Sanktionen gegen Russland

Sanktionen: Lehrstück in Lernresistenz

| 18. Oktober 2022
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Deutschland ist federführend bei der Sanktionspolitik der EU gegen Russland. Doch gerade am Sachverstand des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz lässt sich zweifeln: Hätte es nicht bessere Lösungen als Lieferboykotte gegeben?

Die große amerikanische Historikerin Barbara Tuchmann hat vor Jahren ein Buch geschrieben mit dem schönen Titel ‚Die Torheit der Regierenden‘.[1] Anhand einiger bedeutungsvollen Beispiele – der Untergang Trojas, die erfolgreiche Abspaltung des Protestantismus, die Trennung Neu-Englands vom Mutterland, der von den USA verlorene Vietnam-Krieg – zeigte sie darin auf, wie die Verbohrtheit von Königen, Päpsten und auch demokratischen Regierungen zu politischen Katastrophen führten. Jeweils zu Ereignissen, die nicht unvermeidbar gewesen wären, wenn die Regierenden denn Einsicht in die Motive ihrer Gegenüber gehabt, dazu Kompromissbereitschaft gezeigt und auf Warnende gehört hätten. Wird man künftig vielleicht auch das Sanktionsregime von Deutschland und der Europäischen Union gegen Russland zu solchen Torheiten zählen?

Zur Erinnerung: Nach der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 hat die EU zahlreiche Runden an Sanktionen beschlossen. Besonders gravierend sind sie im Bereich der Energieversorgung. So hat die Union seit dem August 2022 keine Kohle mehr aus Russland importiert (5. Sanktionspaket) und wird mit wenigen Ausnahmen ab dem Dezember 2022 auf dem Seeweg kein Erdöl mehr von Russland beziehen (6. Sanktionspaket).

Deutschland setzte noch einiges drauf. Statt wie die Slowakei, Tschechien und Ungarn wenigstens erfolgreich für seine Lieferungen durch die Druschba-Pipeline auf eine Sonderreglung von den Sanktionen zu drängen, riskierte es lieber den Weiterbetrieb der davon bisher abhängigen Erdöl-Raffinerie in Schwedt. Und bei Gasimporten war man schon vorher willfährig. Während das Bundeswirtschaftsministerium der alten Großen Koalition noch den Mut hatte, US-Sanktionen gegenüber North Stream 2 als „völkerrechtswidrig“ zu benennen, knickte die Ampel dagegen gleich ein. Schon vor der formalen Amtseinführung wurde im November 2021 von deutscher Seite aus die Zertifizierung von North Stream 2 ausgesetzt und im Februar 2022 dann endgültig auf Eis gelegt. Zugleich wurden die Gasspeicher bevorzugt und zu erheblich höheren Preisen mit Gas von anderen Lieferanten gefüllt.

Und dann wunderte man sich in Berlin, dass es Reaktionen gab. Eine davon kam aus Russland, das die Lieferungen durch North Stream 1 verknappte, offiziell wegen technischer Probleme, verursacht unter anderem durch die westlichen Sanktionen, die auch Ersatzteile betrafen. Und nicht ohne darauf hinzuweisen, dass mit North Stream 2 ja eine (damals noch) völlig funktionsfähige Parallelroute vorläge. Und auch die Märkte reagierten. Und zwar ganz vorhersehbar. Wenn ein Gut (hier Gas) mit einem relativ unelastischen Angebot zu einem großen Teil leitungsgebunden geliefert wird, und dieser Lieferanteil aus politischen Gründen plötzlich weitgehend ausfällt, die kaufkräftige Nachfrage sich aber wenig verändert, wird der Preis der verbleibenden Menge dauerhaft und merklich ansteigen.

Der hohe Anteil leitungsgebundener Lieferungen macht auch den Unterschied zu den beiden anderen großen Rohstoffen, die durch den Ukraine-Krieg beeinflusst waren: Erdöl und Weizen. Beide erlebten wie auch Gas zunächst einen starken Weltmarkt-Preisanstieg zu Kriegsbeginn, weil solche perspektivischen Unsicherheiten immer zu so etwas führen, fielen dann aber wieder ab, nicht zuletzt wegen der abgekühlten chinesischen Konjunktur.

Haben die Ministerien nicht genug Sachverstand?

