Brüsseler Spitzen

„Glaubt mir, es wird reichen“

| 30. August 2021
Rahulla Torabi

Werden Laschet, Scholz oder Baerbock, wer immer Kanzler wird, die Magie am Leben erhalten können, wenn Deutschlands europäische Peripherie einen weiteren Zahlungsaufschub, weitere billige Kredite braucht?

Es ist Sommer, Brüssel gibt vor, Urlaub zu machen, aber niemand glaubt es: Wolken ziehen auf, kein Silberstreifen in Sicht, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Wälder brennen, es regnet, Flüsse über die Ufer – die „Klimakrise“ ist angekommen, unbestreitbarer denn je. Von den 750 Milliarden im Corona-Recovery-Fond ist noch kein einziger Euro ausgegeben, während die „vierte Welle“ schon unterwegs ist. Zeit für einen fiskalischen booster shot – aber wie ihn bezahlen?

Der französische Krieg in Afrika zieht sich hin, die gescheiterten Staaten Libyen, Syrien, Irak und Libanon scheitern weiter, deutsche Forderungen nach einem europäischen Asylregime, das Deutschland davor schützt, seiner moralischen Rhetorik Taten folgen zu lassen, spalten wie eh und je, der Regimewechsel in Russland lässt auf sich warten, Putin will partout nicht zurücktreten, und jetzt Afghanistan. Aus dem guten Onkel Joe ist der böse Onkel Joe geworden, und ganz Europa ist schockiert: nicht zu glauben, Unilateralismus! In Berlin und London versuchen die Regierungen verzweifelt, nicht erklären zu müssen, warum sie, wenn nicht auf amerikanischen Befehl, zwei Jahrzehnte lang einen sinnlosen Krieg in einem unregierbaren fernen Land geführt haben. Und mitten in der allseitigen Katastrophe wird Angela Merkel, die nicht ernannte, dafür umso effektivere Superpräsidentin der Europäischen Union, die angeblich alles irgendwie zusammengehalten hat, ihr Amt als deutsche Bundeskanzlerin im Herbst verlassen, für immer.

Wird „Europa“ Merkel überleben?

Wird „Europa“, das „europäische Projekt“, wie in der EU verkörpert, Merkel überleben? In der Brüsseler Realpolitik läuft dies auf die Frage hinaus, ob Deutschland auch nach Merkels Abgang seinen Verpflichtungen als EU-europäischer Hegemon weiterhin nachkommt, also weiter zahlen und bürgen wird. Dies kann es auf verschiedene Weise tun, viele davon auf größtmögliche Intransparenz ausgelegt: indem es seine Nettobeiträge zum EU-Haushalt steigen lässt; indem es der Europäischen Zentralbank erlaubt, unter Verstoß gegen die Verträge Staatsfinanzierung zu betreiben; durch Zustimmung zu dem – ebenfalls außerhalb der Verträge schuldenfinanzierten – 750 Milliarden Euro „Corona-Wiederaufbaufonds“; später durch Zustimmung dazu, dass die Schulden durch neue Schulden bedient werden können und die 750 Milliarden, verkauft als einmalige Notfallmaßnahme, zu einem "historischen Durchbruch" in Richtung einer "supranationalen Fiskalkapazität" a la française werden – während, um die Zinsen niedrig zu halten, „den Märkten“ signalisiert wird, dass Deutschland im schlimmsten Fall für „europäische Solidarität“ zur Verfügung steht.

Kann „Europa“ weiterhin auf Deutschland zählen, wenn eine Wahl ansteht, deren Ausgang ungewisser ist als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik? Ende August zeichnete sich ab, dass die nächste Bundesregierung, die erste nach Merkel, eine Koalition aus drei von vier Parteien sein wird: CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP – die AfD ist aus dem Verfassungsbogen ausgeschlossen, die Linke ringt darum, über die Fünf-Prozent-Grenze zu kommen, und beide sind ohnehin innerlich tief gespalten. Welcher der drei Kanzlerkandidaten Kanzler werden wird, der leichtgewichtige Laschet und der solide Scholz eher als die Pop-up-Kandidatin der Grünen, Baerbock, kann niemand vorhersagen. Wer auch immer es sein wird, seine oder ihre Partei wird über nicht mehr als ein Viertel der Parlamentssitze verfügen, und wie immer am Ende eine Dreiparteienregierung aussehen wird, ihr werden mindestens zwei Parteien angehören, die der politischen Orthodoxie der alten Bundesrepublik verpflichtet sind. Kann Zentrismus in einem politischen System tiefer verwurzelt sein?

