Transferleistungen

Vor der sozialpolitischen Zeitenwende

| 13. Juli 2023
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Der außen-, energie- und militärpolitischen Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz nach Beginn des Ukrainekrieges erklärt hat, folgt eine sozialpolitische Zeitenwende. Denn Hochrüstung führt zur Kürzung der Leistungen für Bedürftige.

Der Ukrainekrieg, das Kohle- und Ölembargo der EU gegenüber Russland sowie der Rückgang der Gasimporte haben die Preise für Kraftstoffe und Haushaltsenergie im Frühjahr 2022 rasant steigen lassen. Verstärkt wurde die Energiepreisexplosion durch die Bemühungen der Bundesregierung, Deutschland baldmöglichst vom russischen Gas unabhängig zu machen. Sanktionen, die den Armen hier mehr schadeten als den Oligarchen dort, waren jedoch kontraproduktiv.

In der Öffentlichkeit herrschte entweder Ratlosigkeit oder Unsicherheit, wie mit der Energiekrise und dem Problem galoppierender Preise umzugehen war. Die unsoziale Stoßrichtung der Diskussion hatte Altbundespräsident Joachim Gauck mit seiner Empfehlung vorgegeben, „für die Freiheit“ zu frieren. Als früherer Pfarrer predigte Gauck seinen Mitbürgern Verzicht, obwohl er selbst bis ans Lebensende jeden Monat über 20.000 Euro an „Ehrensold“ bekommt – dazu kostenlos ein Büro, eine Sekretärin und einen Dienstwagen samt Chauffeur im Rahmen der nachwirkenden Amtsausstattung.

Offenbar mangelt es den politisch Verantwortlichen hierzulande an sozialer Sensibilität, von Solidarität mit den Armen gar nicht zu reden. Auch das Beispiel der mehrtägigen Hochzeitssause von Christian Lindner auf Sylt im Juli 2022 zeigte, wie schlecht es um die öffentliche Moral in unserem Land bestellt ist: hatte der Bundesfinanzminister und FDP-Vorsitzende seine Mitbürger doch erst wenige Tage zuvor auf „fünf Jahre der Knappheit“ eingestimmt. Dabei existieren hierzulande längst massenhaft soziale Probleme, denn die Armuts(risiko)quote befand sich auf einem Rekordstand: 16,9 Prozent der Bevölkerung – 14,1 Millionen Menschen – waren im Jahr 2021 einkommensarm oder armutsgefährdet, wie das verharmlosend genannt wird, denn ein davon betroffener Alleinstehender hatte weniger als 1.145 Euro im Monat zur Verfügung, von denen ein Großteil in aller Regel für die Wohnungsmiete ausgegeben werden musste.

Auch die Kinderarmut hatte im vereinten Deutschland einen historischen Höchststand erreicht. 21,3 Prozent der Unter-18-Jährigen waren armutsbetroffen oder armutsgefährdet. Mehr als 2,9 Millionen Kinder und Jugendlichen wuchsen in Familien auf, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügten. Dies hieß für Alleinerziehende, die ein Schulkind haben, mit einem Betrag unter 1.489 Euro monatlich und für Paare, die zwei Schulkinder haben, mit einem Betrag unter 2.405 Euro monatlich auskommen zu müssen.

Unsummen für Rüstung – Peanuts für Kindergrundsicherung

Wie es scheint, folgt der außen-, energie- und militärpolitischen Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz nach Beginn des Ukrainekrieges erklärt hat, eine sozialpolitische Zeitenwende auf dem Fuß. Wenn gigantische Rüstungsausgaben geschultert werden sollen, wird es kaum möglich sein, die gewaltigen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen die Ampel-Koalition steht: Sie muss ihren Beitrag zum Klimaschutz leisten, die Modernisierung der Infrastruktur vorantreiben und soziale Probleme (Prekarisierung der Arbeit, Verarmung eines Teils der Bevölkerung, Wohnungsnot und Mietenexplosion) lösen. Umgekehrt dürfte es noch mehr Abstriche von dem ohnehin wenig anspruchsvollen Programm der Regierungsparteien geben.

