Die EU, die NATO und die nächste Neue Weltordnung
Die neuen Aufgaben, die der EU im Zuge der Ukraine–Krise und ihrer Unterordnung unter die Geostrategie der NATO zufallen, sind weit davon entfernt, ihre alten Probleme vergessen zu machen – sie verschärfen sie vielmehr.
Krieg ist die ultimative stochastische Quelle der Geschichte, und wenn er einmal begonnen hat, nehmen die Überraschungen kein Ende mehr. Doch auch wenn der Krieg in der Ukraine noch lange nicht vorbei sein dürfte, so hat er doch jeder Vision eines souveränen, wenn nicht gar nicht-imperialen Staatensystems in Europa zumindest vorläufig ein Ende gesetzt. Er scheint auch dem französischen Traum den Todesstoß versetzt zu haben, das liberale Imperium der Europäischen Union in ein strategisch autonomes drittes globales Machtzentrum zu verwandeln, unabhängig sowohl von einem aufstrebenden China als auch von den im Niedergang begriffenen Vereinigten Staaten und in der Lage, mit beiden glaubhaft zu konkurrieren.
Fürs erste jedenfalls scheint der russische Einmarsch in der Ukraine die Frage nach der postneoliberalen europäischen Ordnung beantwortet zu haben, indem er das lange Zeit als überholt angesehene Modell des Kalten Krieges wiederbelebt hat: ein unter amerikanischer Führung geeintes Europa, das den Vereinigten Staaten als transatlantischer Brückenkopf in ihrer Konfrontation mit einem gemeinsamen Feind – damals die Sowjetunion und heute Russland – dient. Die Eingliederung in einen wiederauferstandenen, remilitarisierten "Westen" mit neuen Funktionen als europäische Unterabteilung der NATO, letztere auch bekannt als das amerikanische militärische Establishment, scheint die EU vorerst gegen die zerstörerischen Zentrifugalkräfte geschützt zu haben, die seit langem an ihr zerren, freilich ohne sie für immer zu beseitigen. Durch die Wiederherstellung des Westens neutralisierte der Krieg die vielfältigen Bruchlinien, an denen die EU bis vor kurzem zu scheitern drohte, und verstärkte gleichzeitig die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten über Westeuropa, einschließlich seiner internationalen Organisation, der Europäischen Union.
Vor allem die Wiederherstellung des Westens unter amerikanischer Dominanz hat das Verhältnis zwischen NATO und EU wohl auf längere Zeit zugunsten einer Arbeitsteilung neu geordnet, die den Vorrang der ersteren vor der letzteren festschreibt. Auf interessante Weise wurde dadurch die Spaltung zwischen Kontinentaleuropa und dem Vereinigten Königreich geheilt, die sich im Zuge des Brexits aufgetan hatte. Die Tatsache, dass der NATO neben den führenden EU–Mitgliedstaaten auch das Vereinigte Königreich angehört, gibt Großbritannien durch seine besondere Beziehung zu den Vereinigten Staaten wieder eine herausragende europäische Rolle.
Wie sich dies auf den internationalen Status eines Landes wie Frankreich auswirkt, zeigte ein Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Australien im Jahr 2021 – der AUKUS–Pakt –, in dessen Rahmen Australien ein 2016 mit Frankreich geschlossenes Abkommen über französische dieselbetriebene U–Boote aufkündigte und sich stattdessen verpflichtete, gemeinsam mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien nuklearbetriebene U–Boote zu entwickeln – ein Ereignis, das nicht zuletzt dazu diente, den Franzosen die Grenzen einer französisch geführten EU als Weltmacht aufzuzeigen.
Die EU als Dependance der NATO
Der Aufstieg der NATO zur dominanten Kraft im westeuropäischen Staatensystem bedeutete einen Abstieg der Europäischen Union in den Status einer Hilfsorganisation der NATO, die den strategischen Zielen der USA vor allem, aber nicht nur in Europa untergeordnet ist.[1] Die Vereinigten Staaten hatten die EU schon lange, seit den 1990er Jahren, als eine Art Warteraum oder Trainingslager für künftige NATO–Mitglieder betrachtet, insbesondere für solche, die an Russland angrenzen, wie Georgien und die Ukraine, aber auch für die westlichen Balkanstaaten.