In Staaten organisierte Nationen entwickeln Vorstellungen von nationalen Interessen, die unter anderem ihre historischen Erfahrungen, geografische Lage und Handlungsmöglichkeiten widerspiegeln. Im politischen Gemeinverständnis eines Landes verankert und von seiner politischen Klasse für selbstverständlich gehalten, ändern sich so definierte nationale Interessen nur langsam. Dies gilt auch im heutigen Deutschland, wo die Vorstellung eines nationalen Interesses als ausländisch gilt und, um artikuliert werden zu können, als allgemeines europäisches oder gar menschliches Interesse verkleidet werden muss.

Im Mittelpunkt dieses so entnationalisierten nationalen Interesses steht der Erhalt der Europäischen Union und insbesondere der Europäischen Währungsunion – letztere zufällig Dauerquelle des deutschen nationalen Wohlstands. Selbst ein ideell und materiell so stark verankertes nationales Interesse wie der deutsche Pro-Europäismus kann jedoch durch veränderte Umstände unter Druck geraten, was kontinuierliche Bemühungen angezeigt erscheinen lässt, den pro-europäischen Konsens am Leben zu erhalten.

Von den vier Parteien, die in unterschiedlichen Dreierkombinationen die nächste deutsche Regierung bilden werden, müssen sich beispielsweise zwei, CDU/CSU und FDP, vor einer neuen rechten Konkurrenz, der AfD, hüten, die eine andere, "nationalistische" Auffassung von dem hat, was gut für das deutsche Volk ist. Dies muss die Mitte-rechts-Parteien zwar nicht „anti-europäisch“ machen, aber es könnte sie zwingen, sich gegenüber künftigen Forderungen nach mehr Europäismus der pekuniären Art weniger entgegenkommend zu verhalten.

Keine schlafenden deutschen Hunde wecken

In diesem Sinne, um keine schlafenden deutschen Hunde aufzuwecken, verzichtet die Europäische Kommission seit einiger Zeit darauf, Informationen über die Nettobeiträge der Mitgliedstaaten zum EU-Haushalt zu veröffentlichen. Dies hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung nicht davon abgehalten, die Zahlen anhand öffentlich zugänglicher Daten selbst auszurechnen. Dabei ergab sich (6. August 2021) für 2020 ein deutscher Nettobeitrag von 26 Milliarden Euro. Auf Deutschland folgten Großbritannien (10,2 Milliarden), Frankreich (8,0 Milliarden) und, erstaunlicherweise, Italien (4,8 Milliarden). Für 2021 liegen noch keine offiziellen Angaben vor; jedoch schätzte die Kommission im Juni 2020, dass der deutsche Beitrag in diesem Jahr um mehr als 40 Prozent steigen würde, brutto um 13 Milliarden auf knapp 40 Milliarden Euro. (Zur Größenordnung: der deutsche Verteidigungshaushalt, von dem weiter unten noch einmal die Rede sein wird, lag 2021 bei 47 Milliarden Euro; 2019, im letzten fiskalischen Jahr vor Corona, machte er 12 Prozent des Bundeshaushalts aus.) Teilweise scheint der Anstieg 2021 auf ein Versprechen des deutschen Finanzministers Scholz aus der Zeit des Brexit zurückzugehen, dass Deutschland die im EU-Haushalt durch den Brexit entstehenden Lücken weitgehend, wenn nicht sogar vollständig schließen wird.

Nun macht der sich abzeichnende Zuwachs des deutschen EU-Beitrags auf den ersten Blick nur einen kleinen Teil der Gesamtausgaben des Bundes aus. Der deutsche Staatshaushalt lässt jedoch wie der anderer Länder nur wenig Spielraum für diskretionäre Ausgaben, schätzungsweise nicht mehr als fünf Prozent der Gesamtausgaben, so dass jede Erhöhung eines Anspruchs in Konkurrenz mit anderen Ansprüchen geraten muss. Dies könnte es zu einem politischen Problem werden lassen, dass die beiden schwarzen Schafe der EU, Polen und Ungarn, mit Nettozuschüssen von 13,2 bzw. 4,8 Milliarden Euro im Jahr 2010 die größten Nutznießer des EU-Haushalts sind. (An zweiter Stelle, noch vor Ungarn, lag das kleine Griechenland mit 5,7 Milliarden – wohl ein Bonus für die Unterzeichnung des Memorandum of Understanding von 2015 sowie für die Ablösung von SYRIZA durch eine ausreichend „pro-europäische“, also pro-kapitalistische Regierung.)