Der erwartbare und sich oben festsetzende Preisanstieg bei Gas auf dem Weltmarkt ist eigentlich ökonomische Basiseinschätzung. Man fragt sich, warum die Bundesregierung das so wenig auf dem Zeiger hatte. Erst wollte sie eine Gasumlage, die Verbraucher noch mehr belastet hätte ohne zugleich außer der Mehrwertsteuersenkung ein substantielles Gegengewicht an Entlastungen vorzusehen. Und dann, als diese nach Protesten in buchstäblich letzter Minute abgeräumt wurde, fiel ihr nichts Besseres ein als Mitte September eine etwa 20köpfige Expertenkommission einzusetzen, die schon wenige Wochen später Vorschläge für eine diesbezügliche Subventionspolitik machen soll. Selbst deren Vorsitzende findet:

„Die Entscheidung zur Einberufung eines solchen Gremiums hätte schon vor ein paar Monaten fallen können, die Entwicklung bei den Gaspreisen war schließlich absehbar.“

Aber man kann noch grundsätzlicher fragen: haben die Ministerien für Wirtschaft und Klima, für Finanzen und für Arbeit und Soziales kombiniert nicht genug Sachverstand, um die angesagten 200 Milliarden Euro möglichst intelligent einzusetzen? Gerade Rot-Grün als Ampel-Kern sollten doch gebrannte Kinder bei sogenannten Expertenkommissionen sein. Die Hartz-Kommission und ihre politischen Nachwirkungen sind schließlich noch nicht so lange her.

Generell lässt sich am Sachverstand vor allem des federführenden Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz zweifeln. Hätte es nicht bessere Lösungen als Lieferboykotte gegeben? Nicht wenige Ökonomen haben von Anfang an ihre Bedenken gegenüber dieser Art der Sanktionspolitik zu Protokoll gegeben. Dabei war durchaus als Ausgangslage akzeptiert, dass die EU ihren Protest gegenüber Russland nicht nur durch Erklärungen, sondern auch durch Taten dokumentieren will, aber zugleich gesehen, dass die Änderung technologischer Pfadabhängigkeit Zeit braucht.

Zölle statt Boykotte

Die Lösung für ein solches Dilemma ist deshalb an Preisen statt an Mengen anzusetzen. Also Zölle auf russische Einfuhren zu erheben statt rabiat Bezüge zu kappen. Dafür haben sich etwa im Juni das Kieler Institut für Weltwirtschaft,  im Juli das ifo-institut oder schon im März der Autor dieser Zeilen ausgesprochen. Denn bereits kurz nach Kriegsbeginn im Februar wurde mit großer moralischer Emphase zum Beispiel von der CDU gefordert, doch einfach mal den Gasbezug aus Russland sofort zu stoppen, koste es was es wolle. Und ökonomisch vernünftig, wenn auch politisch sicher nur gegen viel internationale Widerstände, wäre es seitens der Bundesregierung natürlich auch gewesen, dazu noch North Stream 2 in Betrieb zu nehmen, die sich technisch von North Stream 1 ja in nichts unterscheidet. Bis heute bietet Russland übrigens weiter an, über den nach den Explosionen verbleibenden Strang Gas nach Deutschland zu liefern.

Zölle statt Boykotte haben gleich mehrere Vorteile. Erstens machen sie Importe zwar teuer, aber im Prinzip weiter möglich. Harte Maßnahmen, die jetzt anstehen könnten, wie etwa die Abschaltung von Produktionsanlagen oder andere Rationierungen im Winter, hätte man so vermutlich verhindern können.

Zweitens sind Zölle flexibel. Sie können jederzeit erhöht oder gesenkt werden, wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen. Dazu lässt sich damit sehr schön eine verhaltensbestimmende Langfristigkeit verbinden, also die Ansage, zum Beispiel heute 20%, nächstes Jahr aber schon 25%, danach 30% etc.

Drittens sinkt dadurch der Druck auf den Weltmarktpreis zulasten der Produzentenländer. Durch die Embargopolitik konnte Russland dagegen bisher zwar weniger Menge absetzen, aber trotzdem seine Einnahmen erheblich steigern. Dieser Rebound-Effekt war durchaus absehbar. Wenn finanzstarke europäische Länder wegen des bevorstehenden Winters auf die panische Jagd nach allen nicht durch langfristige Verträge gebundenen Gas- und Öl-Lieferungen gehen, werden die Märkte darauf mit heftigen Aufschlägen reagieren. Und das hilft natürlich auch dem bei Öl und Gas weltweit zweitstärksten Produzenten Russland.[2]

