Um die Ecke gedacht

Auferstanden aus Ruinen: Skizze einer zukünftigen WTO

| 27. August 2025
IMAGO / photothek

Das alte WTO-System weitgehenden Freihandels ist unwiederbringlich perdu. Ein neues sollte stattdessen Zölle beinhalten, die auf der Basis der nationalen CO2-Klimabelastung pro Kopf beruhen.

In nur wenigen Monaten ist es dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump gelungen, das bisherige Welthandelssystem zu zertrümmern. Zwar haben bisher fast ausschließlich die USA gegen alle internationalen Absprachen einseitig ihre Zölle erhöht. Aber erstens ist das der größte oder zweitgrößte (je nachdem wie das BIP berechnet wird, kann auch China hier vorne stehen) Wirtschaftsraum. Und es ist der mit einem gewaltigen Handelsbilanzdefizit, sprich Importüberhang, was die Vereinigten Staaten definitiv zum Einfuhrland Nr. 1 von – vor allem verarbeiteter – Waren macht.

Und zweitens ist die Situation dynamisch, Folgereaktionen anderer Staaten oder Staatengruppen sind wahrscheinlich. So fürchtet man nicht nur in Europa, dass der Produktionsgigant China jetzt neue Abnehmer jenseits der USA sucht. Man wird also hier und anderswo bald überlegen, ebenfalls Zollschranken gegenüber dritten Ländern zu errichten. Ein erstes Wetterleuchten sind die von der EU geplanten Restriktionen bei chinesischen Versandhändlern wie Temu oder Shein.

Es ist also an der Zeit, sich über ein neues Welthandelssystem jenseits der WTO-Prinzipien Gedanken zu machen. Denn die einfache Rückkehr dazu scheint auch bei einer Abwahl der Republikaner bei den nächsten Wahlen extrem unwahrscheinlich. Allein schon deshalb, weil die Zolleinnahmen mittlerweile einen beträchtlichen Anteil am amerikanischen Bundeshaushalt einnehmen und deren Zurückführung größere, sicher mit viel politischem Widerstand verbundene Steuererhöhungen mit sich bringen müsste.

Mit einem Vorschlag sind jetzt die Grünen vorgeprescht. In einem offiziell noch nicht publizierten, aber durchgesickerten Papier wichtiger Fraktionsmitglieder, darunter eine der Vorsitzenden, wird ein neues ‚plurilaterales Handelsabkommen‘ gefordert. Man will dort Zollsenkungen, aber auch „starke Regeln für Klimaschutz und Menschenrechte“. Vorbild dafür könne das transpazifische Handelsabkommen CPTPP sein.

Das scheint alles recht unausgegoren. Die Mitglieder des CPTPP sind Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam. In Punkto Klimaschutz fällt sofort auf, dass die besonders klimaschädliche Kohleförderung in Australien absolut zwar von den bevölkerungsreichen China, Indien, Indonesien, USA übertroffen wird, aber pro-Kopf berechnet dieses Land den Welt-Spitzenplatz belegt. Und Bruneis Wirtschaft wird fast vollständig von seiner Erdöl- und Erdgasförderung bestimmt.

Auch bei den Menschenrechten ist die CPTPP in ihrer Gesamtheit sicher kein Vorbild. So ordnet etwa der ‚Democracy Index‘ des Economist das Mitgliedsland Vietnam bei den ‚Authoritarian Regimes‘ in der untersten Kategorie ein. Vietnam belegt den niedrigen Platz 136 von insgesamt 167 untersuchten. Ähnlich düster sieht es bei alternativen Indices aus, etwa dem zur ‚persönliche Freiheit‘.  

Generell ist es sowieso keine gute Idee, eine international gelten sollende Handelsordnung auch auf der Menschenrechtslage basieren zu wollen. Denn das ist wie bei der UN-Organisation und weltweit nötigen Abkommen bezüglich der ‚Global commons‘: man kann weder eine Generalversammlung aller Länder, einen Weltsicherheitsrat der nuklearen Großmächte noch ein Pariser Klimaschutz-Abkommen nur unter Demokratien veranstalten, wenn die Mehrzahl der Staaten wie die Mehrheit der globalen Bevölkerung autokratisch regiert werden. Von dieser Hybris gilt es Abschied zu nehmen. Nicht dagegen von der Idee, den Welthandel künftig als Hebel zu nutzen, klimaschädliche Emissionen zu reduzieren.