Da die deutsche Öffentlichkeit die EU eher als Bildungseinrichtung denn als wirtschaftliches oder geostrategisches Projekt betrachtet, mit der Aufgabe, Osteuropäern neo-deutsche „Werte“ der liberalen Demokratie mit besonderem Schwerpunkt auf Vielfalt beizubringen, könnte autoritärer Konservatismus in osteuropäischen Mitgliedstaaten die ihnen gewährte fiskalische Unterstützung delegitimieren, insbesondere in Zeiten fiskalischen Drucks, und damit auf das Projekt einer „immer engeren Union“ insgesamt einen Schatten werfen.

In diesem Zusammenhang können die Vertragsverletzungsverfahren hilfreich sein, die die Kommission auf Veranlassung der liberalen Oppositionsparteien Polens und Ungarns und ihrer Verbündeten im EU-Parlament gegen die beiden Länder eingeleitet hat. Verfahren dieser Art können zu einer Kürzung der EU-Subventionen führen, und Kürzungen, die ihrem Land Geld sparen, müssen den sparsamen Deutschen als Erziehungsmethode besonders ansprechend erscheinen. In diesem Zusammenhang könnte freilich auch das gleichzeitig von der Kommission gegen Deutschland eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gesehen werden – dafür, dass das Land sein Verfassungsgericht nicht davon abgehalten hat, auf der Pflicht der deutschen Regierung zu bestehen, dafür zu sorgen, dass europäische Institutionen wie die Europäische Zentralbank die deutsche Souveränität nicht über das hinaus einschränken, was in den Verträgen vorgesehen ist – ein Verfahren, das zuerst von deutschen Grünen-Abgeordneten im EU-Parlament gefordert wurde und ohne wohlwollende Duldung der deutschen Bundesregierung wohl kaum in Gang gesetzt worden wäre.

Ist so viel Vorsicht wirklich geboten? Wie Yannis Varoufakis bekanntermaßen die Welt wissen ließ: „Was immer es sagt oder tut, Deutschland zahlt am Ende immer.“ (Freilich, wie sich herausstellte, nicht für alle.) Dies war jedoch 2015, und obwohl der Geist noch willig sein mag, könnte das Fleisch inzwischen schwach geworden sein: Wille ist das eine, Fähigkeit das andere. Infolge von Corona stieg die deutsche Staatsverschuldung im Jahr 2020 von 60 auf 70 Prozent des BIP und dürfte 2021 in ähnlichem Tempo auf etwa 80 Prozent steigen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Deutschlands nächste Regierung, unabhängig von ihrer Zusammensetzung, in der Lage oder auch nur gewillt wäre, die 2009 in der Verfassung verankerte sogenannte „Schuldenbremse“ abzuschaffen, so dass die Fiskalpolitik auch in den kommenden Jahren enge Grenzen der Neuverschuldung wird beachten müssen. (Allerdings könnten weitere Corona-Wellen, verursacht durch Mutanten oder ganz neue Nachfolger von SARS-Covid-19, zusätzliche Notausgaben rechtfertigen.)

Viel Konkurrenz im Bundeshaushalt

Darüber hinaus galt bereits vor Corona die deutsche öffentliche Infrastruktur – Straßen, Brücken, das Eisenbahnsystem – als im Zerfall begriffen, nicht zuletzt infolge der in den letzten zwei Jahrzehnten selbstauferlegten Austerität mit dem Ziel, anderen Mitgliedstaaten der Währungsunion beizubringen, dass Sparen vor Ausgaben gehen muss. Nun hat Corona dazu noch auf schwere Mängel im Gesundheitswesen, in Pflegeheimen, Schulen und Universitäten aufmerksam gemacht, deren Behebung ebenfalls teuer werden wird.