Die EU ihrerseits bestand auf ihren eigenen Aufnahmeverfahren, zu denen langwierige Verhandlungen über die nationalen institutionellen und wirtschaftlichen Bedingungen gehören, die als Voraussetzung für einen formellen Beitritt erfüllt sein müssen. Dabei geht es unter anderem darum, die künftige Belastung für den EU–Haushalt zu begrenzen und sicherzustellen, dass die politischen Eliten dieser Länder ausreichend "pro–europäisch" erzogen sind, um einer zentralisierten techno-merkatokratischen Verwaltung Westeuropas keine Schwierigkeiten zu bereiten. Den Vereinigten Staaten erschien dies angesichts ihrer geostrategischen Ziele schon lange als übertrieben pedantisch. In der Tat war es vor allem Frankreich, das sich einer allzu liberalen "Erweiterung" der Union widersetzte und immer noch widersetzt, weil es befürchtet, dass sie der "Vertiefung" der Union nach französischen Vorstellungen im Wege stehen könnte.
Mit dem Ukraine–Krieg wurde die Vision der EU als Auffanglager für künftige NATO–Mitglieder immer mehr zur bestimmenden Realität. Zwar dürfte der Krieg eine Aufnahme der Ukraine in die NATO für einige Zeit ausschließen – so jedenfalls die gegenwärtige Position der USA, die einen Friedensschluss zwischen Ukraine und Russland zur Voraussetzung eines NATO-Beitritts erklärt, der zu den von der Ukraine und den USA gestellten Bedingungen eine militärische Niederlage Russlands voraussetzt. Als Entschädigung könnte aber eine rasche Aufnahme in die Europäische Union angeboten werden, nicht zuletzt, weil damit Mittel für die Behebung der durch den Krieg verursachten Schäden gesichert werden könnten – Mittel, die die Vereinigten Staaten vielleicht aufbringen können, sicher aber nicht aufbringen wollen.
Es erscheint im Übrigen wahrscheinlich, dass Frankreich nicht mehr lange in der Lage sein wird, den Beitritt von Ländern wie Albanien, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Kosovo und Serbien zur EU zu blockieren. Je nachdem, wie sich der Krieg entwickelt, könnte sogar Georgien und Armenien eine mitgliedschaftsähnliche Zugehörigkeit gewährt werden, kurzfristig realisierbar, längerfristig aber mit erheblichen Anforderungen an den EU–Haushalt verbunden.[2]
Kriegswirtschaftliche Entglobalisierung
Abgesehen davon, dass sie den Ländern an der westeuropäischen Peripherie, die für die USA von strategischem Interesse sind, eine Art von Mitgliedschaft in Aussicht stellen muss, wurde die EU während des Krieges zu einer Agentur für die Planung, Koordinierung und Überwachung der europäischen Wirtschaftssanktionen gegen Russland und zunehmend auch China. Letztlich bedeuten Sanktionen heute eine tiefgreifende Neuordnung der weit verzweigten Lieferketten des neoliberalen Zeitalters und der Neuen Weltordnung, angepasst an eine sich abzeichnende multipolare Welt mit ihrer Betonung von wirtschaftlicher Sicherheit und politischer Autonomie. Die EU, eine Zeitlang Motor der Globalisierung, ist deshalb dabei, sich in eine Agentur der Entglobalisierung zu verwandeln – einer Entglobalisierung, die bis vor Kurzem nicht mehr zu sein schien als eine linke Absurdität.
