Makroskop
Editorial

Denk’ ich an Deutschland

| 09. Oktober 2025
Florian Kurrasch / Unsplash

Liebe Leserinnen und Leser,

„Denk’ ich an Deutschland in der Nacht…“ dichtete Heinrich Heine 1851 in tiefer Sorge, vielleicht sogar Angst über die politische Lage seiner Zeit: Zensur, Unterdrückung, fehlende Freiheit. Es ist eine kritische und melancholische Klage über die Zustände in seiner Heimat. Das Gedicht hat sich zu einem ikonischen Ausdruck deutscher politischer Selbstkritik entwickelt.

175 Jahre später sind seine Worte wieder erschreckend aktuell. Auch heute gibt es genug Gründe, um den Schlaf gebracht zu werden: die wachsende Entfremdung zwischen Politik und Bevölkerung, die Erosion des Vertrauens in demokratische Institutionen oder der Aufstieg einer Partei, die längst nicht mehr nur aus Frust gewählt wird. Vor allem im Osten der Republik hat sich die AfD von der „Anti“-Bewegung zur Volkspartei und für viele Menschen zur echten politischen Alternative entwickelt.

Wie konnte es so weit kommen? In dieser Ausgabe beleuchten zwei Texte die Ursachen mit außerordentlicher Tiefe. Heinrich Röder („Wacht endlich auf“) sieht die Antwort nicht in den üblichen Erklärungsmustern, die vor allem links der Mitte kursieren. Der Aufstieg der AfD ist kein Kommunikationsproblem, kein Produkt der sozialen Medien und auch kein Ausdruck eines neuen Faschismus – sondern das Ergebnis einer Politik, die gesellschaftliche Konflikte lieber moralisierend einhegt, statt sie politisch auszutragen.

Wo politische Selbstkritik fehlt, wo berechtigte Sorgen reflexhaft als „rechts“ abgetan werden, gedeihen genau jene Kräfte, die von diesem Ausschluss leben. Empörung ersetzt Analyse – und der moralische Gestus tritt an die Stelle politischer Lösungen. Während die einen „Haltung“ zeigen, entsteht dahinter ein Vakuum, in dem populistische Deutungen gedeihen können, weil niemand mehr die unbequemen Fragen stellen will.

Etwa „die soziale Frage“: Ralph Gehrke erinnert daran, dass die selbsternannten „Demokraten“ die ökonomische Realität vieler schlicht aus dem Blick verloren haben. Beispiel Klimapolitik: Die Transformation ist für viele vor allem eines – teuer. Während gutverdienende Städter ihre Heizung tauschen und teure Elektroautos leasen, müssen andere mit steigenden Energiepreisen und sinkender Kaufkraft leben.

Klimapolitik wird zur sozialen Trennlinie. Wer mit Mitte 40 kaum die Miete und Energiekosten zahlen kann, während die Regierung über CO2-Steuern und Verbrenner-Aus debattiert, bekommt den Eindruck, dass „die da oben“ sich eine grüne Moral leisten, während „die da unten“ sie bezahlen. Und der
sieht in der AfD vielleicht kein Übel mehr, sondern nackte Notwehr.

Die Perspektiven von Röder und Gehrke zeigen, dass der Vertrauensverlust in die Demokratie sowohl kulturelle, soziale als auch wirtschaftliche Wurzeln hat. Die Lehre daraus mag unbequem sein, ist aber dringend notwendig: Eine funktionierende Demokratie braucht nicht mehr „Demos gegen Rechts“, sondern Parteien, die sich endlich den drängenden politischen Fragen stellen – und Klimaschutz, Migration, soziale Gerechtigkeit und ökonomische Vernunft zusammendenken.

Dann wäre das Aufwachen kein Schreckmoment, sondern ein Neubeginn.