Der soziale Friede ist in Gefahr, wenn aufgrund des größten Aufrüstungsprogramms seit 1945 das Geld für lebenswichtige Aufgaben des Staates fehlt. Hochrüstung führt zur Senkung des Lebensstandards der Armen. Deshalb lautet die Alternative: Rüstungs- oder Sozialstaat? Es kann nur den einen oder den anderen geben, aber nicht beide zusammen. Denn bei massiv steigenden Rüstungsausgaben – aufgerufen sind „mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts“ und das Sondervermögen für die Bundeswehr“ bleiben Transferleistungen zwangsläufig auf der Strecke, kommt die soziale Gerechtigkeit unter die Räder. Daher spitzen sich die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe zu, wie der anhaltende Streit zwischen SPD, Bündnisgrünen und FDP um die Kindergrundsicherung zeigt.

Kaum hatten erste Sondierungsgespräche für den Bundeshaushalt 2024 und die mittelfristige Finanzplanung begonnen, wurde die Kindergrundsicherung zum Zankapfel zwischen den Regierungsparteien. Die unterschiedliche Prioritätensetzung der Bündnispartner hat die Presse auf die Kurzformel „Kinder oder Kriegsmaterial“ gebracht: Während die FDP künftig mindestens 10 Milliarden Euro jährlich für eine finanzmarktabhängige Altersvorsorge („Aktienrente“) aufwenden und am liebsten die Steuern für Wohlhabende senken möchte, forderte Verteidigungsminister „Bum-Bum“ Boris Pistorius (SPD) dieselbe Summe für den Rüstungshaushalt. Für den Bau einer Chipfabrik in Ostdeutschland unterstützt die Bundesregierung den US-Konzern Intel mit rund 10 Milliarden Euro.

Christian Lindner hat sich zwar in Begleitung seiner Frau bei einer Gala der Bild-Hilfsorganisation „Ein Herz für Kinder“ öffentlichkeitswirksam ablichten lassen, die Bekämpfung der Kinderarmut durch die Ampel-Koalition scheint ihm aber kein politisches Herzensanliegen zu sein, denn er möchte nur 2 Milliarden Euro dafür ausgeben. Hiermit könnte man nur eine Automatisierung, Entbürokratisierung und Digitalisierung des Leistungssystems für Kinder realisieren, eine armutsfeste und bedarfsgerechte Kindergrundsicherung würde hingegen weit mehr als 20 Milliarden Euro kosten.

Im Kern dreht sich der anhaltende Streit zwischen Finanzminister Christian Lindner und Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) um Folgendes: Während sich die FDP darauf beschränken will, mehr arme Familien durch Entbürokratisierung, Automatisierung und Digitalisierung des Antragsverfahrens in den Transferleistungsbezug zu bringen, möchten die Grünen durch Anhebung der bisherigen Bürgergeld-Regelbedarfe auch die soziale Lage von Kindern verbessern, deren Eltern alle staatlichen Leistungen in Anspruch nehmen. Paradoxerweise rekultivieren die Liberalen einen bürgerlichen Armutsbegriff, der sich bei allen Bundesregierungen unter der Kanzlerschaft von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl findet. Nach diesem Verständnis endet Armut immer, wenn jemand staatliche Unterstützung in Anspruch nimmt, also eine Transferleistung wie Sozialhilfe, Arbeitslosengeld II oder Bürgergeld bezieht, und sei diese auch noch so niedrig bemessen. Somit wären Politiker, Regierungsparteien und Parlamentarier nie für wachsende Armut im eigenen Land (mit)verantwortlich, denn schließlich hätten die von ihr Betroffenen ja einen Antrag auf Transferleistungen stellen können.