Die Verkürzung von Lieferketten ist weniger eine Aufgabe der Politik als eine des technokratischen Sachverstands, und ist schwierig genug angesichts der hohen wirtschaftlichen Interdependenz, die noch aus der Zeit des globalen Neoliberalismus stammt. Politisch zu entscheiden, welche Sanktionen verhängt werden und wo internationale Produktions- und Handelsbeziehungen noch als sicher gelten sollen, behalten sich die die nationalen Regierungen ohnehin selber vor – immer unter den wachsamen Augen ihrer nunmehr wichtigsten internationalen Organisation, der NATO, unangefochten kontrolliert von ihrem stärksten Mitgliedstaat, den USA.
Während die Industriepolitik unter der von den Vereinigten Staaten betriebenen Entglobalisierung eine Renaissance erleben könnte, dürfte dies der EU und ihrem Projekt einer politisch–marktwirtschaftlich zentralisierten europäischen Einheitsregierung kaum zugutekommen. Zwar verfügt die NATO nicht über das notwendige wirtschaftliche Knowhow, um die Auswirkungen von Sanktionen auf Russland einerseits und Westeuropa andererseits zu beurteilen; andererseits hat sich aber gezeigt, dass für die EU dasselbe zutrifft.
Nicht zu unterschätzen ist, dass der EU von den Vereinigten Staaten und der NATO eine führende Rolle bei der Bereitstellung öffentlicher Gelder für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Ende des Krieges zugewiesen werden wird. Die Fähigkeit der EU, öffentliche Schulden aufzunehmen, die politisch weniger auffällig sind als auf nationaler Ebene – wie im Fall des Corona Recovery and Resilience Fund (CRRF), einer ersten Materialisierung der von der Kommission so genannten Next Generation EU (NGEU)[3] – wird wahrscheinlich dauerhaft und in großem Umfang für die Mobilisierung europäischer Beiträge zu den langfristigen nichtmilitärischen Kosten des Krieges genutzt werden. Die Erfahrung zeigt, dass der amerikanische Beitrag auf die militärischen Kampfhandlungen beschränkt sein und mit diesen enden wird.[4] Ebenfalls gebraucht werden Beiträge der EZB, wie im Kampf gegen die "säkulare Stagnation" und später gegen die Pandemie – etwa der Ankauf von Staatsschulden von privaten Investoren als indirekte Staatsfinanzierung unter Umgehung der europäischen Verträge.
Alte und neue Verbindlichkeiten
Die neuen Aufgaben, die der EU im Zuge der Ukraine–Krise und ihrer Unterordnung unter die Geostrategie der NATO zufallen, sind weit davon entfernt, ihre alten Probleme vergessen zu machen; sie verschärfen sie vielmehr. An der Westflanke der EU ist, wie erwähnt, das Vereinigte Königreich durch sein enges Bündnis mit den USA im Rahmen der NATO mit Nachdruck auf den europäischen Schauplatz zurückgekehrt, wenn auch eher als subcomandante denn als Mitgliedstaat.[5] Im Süden gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass die neue europäische Führungsrolle der NATO zur Verbesserung der italienischen Wirtschaftsleistung beitragen wird; im Gegenteil, die Sanktionen und verkürzten Lieferketten werden den Volkswirtschaften im Mittelmeerraum wie allen anderen zusätzliche Kosten aufbürden. Für diese werden mit Sicherheit Entschädigungen verlangt werden.
Allerdings werden die reichen Mitgliedstaaten der EU damit beschäftigt sein, ihre Verteidigungsausgaben gegen den absehbaren Widerstand ihrer Bürger auf das von der NATO geforderte, ständig steigende Niveau anzuheben, zusätzlich zu ihrer finanziellen Unterstützung weiterer, auf dem Weg zum NATO-Beitritt befindlicher EU-Mitgliedstaaten. Damit wird der Wettbewerb um EU-Subventionen, auch aufgrund neuer, kriegsbedingter Bedürfnisse der östlichen Mitgliedstaaten, zum Beispiel wegen der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge und ukrainischer Agrarprodukte, weiter zunehmen. Pläne, Ländern wie Polen oder Ungarn wegen Defiziten bei der "Rechtsstaatlichkeit" die finanzielle Unterstützung zu kürzen, werden in dem Maße obsolet, wie kulturelle Konflikte zwischen "illiberaler" und "liberaler" Demokratie durch die geostrategischen Ziele der NATO und der Vereinigten Staaten in den Hintergrund gedrängt werden.