Viertens schließlich können die Zolleinnahmen national oder europäisch für die zielgerichtete Kompensation aufgrund steigender Energiepreise verwandt werden, statt in den Taschen der Unternehmen in den Ländern der Produzenten zu verschwinden. Aber trotz dieser relativen Vorteile haben sich die EU und Deutschland von Anbeginn stattdessen auf Mengenreduktionen geeinigt. Und vermutlich ist diese Entscheidung auch nicht mehr revidierbar. Der öffentliche Diskurs hat sich in einer Weise in Schützengräben verbarrikadiert, dass jede Veränderung jenseits von ‚Mehr-vom-Gleichen‘ nur als unverantwortliches und ethisch verabscheuenswürdiges Nachgeben gegenüber Russland interpretiert wird.

Irrationale Beharrlichkeit

Stattdessen ist man in der EU mit der stetigen Verschärfung des Sanktionsregimes beschäftigt. In der Psychologie wird das als ‚Sunk-Cost-Effekt‘ (oder auch treffender als ‚irrationale Beharrlichkeit‘) diskutiert. Je mehr ökonomische und/oder psychische Ressourcen vergebens investiert werden, desto größer wird der Widerstand, diese Verluste als endgültig anzuerkennen. Sondern es wird als ‚Noch zu wenig‘ umgedeutet und die schon bis dato wenig fruchtbaren Anstrengungen werden weiter gesteigert.

Typisch für diese Umdeutung ist die Aussage der Europäischen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang Oktober bei der Vorstellung des 8. Sanktionspakets: „Man sei entschlossen, den Kreml weiter zur Kasse zu bitten.“ Eine solche Deutung von ‚weiter zur Kasse zu bitten‘ dürfte in Moskau mit seiner durch die bisherigen Sanktionen erzeugten Einnahmesteigerung wohl einiges Amüsement hervorrufen.

Als Sanktionsverschärfung diskutiert man in Europa bei Gas eine einseitig auszurufende Preisobergrenze gegenüber russischen Lieferungen und bei Erdöl ist sie zumindest auf G7-Ebene seit dem Sommer eigentlich schon beschlossene Sache. Die EU hat mit dem neuesten, dem 8. Sanktionspaket, bereits die rechtliche Grundlage dazu gelegt. Es beruht auf der Idee, dass man diese Produkte nur zu einem Preis erwirbt, der knapp über den russischen Produktionskosten liegt (genannt werden im Fall von Erdöl Preise im Bereich von 60 Dollar pro Barrel). Das Kalkül ist, mit dem darin zugestandenen Kleingewinn hätte Russland ja den Anreiz, weiter zu liefern.

So denken Ökonomen gerne – darunter wohl auch die US-amerikanische Finanzministerin Janet Yellen, die Erfinderin dieser Maßnahme. Aber wenn sie sich damit mal nicht furchtbar täuschen. Sozialwissenschaftler haben dazu schon lange experimentelle Untersuchungen gemacht und deren Ergebnisse in der Folge auch viel diskutiert.[3] Zum Beispiel wurden Personen aus verschiedenen Gruppen vor diese Entscheidung gestellt: man bekommt eine gewisse Summe Geldes, etwa 10 Dollar. Aber man muss einen Teil davon an jemand der Versuchsperson Unbekanntes abgeben. Und erst wenn diese andere Person die Aufteilung annimmt, wird die Summe ausgezahlt, andernfalls verfällt sie. Wieviel also bietet man an?

Die übliche ökonomische Theorie sagt voraus, dass man nur die Mindestsumme (hier 1 Cent) offerieren soll, denn das wäre für die Empfänger ja immer noch besser als die Ausgangslage von 0 Cent. Und man selbst maximierte mit den verbleibenden 9,99 Dollar seinen Gewinn. Tatsächlich haben viele Ökonomiestudenten im Experiment genauso gehandelt. Für sie dumm war nur, dass die Gegenüber das meist nicht so sahen, sondern das Gebot der Fairness verletzt, und einfach ablehnten, so dass niemand etwas bekam. Es ist wahrscheinlich, dass das auch diesmal so kommt. Wladimir Putin hat jedenfalls schon angekündigt, Länder mit einer Preisobergrenze einfach nicht mehr zu beliefern.

Preisobergrenzen oder: Statisches Denken

Technisch sollte eine Preisobergrenze so umgesetzt werden: bestimmte Dienstleistungen – also Transport durch Tanker, deren Zertifizierung und Versicherungen – dürfen dann nicht mehr seitens europäischer und anderer G7-Staaten durchgeführt werden, wenn diese Preisobergrenzen nicht eingehalten werden. Das ist schönstes statisches Denken (und man sieht sofort vor dem inneren Auge die in Gleichgewichts-Modellen trainierten Ökonomen).