Zunächst hielten die Bündnisgrünen an ihrem familien- und sozialpolitischen Prestigeprojekt fest, für das sie jährlich 12 Milliarden Euro aufwenden wollten. Sie deuteten an, Lindners Haushaltsentwurf sonst ablehnen zu wollen, gaben sich dann aber mit der Erklärung des Bundesfinanzministers zufrieden, dass die vorgemerkten 2 Milliarden Euro nur ein „Platzhalter“ seien. Lisa Paus deutete alsbald Kompromissbereitschaft an und brachte 7 Milliarden Euro als mögliche Einigungssumme ins Gespräch. Bundeskanzler Olaf Scholz hat in dem Streit seiner Koalitionspartner und Fachminister trotz einer klaren Beschlusslage der SPD kein Machtwort zugunsten der armen Kinder gesprochen, sondern durch einen diplomatisch gehaltenen Brief an Lisa Paus zu vermitteln gesucht. Darin war zwar von einer „beabsichtigten Leistungsverbesserung“ die Rede, Scholz verlangte von Paus aber auch mehrere Varianten und Alternativen einer Ausgestaltung des Leistungskatalogs im Referentenentwurf, zwischen denen sich das Bundeskabinett bis Ende August entscheiden kann.

„Fortschritts-“ oder Rückschrittskoalition?

SPD, Bündnisgrüne und FDP haben im Rahmen der Regierungsbildung den Anspruch erhoben, eine „Fortschrittskoalition“ zu sein. Sozial- und verteilungspolitisch droht Deutschland allerdings ein Rückschritt, weil die Ampel immer dann auf Rot springt, wenn es darum geht, Reiche finanziell zu belasten und Arme materiell besserzustellen.

Um auch im nächsten Jahr die „Schuldenbremse“ wieder einhalten zu können, hat das Bundeskabinett am 5. Juli 2023 auf Vorschlag des Finanzministers beschlossen, Kürzungen in fast allen Einzelhaushalten vorzunehmen. Besonders schmerzlich sind die geplanten Abstriche im Bereich der Bildung sowie der Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Genannt seien nur die Halbierung des Etats für das „Startchancenprogramm“, mit dem 4.000 Schulen in sozial stark belasteten Quartieren besser ausgestattet werden sollen; die Kürzung der Bafög-Mittel für Studierende und Schüler sowie die Verringerung des Steuerzuschusses für die Pflege.

Als sich Lisa Paus entschloss, als „Sparbeitrag“ ihres Ressorts denjenigen Paaren das Elterngeld in Höhe bis 1.800 Euro pro Monat zu streichen, die ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von über 150.000 Euro haben (bisher lag die Kappungsgrenze bei 300.000 Euro), brach ein Aufschrei der Entrüstung los. Das war ganz anders, als eine Streichung beim Elterngeld die Armen traf: Ursula von der Leyen (CDU) hat das Elterngeld als Bundesfamilienministerin zwar im Jahr 2007 eingeführt, was sie aber nicht davon abhielt, den Menschen im Hartz-IV-Bezug das Mindestelterngeld in Höhe von 300 Euro pro Monat nur zwei Jahre später als Bundessozialministerin zu streichen. Ihrer steilen Karriere, die sie an die Spitze der EU-Kommission führte, hat das nicht geschadet.

Spitzenverdienern eine bisher übliche Lohnersatzleistung vorzuenthalten oder ihnen einen Steuervorteil zu entziehen, ruft nicht bloß diese einflussreiche Personengruppe selbst auf den Plan, sondern widerspricht auch diametral dem neoliberalen Dogma, dass sich „Leistung“, genauer: ökonomischer Erfolg lohnen muss. Als der SPD-Kovorsitzende Lars Klingbeil die Abschaffung des Ehegattensplittings für Neuverheiratete ins Spiel brachte, witterte der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai darin trotz des Bestandsschutzes, der materielle Einbußen bereits Verheirateter ausschließt, eine „massive Steuererhöhung für die Mitte der Gesellschaft“. Sicher nicht zuletzt deshalb, weil die eigene Wählerklientel davon überproportional stark betroffen wäre. Dabei würden in beiden Fällen nur die Privilegien von Hocheinkommensbeziehern beschnitten. Wenn diese das Modell der Hausfrauenehe praktizieren, profitieren sie am meisten vom Ehegattensplitting. Familienpolitik, zumal eine soziale Familienpolitik, die das Wohl armer Kinder in den Mittelpunkt rückt, sieht anders aus.

Wenn die Bundesregierung nach Einsparmöglichkeiten sucht, sollte sie den steuerlichen Kinderfreibetrag abschaffen und das Ziel der „horizontalen Steuergerechtigkeit“ durch das Ziel der vertikalen Gleichheit und des sozialen Ausgleichs zwischen den Familien ersetzen. Selbst das Bundesverfassungsgericht kann sich auf Dauer schwerlich der Einsicht verschließen, dass die wachsende Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft und nicht länger hinnehmbar ist.