Und das ist noch nicht alles. Merkels „Energiewende“ wird nach aktuellen Schätzungen bis 2038 44 Milliarden Euro zum Ausgleich der Verluste der Energiewirtschaft und der Kohleregionen kosten, und entsprechend mehr, wenn die nächste Regierung, wie von den Grünen verlangt, den Kohleausstieg vorzieht. Um die durch das Hochwasser vom Juli 2021 angerichteten Schäden zu beheben, musste außerdem ein „Wiederaufbaufonds“ von 30 Milliarden Euro aufgesetzt werden, ebenfalls fällig in den nächsten Jahren. Hinzu kommt, dass die Flut die glücklichen Tage beendet haben dürfte, in denen Klimapolitik sich auf kostengünstige Vereinbarungen über immer frühere – und immer unrealistischere – Termine für die Beendigung der CO-Emissionen beschränken konnte. Statt Symbolpolitik dürften jetzt umfangreiche Investitionen in Dämme und Deiche, in weniger feuergefährdete Wälder, in die Klimatisierung von Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Frischluftkorridore für Städte etc. etc. angesagt sein.

Neben alledem müssen die neuen deutschen Schulden aus den Corona-Jahren bedient werden, während die neuen EU-Schulden ("Next Generation EU") sich schon sehr bald als ein Tropfen auf den heißen Stein erweisen könnten. In Brüssel und den Mittelmeer-Mitgliedstaaten würde dies zu Forderungen nach einer weiteren Next Generation-Schuldenwelle führen, abgesichert durch wie immer indirekte deutsche Zusagen, im Bedarfsfall als Schuldner letzter Instanz einzuspringen.

Und nicht vergessen werden sollte, dass alle „verantwortlichen“ politischen Parteien versprochen haben, dass Deutschland seinen „Verteidigungs“-Haushalt in den kommenden Jahren auf zwei Prozent des Sozialprodukts erhöhen wird, also überschlägig um nicht weniger als ein Drittel auf rund 60 Milliarden pro Jahr – auf Verlangen sowohl der Vereinigten Staaten, damit Deutschland in deren Namen Russland in Schach halten kann, als auch von Frankreich, damit es ihm in seinen Sahelkriegen zur Seite stehen kann. Als Teil davon oder zusätzlich musste Frankreich ein französisch-deutsches Kampfflugzeugsystem, das FCAS, versprochen werden, das nach realistischen Schätzungen in den nächsten zehn Jahren rund 300 Milliarden Euro kosten wird – ein Projekt gegen den Willen des deutschen Militärs, das der Ansicht ist, dass es sich bei ihm einfach um die Umgestaltung eines bestehenden, aber schwer zu exportierenden französischen Systems mit deutschem Geld handelt. Viel Konkurrenz um das wenige frei verfügbare Geld im Bundeshaushalt. Werden die deutschen Steuerzahler für all das einstehen?

Die kollektiven Kosten des Kapitalismus

Vielleicht ist diese Frage jedoch falsch gestellt, und es geht gar nicht mehr darum, wie man das Notwendige bezahlt, sondern darum, was zu tun ist, wenn das Notwendige zu teuer geworden ist, um jemals bezahlt werden zu können. Ausgangshypothese könnte sein, dass die kollektiven Kosten des Kapitalismus inzwischen ein für alle Mal das überstiegen haben, was eine Gesellschaft zu deren Deckung aus ihm herausholen kann – Kosten des sozialen Friedens, der Ausbildung geduldiger Arbeiter und zufriedener Verbraucher, der Vor und Nachbereitung der Mehrwertsproduktion, der Ausdehnung und Verteidigung von Märkten und Eigentumsrechten in fernen Ländern usw. usw.