Während die vom reichen Nordwesten getragenen Kosten dessen, was im Brüsseler Jargon "Kohäsion" genannt wird, steigen werden,[6] ohne dass im Ergebnis das wirtschaftliche Gefälle zwischen Nord- und Süd-Europa abnehmen wird, ist eine politische Machtverschiebung innerhalb der EU zugunsten ihrer östlichen Frontstaaten in vollem Gang. Westliche kulturelle Umerziehungsmaßnahmen erscheinen angesichts von Millionen von Flüchtlingen, die in einem Land wie Polen ankommen, zunehmend kleinlich, und es ist damit zu rechnen, dass die Vereinigten Staaten immer weniger Grund sehen werden, ihre osteuropäischen Verbündeten unter Druck zu setzen, deutschen oder niederländischen liberalen Empfindlichkeiten entgegenzukommen.
Da die USA sich nach eigenen Worten auf einen mehrjährigen Krieg vorbereiten – was nur logisch ist, wenn das Ziel ein Regimewechsel in Russland oder doch eine dauerhafte Schwächung Russlands ist –, muss die Bereitschaft eines Landes, amerikanische Truppen, Flugzeuge und Raketen aufzunehmen, Vorrang vor dem Kleingedruckten demokratischer Konditionalitäten haben. In einer Europäischen Union, die sich für einen unbestimmten Zeitraum in so etwas wie einen supranationalen paramilitärischen Hilfsdienst verwandelt, werden die Staaten an ihrer Ostfront die gemeinsame außenpolitische Agenda weitgehend bestimmen können. Dabei werden sie von den Vereinigten Staaten unterstützt, die ein geostrategisches Interesse daran haben, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch in Schach und von Westeuropa getrennt zu halten. Dies dürfte dazu führen, dass die USA mit Hilfe ihrer osteuropäischen Verbündeten und vermittelt durch die NATO faktisch an die Stelle des Möchtegern–Doppelhegemons der Union, des deutsch–französischen „Tandems“, treten.
Mit der Zeit wird eine der NATO untergeordnete Europäische Union, unabhängig davon, ob der Krieg bald endet oder sich weiter hinzieht, von den Bizarrerien der Innenpolitik einer untergehenden Großmacht, den Vereinigten Staaten, abhängig werden, die sich auf eine globale Konfrontation mit einer aufstrebenden Großmacht, China, vorbereitet. Nirgendwo in Westeuropa werden heute ernsthafte Vorbereitungen für den Fall getroffen, dass 2024 entweder Trump wiedergewählt wird – was keineswegs unmöglich erscheint – oder ein Ersatz-Trump an seine Stelle tritt.
Selbst mit Biden oder einem gemäßigten Republikaner freilich wird die kurze Aufmerksamkeitsspanne der amerikanischen imperialen Politik, deren Erinnerung in Europa heute bequemerweise verdrängt wird, eine stets gegenwärtige Gefahr oder doch Quelle ständiger Unsicherheit darstellen. Irak, Libyen, Syrien und Afghanistan sind Beispiele für die amerikanische Neigung, sich zurückzuziehen, wenn das nation-building aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, und ein tödliches Chaos zu hinterlassen, das andere aufräumen müssen, wenn sie an einem Minimum an internationaler Ordnung vor ihrer Haustür interessiert sind.[7]
Jenseits des Imperialismus
Die Europäische Union war immer im Wandel begriffen und hat sich über eine Reihe von Zwischenstufen von einem Instrument kooperativer Wirtschaftsplanung für sechs benachbarte Nationalstaaten (bei Polanyi: „regional planning“) zu der postdemokratischen Technokratie und Merkatokratie der neoliberalen Ära entwickelt. In den letzten Jahren der Neuen Weltordnung nach 1990 war sie mit 28 Mitgliedern in eine Periode institutioneller Stagnation eingetreten, ein Patt in einem Tauziehen zwischen Zentralisierungs- und Dezentralisierungskräften, mit einer Tendenz zu allmählicher Auflösung, funktional oder sogar formal.
