Internationale Politik

Der ungeliebte Politische Realismus

| 19. September 2023
Stephen Walt als Collage

Der Realismus lehrt uns, Wunschdenken zu vermeiden und Problemen offener und ehrlicher zu begegnen. Ist er deswegen so unbeliebt? Der Politologe Stephen Walt führt fünf mögliche Gründe an.

Spätestens im Sommer 2022 wurde deutlich, dass die russische Offensive in der Ukraine mehr und mehr ins Stocken gerät – Russlands Führungselite hatte sich in ihrem Glauben an einen schnellen militärischen Sieg ordentlich verschätzt. Bis dahin kursierten bereits unzählige Analysen von Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern zu den Ursachen und Hintergründen des Krieges. Dabei zeigte sich schnell, dass sich in den westlichen Gesellschaften vorwiegend drei Lager formierten:

  • Eine überwältigende Mehrheit in Medien und Politik teilt die liberale Einsicht, die den russischen Überfall auf die Ukraine als einschneidenden Beweis für die imperialen Ziele Putins und ersten Schritt zur Errichtung eines neues russischen Großreiches wertet.
  • Demgegenüber macht sich hauptsächlich an den politischen Rändern – in Deutschland vor allem in den Reihen von AfD und Linke – entweder eine würdelos-blinde Pro-Putin-Haltung oder zumindest eine kategorische Ablehnung jeglicher Unterstützung der Ukraine mittels Waffen und anderer Rüstungsgüter breit.
  • Neben diesen unversöhnlich verhärteten Fronten versuchen einige wenige politische Beobachter, eine zu schnelle Festlegung von Gewissheiten zu vermeiden und sich stattdessen um eine möglichst nüchterne und differenziere Betrachtungsweise zu bemühen; insbesondere um zukünftig vergleichbare Katastrophen zu verhindern – es sind die politischen Realisten.

Vor dem Hintergrund eines solch ehrbaren Motivs sollte man meinen, dass realistische Analysen gesellschaftlich anerkannt und hoch erwünscht sind; wie sich zeigt, ist häufig das Gegenteil der Fall. Der Umgang der amerikanischen Öffentlichkeit mit den Ansichten der ältesten – und neben dem Liberalismus wissenschaftlich einflussreichsten – realistischen Schule der Internationalen Politik zum Russland-Ukraine-Krieg veranlasste den US-Politikwissenschaftler Stephen Walt[1], Professor für Internationale Politik an der Harvard University, in der US-Fachzeitschrift Foreign Policy über die Ursachen der gesellschaftlichen Unbeliebtheit des Realismus nachzudenken. Seine Gedanken sind weitgehend auf die deutsche Öffentlichkeit übertragbar. Umso lohnenswerter ist es, seine Argumentation noch einmal nachzuempfinden und zu ergänzen.

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