Statt Freihandel CO2-basierte Zölle

Dass Freihandel nur im älteren und veralteten volkswirtschaftlichen Denken immer und überall von Vorteil ist, scheint bei den Grünen noch nicht angekommen zu sein. Modernere Überlegungen sind da skeptischer. So hat etwa der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz schon vor etlichen Jahren argumentiert, dass weitreichende Lerneffekte bzw. ‚Learning Externalities‘ bei relevanten Technologien existieren können. Um ihre positiven Wirkungen entfalten zu können müssen sie häufig aber durch Zölle oder ähnliche Abwehrmaßnahmen vor billigerer Weltmarktkonkurrenz geschützt werden. Ähnlich ist es mit der Resilienz gegenüber plötzlichen natürlichen oder künstlichen Knappheiten und Lieferstopps.

Ein schönes aktuelles Beispiel für möglich positive Externalitäten ist die stürmische Entwicklung in der Batterietechnik, zentral für die Speicherung erneuerbarer Energien wie den Betrieb von Elektrofahrzeugen gleichzeitig. Ohne Zölle, Subventionen oder Verpflichtungen zum Einbau gewisser eigenproduzierter Mengen wäre der technologische Vorsprung Chinas uneinholbar. Und was die von den Freihandels-Vertretern ignorierte Resilienz-Dimension betrifft, demonstriert gerade China bei den Seltenen Erden: manchmal entstehen für ein Land durch Exportdrosselung größere ökonomische oder politische Gewinne als durch eine Exportausweitung.

Neben diesen Risikominderungen und positiven Externalitäten sind für eine internationale Neuordnung auch negative zu beachten. Hier steht an erster Stelle die letztlich alle auf dieser Erde schädigende Lebensweise in industriellen Gesellschaften. Zwar hat die Weltgesellschaft versucht, die Ursachen des Klimawandels in den Blick zu nehmen und mit dem Pariser 1,5 Grad-Ziel sich auch ein konkretes Ziel dafür gesetzt. Aber es wird viel zu wenig in praktisches Handeln umgesetzt. Und das nicht nur in den USA unter Trump, sondern auch bei anderen Großverursachern wie etwa den EU-Mitgliedern. Der Anreiz, durch Nicht-Befolgung nationale Politikerfolge zu erzielen, ist sehr verführerisch im Vergleich zu den eher bescheidenen Kosten an Verlust internationaler Reputation.

Wenn der kurzfristige politische Erfolg aber zu erheblichen gesellschaftlichen Langfristschäden führt, werden Mechanismen der Selbstbindung zentral. Im Politikbereich heißt das, auf ‚über den Tellerrand hinausschauende Politiker‘ und deren Unterstützer in der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft zu setzen. Im Erfolgsfall initiieren diese dann internationale Abkommen, die bei Nichteinhaltung der darin festgelegten Verpflichtungen allen beteiligten Ländern Kosten auferlegen. Auch der alte Freihandel war eine solche Selbstbindung. Man verzichtete darin auf Zölle zum Schutz eigener Produzenten trotz deren Widerstände in der Hoffnung, dafür in der Summe auf lange Sicht Wohlfahrtsgewinne einzufahren.

Eine solche Selbstverpflichtung wäre auch ein neues Abkommen, das nicht versucht, Freihandel unter allen Bedingungen zu ermöglichen, sondern in erster Linie dazu da ist, großen CO2-Verschmutzern Exporte an Waren und Dienstleistungen so teuer zu machen, auf dass diese ebenso ihre Politik, ihr Verhalten ändern wie die Nutznießer solcher mangels Internalisierung der negativen Externalität letztlich zu kostengünstigen Ausfuhren. Konkrete Zollsätze und andere Details müssen dabei hier nicht diskutiert werden, sie werden immer in Verhandlungen bestimmt.

Der Vorschlag ist keine einfache  Ausweitung des CO2-Grenzausgleichssystems der EU, des Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM). Dieser hat nur das Ziel, bestimmte verschmutzungsintensive Branchen wie die Zement- oder Düngemittelherstellung daran zu hindern in Drittstaaten abzuwandern, indem die von dort importierten Produkte mit dem gleichen CO2-Preis belegt werden wie die in Europa hergestellten. Das hier angeregte neue Welthandelssystem will dagegen alle Importe an Waren und Dienstleistungen mit einem Zoll belegen, der sich an der Höhe der Klimabelastung bemisst, einschließlich der vom CBAM gar nicht erfassten Exporte der EU selbst.