Dies lag zum Teil daran, dass die sogenannte „Integration“ Europas in Bereiche des nationalen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens eingedrungen war, die die Mitgliedstaaten nicht supranationaler Gestaltung überlassen wollten oder konnten; hinzu kamen die unterschiedlichen nationalen Interessen, die sich gerade als Folge einer Integration herausbildeten, die wegen der unterschiedlichen nationalen Ausgangsbedingungen unterschiedliche nationale Auswirkungen hatte. Zusammen mit der ständigen territorialen Ausdehnung der Union hatten diese und andere Entwicklungen eine politisch nicht mehr zu ignorierende innere Interessenvielfalt hervorgebracht, die die angemaßte zentrale Regierungsfähigkeit der Union kritisch zu überfordern begann.
Integrationsmodelle, die darauf hinausgelaufen wären, die EU als internationale Organisation durch weniger statt mehr Integration zu stabilisieren, hatten nie eine Chance; es wurde ihnen auch nie wirklich Gehör zuteil. Gegen sie sprachen die Komplexität der bestehenden Verträge – des acquis communautaire –, die technischen Erfordernisse der gemeinsamen Währung sowie das mangelnde Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre Fähigkeit, sich selbst zu regieren. Hinzu kam die Verlockung der vielfältigen Möglichkeiten, die das Mehrebenensystem der EU den nationalen politischen Eliten bietet, die EU als Ablageplatz für Probleme zu nutzen, mit denen sie sich nicht befassen können oder wollen – etwa bei der Regulierung uneingeladener Immigration.
Des Weiteren zu nennen wären der sakrosankte moralische Status von "Europa" bei einer neuen, postmaterialistischen Mittelschicht sowie die unvereinbaren imperialen Interessen der beiden größten EU-Länder, Deutschland und Frankreich. In dieser Situation, nachdem die Union die Bewältigung der Covid-Pandemie im Wesentlichen ihren Mitgliedstaaten hatte überlassen müssen, wurde dem westeuropäischen Staatensystem mit dem Krieg in der Ukraine eine neue Art der Zentralisierung aufgezwungen, eine geostrategische unter Führung einer außereuropäischen Macht, der Vereinigten Staaten, eingebettet in die NATO als transatlantische internationale Organisation, deren unzweideutiger Zweck die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" (Carl von Clausewitz) ist.
Werden die Vereinigten Staaten in der Lage sein, eine – bald noch erweiterte – Europäische Union zusammenzuhalten, zentralisiert, geeint, konzentriert auf ein gemeinsames Ziel, den Sieg über einen gemeinsamen Feind, die alten und neuen internen Konflikte überwunden, überdeckt, überbrückt oder unterdrückt, der vielfältige nationale Eigenwille diszipliniert durch einen übermächtigen externen Hegemon? Auch wenn der Krieg in der Ukraine irgendwann einmal zu einem Ende käme, könnten die Vereinigten Staaten weiterhin ein Bedürfnis nach einem auf ihr Geheiß integrierten Europa haben, wenn ein Krieg im Pazifik an seine Stelle treten würde. Freilich könnte China als neuer gemeinsamer Feind den Europäern nicht bedrohlich genug erscheinen, um sie zu veranlassen, sich weiterhin auf Kosten ihrer nationalen Interessen amerikanischer Führung zu unterstellen. Dann, zusammen mit einem Nachlassen der europäischen Aufmerksamkeit der USA, könnten die alten Differenzen zwischen Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien und Polen wieder in den Vordergrund treten – Differenzen, die einer von innen betriebenen supranationalen Integration unvermeidlich im Wege stehen.