Das Ergebnis wäre, und scheint tatsächlich zu sein, eine gigantische „Finanzkrise des Staates“ (Jim O’Connor), widergespiegelt in dem stetigen Anstieg und der hartnäckigen Klebrigkeit der Staatsverschuldung über Jahrzehnte hinweg, ermöglicht von Staaten unter fiskalischem Druck, die keinen anderen Ausweg wussten und wissen, als es der Finanzindustrie zu ermöglichen, unendliche Mengen an Fiat-Geld zu schaffen und in attraktive "Produkte" zu verpacken. Indem sie bei ihr Kredit aufnehmen, können Staaten, solange sie Kredit haben, dem Kapitalismus eine Zukunft kaufen, indem sie großzügig Ansprüche auf immer längere Einkommensströme für diejenigen schaffen, die genug Geld besitzen, um es zu verleihen, Ansprüche, die auf ihre Kinder und Enkelkinder übertragbar sind. Abgesichert sind diese durch ebenso großzügig geschaffene Verpflichtungen für kommende Generationen derer, die kein Geld haben, härter und länger zu arbeiten, um die gegenüber dem Kapital in ihrem Namen eingegangenen kollektiven Schulden abzubezahlen.

Wenn die Schulden schneller wachsen als der Kapitalismus, wird das Regieren kapitalistischer politischer Ökonomien zu einem Vertrauensspiel a la Ponzi. Unsterbliches Motto ist Mario Draghis „Glaubt mir, es wird reichen“ (Believe me, it will be enough), ursprünglich adressiert an ein Publikum, in dem jeder ein Interesse hatte, nicht zu bemerken und schon gar nicht laut zu sagen, dass die Kleider des Kaisers längst im Pfandhaus gelandet sind – allein schon, weil ihnen das Pfandhaus gehört. In der Innenpolitik der Europäischen Union im Besonderen erfolgt die Zukunftssicherung des Kapitalismus mithilfe „fiktiven Kapitals“ (Cédric Durand) in Form eines zweistufigen Signalspiels: Regierungen im Zentrum signalisieren Regierungen an der Peripherie, dass sie noch Reserven haben, reale oder glaubwürdig geglaubte, die sie irgendwann mit ihnen teilen werden – Signale, die die Regierungen der Peripherieländer dann an ihre Wähler weitergeben, um Hoffnungen auf mehr als nur symbolische „europäische Solidarität“ wachzuhalten, welche freilich angesichts des Ausbleibens derselben schon bald durch eine weitere Injektion von Versprechungen aufgefrischt werden müssen.

Dieses Spiel beherrschen nicht alle gleich gut, und man kann vermuten, dass Angela Merkel unter anderem deshalb so wichtig für EU-Europa wurde, weil sie über eine erstaunliche Fähigkeit verfügt, glaubwürdig das Unglaubwürdige zu versprechen, in souveräner Missachtung von inhaltlichen Konsistenzbedürfnissen unvereinbare Verpflichtungen einzugehen und glauben zu machen, dass sie diese irgendwie in einer ungewissen Zukunft wird miteinander vereinbar machen können.

Zugegebenermaßen wurde Merkel dabei von einer "pro-europäischen" politischen Klasse geholfen, die keine Alternative sieht, als darauf zu vertrauen, dass die deutsche Zauberin es schaffen wird, künftige Tage der Abrechnung bis zum Ende, wenn nicht aller Zeiten, dann wenigstens ihrer Amtszeit zu verschieben. Irgendwo in ihrem Hinterkopf mögen sie vielleicht auch gedacht oder gehofft haben, dass die dafür benötigten Ressourcen tatsächlich irgendwo vorhanden sind, vielleicht im Keller der Bundesbank, und dass sie mit geschicktem Verhandeln und mehr politisch-moralischem Druck am Ende ans Tageslicht gebracht werden könnten. Aber auch abgesehen davon schienen sie dankbar, Merkels Leistung als Ponzi-Artistin der politischen Begierde, Meisterin des Optimismus des Wunsches, Emittentin von Fiat-Vertrauen, wenn nicht Fiat-Geld, Virtuosin des belohnenden Zahlungsaufschubs und unangefochtene Europameisterin in der Disziplin, unabdingbar in Zeiten fiskalischer Überforderung, der politischen Hochstapelei – eine Disziplin, in der ihre Bewunderer angesichts ihrer eigenen Krisen unterfinanzierter Staatlichkeit nicht genug dazulernen können.

Werden Laschet, Scholz oder Baerbock, wer immer es wird, die Magie am Leben erhalten können, wenn Deutschlands europäische Peripherie einen weiteren Zahlungsaufschub, weitere billige Kredite braucht – etwa wenn die Zinsen auf ihre Staatsschulden trotz größter Bemühungen der Europäischen Zentralbank steigen sollten? Im Sommer 2021 scheint dies durchaus zweifelhaft.