Untenstehend findet sich eine Liste ausgewählter Länder und Ländergruppen nach ihrem CO2-Ausstoß pro Kopf um einen Eindruck von der Spannbreite etwaiger Zölle zu geben. Besonders wichtige oder illustrative Staaten sind mit orangenen Balken dargestellt. Üblicherweise wird dieser Indikator nach nationaler Produktion berechnet. Aber für ein künftiges Welthandelsabkommen sollte das nach Verbrauch kalkuliert, also Exporte schmutziger Energie wie Kohle, Öl, Gas dem jeweiligen Bestimmungsland zugeschlagen werden. Denn die Klimabelastung durch Konsum und Produktion ist der entscheidende Indikator, den man durch Kostenauferlegung verringern möchte.

Die Daten sind von 2022, die Quelle Hannah Ritchie, Pablo Rosado, and Max Roser von OurWorldinData. Der Ausstoß der Landwirtschaft konnte dabei leider nicht berücksichtigt werden. Und für einige Staaten liegen keine Angaben vor.

Würde man also einen niedrigen Basiszoll von X einführen, der die Situation der Low-income countries mit etwa 0,1 Tonnen pro Person widerspiegelt und geht man von einer linearen Steigerung aus, dann müssten zum Beispiel Produkte aus Indien mit dem 18fachen davon belastet werden, Waren aus der EU mit dem 77fachen und aus den USA mit dem 165fachen. Und zwar gleich ob es sich um Erdöl, Medikamente, Software oder Hotline-Kommunikations-Services handelt. Der Basiszoll würde dabei indirekt auch die bisher nicht erfassten Klima-Externalitäten des Transports erfassen, wie den Verbrauch von Schiffsdiesel oder Kerosin.

Wie oben angemerkt, konnte die Landwirtschaft in die Berechnung nicht integriert werden. Auch innerhalb der WTO-Regeln nimmt dieser Bereich eine Sonderstellung ein. Es wäre wohl klug, ihn zunächst aus dem neuen Verfahren zumindest teilweise herauszunehmen, da die Eigenversorgung mit Lebensmitteln in den meisten Ländern einen hohen politischen Stellenwert hat und mit einer vollen Integration zu warten, bis bezüglich des CO2-Gehalts agrarischer Produkte international besser vergleichbare Daten vorliegen.

Und sicher würde man auch bei den anderen Waren und Dienstleistungen eine solche große Umwälzung nicht von jetzt auf sofort vollständig einführen können, sondern sich eine Frist setzen, in der eher mäßig begonnen wird, die jeweiligen Zollsätze dann aber jährlich im Gleichschritt bis zum geplanten Maximum ansteigen. Ähnlich agiert die EU mit ihren früh angesagten schrittweisen Erhöhungen des CO2-Preises.

Umsetzungsfragen

Natürlich würde es gegen ein solches Zollregime jede Menge Widerstand geben. An erster Stelle wohl von den meisten öl- und gasfördernden Staaten, aber auch von den USA aus noch anderen Gründen. Was aber eine gewisse Hoffnung macht, ist, dass die EU gar nicht so schlecht da steht. Mit 7,7 Tonnen pro Person liegt sie nur 64 Prozent über dem Weltdurchschnitt. Und wenn da keine Hemmnisse in den Weg gelegt werden, ist der Ausbau der Erneuerbaren auf einem guten Pfad, die CO2-intensiven Importe bzw. noch vorhandenen Förderungen fossiler Energien weiter zurück zu drängen. Europa könnte also initiativ werden.

Und wenn es gewillt wäre, könnte man in China einen Verbündeten für diese Reform des Welthandelssystems finden. Denn China ist mit 7,2 Tonnen pro Kopf auf ähnlicher Ebene wie die EU, so dass die Zollhöhe beim gemeinsamen Handel für beide etwa gleich wäre. Dazu kommt: das Land hat zwar zuerst mit einem dramatischen Ausbau der Kohleförderung die Welt in Erstaunen gesetzt, ist nun aber mit großem Abstand führend im Ausbau erneuerbarer Energie. Anders ausgedrückt, China hat alle berechtigte Hoffnung, dass seine Klimabelastung pro Kopf und damit der Zoll auf seine Produkte schon bald sinken wird.

Finden sich also zunächst einige ökonomische Schwergewichte wie die EU und China zusammen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass eine neue Welthandelsordnung zunächst unter diesen praktiziert wird, bevor andere – darunter viele, die von Trumps erpresserischer Attitude ausgesprochen entsetzt und verletzt sind, wie Brasilien oder Indien – dem beitreten. Dann können Länder wie die USA oder Saudi-Arabien das Konstrukt weiter ablehnen, und eigene Zölle erheben: wenn man sich anderswo darauf einigt, dass man die spezifischen Klimaschutzzölle pro Land beibehält, hat sich schon viel Erpressungspotential verflüchtigt.