Man kann getrost davon ausgehen, dass die Vereinigten Staaten versuchen werden, die ideologischen und kulturellen Unterschiede zwischen den Staaten West- und Osteuropas um des Zusammenhalts Europas auf der internationalen Bühne unter amerikanischer Führung willen so weit wie möglich herunterzuspielen. Aber der Zweck, den sie damit verfolgen, wird wohl kaum auch der Zweck von Ländern wie Frankreich oder Deutschland sein. Insbesondere wenn das Interesse der Vereinigten Staaten an dem europäischen Krieg wie absehbar nachlassen und dieser dann irgendwo in der Ostukraine steckenbleiben würde, dürften die EU–Mitgliedsstaaten immer weniger bereit sein, sich von Brüssel oder Berlin im Auftrag von Washington disziplinieren zu lassen und Befehle etwa darüber entgegenzunehmen, welche wirtschaftlichen Beziehungen sie mit welchem Land unterhalten und wie sie sich generell in einer multipolaren Welt, wenn eine solche sich denn abzeichnen würde, positionieren sollen.
In dem Maße, wie sich die Vereinigten Staaten im Anschluss an den Krieg mit Russland neuen Schauplätzen zuwenden würden, um dort ihrer selbstzugeschriebenen welthistorischen Mission nachzugehen, die autoritären evil empires dieser Welt durch kapitalistische Demokratien zu ersetzen (wobei sie immer wieder ältere Baustellen in der Eile unerledigt zurücklassen müssen), dürfte sich herausstellen, dass sich die Grenzen des Möglichen in der europäischen Integration ohne Druck von außen auf die Dauer nicht wesentlich nach vorne und oben verschieben lassen. Ein europäischer Superstaat, so sentimental ansprechend er für manche in Deutschland auch sein mag, wenigstens solange man sich seine Eigenschaften vorstellen kann wie es einem gefällt, wird langfristig niemals mehr sein als ein Luftschloss. Die europäischen Staaten werden deshalb über andere Wege nachdenken müssen, wie sie ihre Interessen in der Welt außerhalb Europas zur Geltung bringen können – wenn sie sich nicht damit begnügen wollen, dies den Vereinigten Staaten zu überlassen.
Wenn die einzige Alternative zu einem Europa als transatlantische Verlängerung der Vereinigten Staaten ein einheitlicher, zentralisierter, hierarchisch regierter, souveränder supranationaler Superstaat ist, dann gibt es eine solche Alternative angesichts der tief verwurzelten nationalen Vielfalt Europas nicht wirklich. Auch ein US-geführtes Europa wie das des Ukrainekriegs wird davon betroffen sein. Für eine regionale Hegemonie im Sinne Carl Schmitts, die für Stabilität nach innen sorgen und die Projektion von Macht nach außen ermöglichen würde, ob mit den USA oder gar mit Deutschland als Hegemon – eine Doppelherrschaft von Deutschland und Frankreich ist undenkbar – sind die Aussichten düster.
Die Schlussfolgerung liegt deshalb nah, dass Europa, wenn es in einer zukünftigen multipolaren Welt eine Stimme haben will, lernen muss, sich statt als vereinigter Einheitsstaat oder als amerikanisches Imperium als quasi-genossenschaftlicher Zusammenschluss unabhängiger Nationalstaaten zu organisieren, die ihre Interessen manchmal allein und manchmal im Bündnis mit anderen vertreten – als ein Europa, heißt das, der "variablen Geometrie" oder der „Vater“- bzw. „Mutterländer“, das sich in ein globales Bündnis anderer bündnisfreier Länder einfügt und sich so aus der Dominanz der Vereinigten Staaten löst, in der Hoffnung, dass diese sich am Ende vielleicht sogar selber bereitfinden werden, sich friedlich als ein Land unter anderen einem weltweiten Bündnis der Bündnisfreien anzuschließen.
Bei diesem Artikel handelt es sich um die Übersetzung eines Abschnitts aus der englischen Fassung von Wolfgang Streeck, Zwischen Globalismus und Demokratie, Berlin: Suhrkamp, 2021, die 2024 bei Verso erscheint.
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