucht haben. Verständlich, dass alle am liebsten den Klimawandel ignorieren bzw. leugnen möchten. Gerade die Benachteiligten, seien es nun Staaten oder die unteren Klassen, sollten jedoch beachten, dass die Folgen des Klimawandels zuallererst und in der größten Härte die Armen dieser Erde treffen. Auch wenn sie jedes Recht haben, Verzicht von den Reichen zu fordern und an sie selbst gerichtete Forderungen zum Gürtel-Enger-Schnallen zurückzuweisen.

Transformation zur Raumschiffwirtschaft

In den Unternehmen bedeutet Klimapolitik die Umstellung auf Raumschiffwirtschaft (Steve Keen) im Spannungsfeld von Profit- und Nachhaltigkeitsorientierung.

Die Transformation zur dekarbonisierten, nachhaltig wirtschaftenden Industriegesellschaft findet vornehmlich in den Unternehmen statt. Dazu müssen die Unternehmensleitungen die entsprechenden Zielvorgaben und strategischen Planungs- und Umsetzungsprozesse installieren, die nicht gelingen können ohne den Enthusiasmus und die Innovationsfreude ihrer Mitarbeiter. Deren Konkurrenz mit den Kapitaleignern um die Ihnen zustehenden Anteile an der Wertschöpfung steht keineswegs im Gegensatz zu dem Interesse von Arbeitnehmern an sinnvoller Arbeit, Selbstwirksamkeit und Anerkennung. Andererseits fürchten viele Arbeitnehmer Veränderungen oder gar den Verlust ihrer Arbeitsplätze und möchten nicht für Greenwashing missbraucht werden.

Dass ökologische und soziale Nachhaltigkeitsziele im Kapitalismus mit dem Zwang zur Profitorientierung kollidieren, ist klar. Je knapper jedoch Energie und Rohstoffe werden, desto wirtschaftlicher und notwendiger wird auch die Transformation. Dass die Konzernmanagements wenig Begeisterung verspüren, diesen Transformationsprozess demokratischen Prozessen zu unterwerfen, sondern selbst kontrollieren möchten, ist nachvollziehbar. Gleichzeitig versucht man, sich auf geopolitischem Wege überproportionale Anteile an Energie und Rohstoffen zu sichern, und übt Druck auf die Löhne aus. Das alles während die fossilen Energiekonzerne gerade im Zuge von Krisen überdurchschnittliche Gewinne erzielen und alles tun, um ihre eigene Existenz zu sichern. Für Teile des Finanzkapitals ist die Green Economy eine lukrative Geldanlagemöglichkeit, nicht selten mit verheerenden Nebenwirkungen, zum Beispiel durch die fortgesetzte Verschuldung der Länder des Globalen Südens. Welcher Rahmen und welche Regulierungen global und national notwendig sind, ist Gegenstand – dringend notwendiger – gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

Zukunftsfähige Lebenswelt

Im Rahmen der Zivilgesellschaft bedeutet Klimapolitik die Gestaltung einer zukunftsfähigen Lebenswelt im Spannungsfeld divergierender Wertvorstellungen.

Die urbanen Wohn-, Einkaufs- und Industriegebiete und der ländliche Raum sind der zweite Bereich, in dem die Transformation zur CO2-Neutralität praktisch geschieht. Die Frage, wie wir künftig leben wollen, wird zum Kampf um die Köpfe und die commons: Organisieren wir das Lebensumfeld als Ort des privaten Konsums oder als Welt sozialen Reichtums? Schaffen wir funktionale und ästhetisch ansprechende Gemeinschaftseinrichtungen und öffentliche Verkehrsangebote? Oder priorisieren wir PKW-Parkplätze und privatisieren Bildungsstätten, Schwimmbäder und das Gesundheitswesen? Zielkonflikte gibt es zuhauf: Bauen wir neue Windturbinen und Überlandleitungen, oder schaden wir der Natur und dem heimischen Landschaftsbild?

Die Zivilgesellschaft ist darüber hinaus der Ort, wo die Diskussionen über alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens stattfinden (sollten). Das ist hart umkämpftes Terrain, in den (sozialen) Medien und anderswo; die Auseinandersetzungen um die Windenergie zeigen, wie gut vernetzte und finanzierte Lobbys ihren Einfluss geltend machen können. Der politische Diskussionsrahmen ist eingeschränkt. Meinungen, die diesen Rahmen sprengen, werden als rechtsoffen und Verschwörungstheorien diskreditiert. Diejenigen, denen alles in einem zutiefst unangenehmen Meinungsklima zu viel wird, können zumindest mit freundlichen Umgangsformen und der Pflege guter Nachbarschaftsbeziehungen kontern.