Was die Kindergrundsicherung leisten muss

In einer Gesellschaft, welche die Teilhabe selbst ihrer jüngsten Mitglieder am sozialen und kulturellen Leben immer stärker von der Inanspruchnahme kommerzieller Angebote abhängig macht, gilt mehr denn je, dass Armut nur mit erheblich mehr Geld wirksam zu bekämpfen ist. Familien, deren Kinder aus Geldmangel weder ins Theater oder ins Kino noch in den Zoo oder in den Zirkus gehen können, müssen finanziell bessergestellt werden.

Wenn die Kindergrundsicherung nur mehrere familienpolitische Leistungen zusammenführt, die bisher separat zu beantragen sind, sich teilweise überschneiden und einzeln ausgezahlt werden – das Kindergeld, den Kinderzuschlag, die entsprechenden Regelbedarfsstufen des Bürgergeldes sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes –, bringt sie zwar eine Vereinfachung, aber keine finanzielle Verbesserung für das Gros der armen Familien mit sich. Um allen Kindern in Deutschland ein gutes und gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, ist mehr nötig als eine Zusammenfassung der bisherigen Leistungen.

Nicht die Höhe des allen Familien zustehenden Garantiebetrages, sondern die Höhe des sich auf einkommensschwache Familien konzentrierenden Zusatzbetrages entscheidet letztlich darüber, ob die Ampel-Koalition im Kampf gegen die Kinderarmut künftig Erfolge feiern kann. Nötig wäre eine bedarfsorientierte Leistungsvergabe, also der Einbau von Regelungen, mit denen speziellen Bedarfen und Härten begegnet werden kann. Zum Beispiel für den Fall, dass plötzlich die Waschmaschine kaputtgeht oder die alte Winterjacke dem Kind nicht mehr passt.

Ob eine Kindergrundsicherung das Problem der Familienarmut lösen kann, hängt davon ab, ob die neue Leistung großzügiger als die Regelsätze des am 1. Januar 2023 eingeführten Bürgergeldes für nichterwerbsfähige Minderjährige bemessen ist. Es muss so konstruiert sein, dass sowohl die verdeckte Armut solcher Familien, die etwa mangels einschlägiger Informationen, aus Stolz oder wegen falscher Scham keine ihnen zustehenden Transferleistungen beantragt haben, wie auch die im Leistungsbezug fortbestehende Armut bekämpft wird. An welche Geldbeträge beim Zusatzbeitrag gedacht ist, entscheidet darüber, ob die Kindergrundsicherung im Einzelfall armutsfest und bedarfsgerecht ist oder nicht.

Auch darf sich die Kindergrundsicherung nicht auf eine individuelle Geldleistung beschränken, sondern muss auch eine infrastrukturelle Förderung beinhalten, weil die soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur gerade für „Problemfamilien“ von größter Relevanz ist. Nur wenn genügend Kindertagesstätten, gut ausgestattete Schulen und ausreichend Freizeitangebote (vom öffentlichen Hallenbad über den Jugendtreff und das Museum bis zum Tierpark) vorhanden sind, kann verhindert werden, dass ein Großteil der nachwachsenden Generation unterversorgt und perspektivlos bleibt. Kita, Schule, Ganztagsbetreuung, Mittagessen und Mobilität müssen kostenfrei, die soziale Teilhabe, Bildung und der Zugang zu kulturellen Angeboten selbst für Mitglieder armer Familien bezahlbar werden.

Zu befürchten ist jedoch, dass sich Wohnungsnot sowie Energie- und Ernährungsarmut infolge einer unsozialen „Sparpolitik“ ausbreiten. Denn die stark gestiegenen Preise für Gas und Strom, aber auch bei Grundnahrungsmitteln bedeuten für Menschen, die schon vor dem Ukrainekrieg kaum über die Runden kamen, dass sie den Gürtel noch enger schnallen müssen. Die große Mehrheit der Bevölkerung kann sich staatliche Austerität nicht leisten.