Gesamtkonzept

Ich habe in MAKROSKOP schon zwei Mal etwas zu besseren internationalen ökonomischen Abmachungen bezüglich des grenzüberschreitenden Handels als heute geschrieben. Deshalb stellt sich die Frage, ist das hier vorgestellte Konzept damit konkurrent oder ergänzend? Bei dem ersten Beitrag ging es auch um Zölle, aber in Zusammenhang mit erzwungener Migration.

Die Haupt-Argumentation lautete kurzgefasst, dass Länder oder übergeordnete Einheiten wie die EU sich dann von der Aufnahme von Flüchtlingen und politisch Verfolgten freikaufen können sollten, wenn sie stattdessen festgelegte Zahlungen an das UNHCR leisteten, die daraus vor allem deren Versorgung heimatnäher, wie auch zumeist von Flüchtlingen gewünscht, finanzierten. Kosten für die eigene Aufnahme Geflüchteter sollten von diesen Pflichtbeiträgen abgezogen werden können, so dass eine gewisse politische Wahlfreiheit in jedem Land erreicht werden würde: zahle ich oder nehme ich lieber Menschen auf?

Finanziert werden sollte das Verfahren durch geringe Importzölle von zum Beispiel drei Prozent. Gegenzölle in gleicher Höhe waren erwünscht, so lange deren Erträge ebenfalls an die UNHCR flössen. Wie leicht zu sehen ist, tangiert das die neuen hier vorgeschlagenen CO2-basierten Einfuhrabgeben nicht. Sie addieren sich im Fall der Umsetzung beider Vorschläge einfach. Der Zoll auf chinesische Produkte beispielsweise wäre dann absolut 3 Prozent plus das 72fache des geringen Basiszolls bei den ärmsten Ländern (der Anschaulichkeit halber zum Beispiel 0,1 Prozent, 0,2 Prozent, … 1 Prozent, 2 Prozent…). Und um die Befürchtung auszuräumen, dass diese Kombination den Welthandel zu sehr abwürgen könnte, sei angemerkt, dass es natürlich Spielräume gibt bei der Festlegung des Basiszolls, dem Steigerungsfaktor und der zeitlichen Streckung bis zur vollen Wirkung des Instruments.

Der zweite Beitrag beschäftigte sich mit den hohen Subventionszahlungen an Unternehmen im High-Tech-Sektor. Hier wurde argumentiert, dass stattdessen ‚local content‘-Klauseln für die Gesellschaft günstiger seien. Und dass es wegen der beobachtbaren Konzentration solcher Subventionen auf die reicheren Länder man nach gerechteren Lösungen suchen sollte, die auch die Interessen der ärmeren Staaten berücksichtigten. Diese könne erreicht werden, wenn der international erlaubte Umfang aller local content-Auflagen in negativer Abhängigkeit vom BIP pro Kopf stünde. Kurz ausgedrückt: je ärmer ein Land ist, darf mehr es – muss aber nicht – seine lokale Wirtschaft schützen.

Zölle und Local content-Rechte werden ökonomisch als Substitute gefasst. Beides verteuert importierte Waren. Das ist nicht falsch, aber die hier vorgeschlagenen Verfahren folgen unterschiedlichen Prinzipien und das erlaubt das Kombinieren. Local content bedeutet, dass (und zwar je ärmer, desto mehr) Länder wählen können, ob sie eher traditionelle bzw. als existentiell angesehene Wirtschaftsweisen schützen wollen und/oder sich an bestimmten neuen technologischen Entwicklungen abgesichert aktiv beteiligen wollen. Zölle auf CO2-Basis dagegen machen bisher verborgene Klimaverschmutzungskosten sichtbar und bieten einen hohen Anreiz, auf erneuerbare Energien umzusteigen und generell Konsum weniger klimaschädlich zu gestalten. Beide Ansätze haben ihre je eigene Gerechtigkeitslogik und lassen sich ebenfalls gut kombinieren.

Bei dem im Titel zitierten Anfang der Nationalhymne der untergegangenen DDR mit dem Text von Johannes R. Becher geht es nach dem „Auferstanden aus Ruinen“ weiter mit „und der Zukunft zugewandt“. Das ist genau die Intention dieses Beitrags. Nicht zurück zum Freihandel mit seinen vielen Problemen und Ungerechtigkeiten sollte das Ziel sein, sondern ein Handelssystem zu gestalten, das mit Macht dazu beiträgt die aktuell wichtigste Herausforderung der Menschheit anzugehen.