Friedenspolitik

Im Rahmen internationaler Beziehungen bedeutet Klimapolitik Friedenspolitik und Kooperation im Spannungsfeld nationaler Interessen.

Die Dekarbonierungspolitik in Deutschland und anderswo ist wichtig, auch wegen der Vorbildfunktion und der technologischen Vorreiterrolle. Zur Bekämpfung der Erderwärmung insgesamt nützen solche Erfolge jedoch nicht das geringste, wenn nicht weltweit ein massiver Abbau des CO2-Eintrags erfolgt. Das bedeutet, dass künftig viele fossile Brennstoffe in der Erde bleiben müssen. Der Verzicht auf die Ausbeutung ihrer fossilen Reichtümer liegt auch im langfristigen Eigeninteresse der Förderländer. Dafür, dass der ihnen möglich ist, und die Länder des globalen Südens trotzdem die von ihnen dringend benötigte preiswerte Energie erhalten, sind Verträge, Abmachungen, Preiskontrollen, Subventionen, gemeinsame Investitionsentscheidungen nötig, wie es sie so noch nie gegeben hat. Und wäre das nicht schon genug, müssen bei dabei die Interessen aller Beteiligten angemessen berücksichtigt werden. Dass die Notwendigkeit der Dekarbonisierung in China Fuß gefasst zu haben scheint, ist eine große Hoffnung.

Die Annahme, dass Russland und China eine fundamentale Bedrohung für den Westen darstellen, sollte ebenso auf den Prüfstand gestellt werden wie die massive Aufrüstung, um diese Länder einzudämmen. Ohne die Aufgabe des westlichen Dominanzanspruchs und aktive Friedenspolitik kann sich auch am Großen Ganzen der Klimapolitik nichts ändern.

Gesellschaftliche Planung

Auf Staatsebene bedeutet Klimapolitik Planung im Rahmen einer gelenkten Marktwirtschaft und somit eine grundlegende Abkehr vom neoliberalen Kurs des schlanken Staats.

Ungeachtet der politischen Konstellationen wird es nicht die unsichtbare Hand des Marktes sein, die eine erfolgreiche Außen-, Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik macht. Es braucht einen Staat, der aktiv Einfluss nimmt und steuert. Nur er kann die Voraussetzungen für den Aufbau der erforderlichen globalen Netzwerke schaffen. Nur er kann die nötige Infrastruktur ausbauen, Grundlagenforschung und Bildung vorantreiben. Nur er kann alle verfügbaren Ressourcen aktivieren, diese in die gewünschten Bereiche lenken und für sozialen und Interessens-Ausgleich sorgen. Nur er kann Energiekonzerne in die Pflicht nehmen. Für all das stehen ihm viele Möglichkeiten (bis hin zur Enteignung) zur Verfügung, auch wenn der Staat nur teilweise bereit und in der Lage ist, sie anzuwenden. Viele der ergriffenen Maßnahmen sind zudem, häufig aus guten Gründen, umstritten.

Für eine langfristige gesellschaftliche Planung bedarf es der Macht des Staates und der investierenden Kräfte im Staat. Und diese müssen sich auf demokratische Willensbildung stützen. Denn es geht um die Art der Planung: Planung im Interesse der Eliten oder Planung im Interesse der Mehrheit.

Fürsorglichkeit

„Baby, it's a wild world. It′s hard to get by just upon a smile“ (Cat Stevens). Es gibt bisher keine Partei, die sich ein radikales Programm der realistischen Fürsorglichkeit auf die Fahnen schreibt. Bleiben als Optionen die ständige Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, alleine und in den verfügbaren Diskussionszusammenhängen, die Suche nach Gleichgesinnten und die Organisation im Kleinen, wo so oder so alle Auseinandersetzungen und Veränderungen stattfinden (müssen). Dabei ist durchaus auch ein vorsichtiges Lächeln, wenn nicht gar ein lautes Lachen erlaubt.

Aus dünnen Rinnsalen wird nicht zwangsläufig ein Strom, aber ausgeschlossen ist es nicht.

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[1]Martin Schloemann: Luthers Apfelbäumchen?: Ein Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, 2016. (Online)
[2]Aurelien ist vermutlich ein pensionierter ehemaliger hoher europäischer Verwaltungsbeamter, der unter diesem Pseudonym veröffentlicht.
[3]Keen, Steven: The New Economics: A Manifesto, 2021, Kapitel 4