Weil ein nicht unbedeutender Teil der russischen Öl-Lieferungen durch in Griechenland registrierte Schiffe transportiert und bisher vor allem von Londoner Versicherungen gegen Unfälle abgesichert wird, glaubt man, hier einen wirksamen Hebel zu haben. Absehbar aber ist, dass bei einer Preisobergrenze griechische Tanker künftig saudisches Öl fahren und die in Panama, Liberia, China registrierten Schiffe dafür russische Fracht aufnehmen. Und Dienstleistungen wie Versicherungen sind nun wirklich nicht allzu schwer substituierbar.

Indien und China jedenfalls haben schon Policen der staatlichen Russian National Reinsurance Company akzeptiert. Diese Länder – und nicht nur sie – werden sich überhaupt bedanken, dass ‚der Westen‘ sie wieder einmal zu bestimmten politischen Positionen zwingen will. Aber die Zeit erfolgreicher hegemonialer Politik dürfte endgültig vorbei sein und Versuche mit einer für alle Länder – ob nun willig oder nicht – geltend sollenden Preisgrenze für russische Produkte beschleunigen den Prozess der Abkopplung nur.

Selbst wenn es damit gelingt, einige russische Lieferungen so zu stoppen, der zu erwartende Rebound-Effekt dürfte das wieder (über-)kompensieren. Für die EU, die viel mehr als die energieautarke USA hiervon betroffen wäre, könnten die Folgen dagegen dramatisch sein.

Im Moment notiert Öl bei der Referenzmarke Brent um die 90 Dollar pro Barrel. Ein Lieferstopp Russlands bei der Einführung der Preisobergrenze führte 2023 zu einem Preissprung auf 125 Dollar, so schätzt jedenfalls Goldmann Sachs. Und JP Morgan hält es sogar für möglich, dass Russland relativ problemlos seine Produktion um 5 Millionen Barrel pro Tag reduzieren könnte. Mit der Folge eines Anstiegs des Preises auf bis zu 380 Dollar pro Barrel.

Da hilft dann auch kürzer Duschen und vermehrter Waschlappen-Gebrauch nicht mehr viel, sondern es heißt dann: Welcome to the politics of disaster!

Zustimmung zum Sanktionsregime wackelt

Schon jetzt scheinen die Bürger Deutschlands von der Nützlichkeit des Sanktions-Regimes nicht zu sehr überzeugt zu sein. Schon im Juli 2022 meinten 47%, sie schadeten Deutschland mehr als Russland, nur 12% sahen es umgekehrt, und 36% fanden, dass beide Länder gleich getroffen werden. Und Mitte September fanden sich laut einer Forsa-Umfrage schon 55% nicht mehr bereit, weitere finanzielle Nachteile aufgrund der Sanktionen in Kauf zu nehmen, eine Zunahme um 8% in nur einem Monat. Es soll nicht verschwiegen werden, dass dagegen etwa zur gleichen Zeit das Civey-Institut ermittelt hat, dass 53% auch bei Einbußen weiter die Sanktionen mittragen wollten.

Aber so oder so, ob etwas über oder unter 50% – nur noch ungefähr die Hälfte der deutschen Bevölkerung findet die bisherige Sanktionspolitik in ihrem Interesse. Und demnächst droht die Preisgrenze bei Erdöl, immer drängender gefordert von den USA. Die Vereinigten Staaten als großes Energie-Produzentenland muss deren Folgen nicht so fürchten, sondern könnten sogar der große Gewinner sein. Joe Biden lässt bereits prüfen, ob man nicht ein zeitweises Ausfuhrverbot für amerikanisches Öl einführen sollte, ein schon früher erprobtes Mittel. Das wäre doch mal eine gelungene Volte unseres militärischen Hauptverbündeten, aber auch wirtschaftlichen Großkonkurrenten.

Draußen hat man dafür gesorgt, dass die Preise explodieren, man selber wäre aber im ‚gelobten Land‘ im Verbrauch abgeschirmt. Vielleicht ist die amerikanische Finanzministerin und als Ökonomin eigentlich gut beleumdete Janet Yellen doch überlegter als es zunächst den Anschein hatte? Und setzt ganz bewusst auf die angeblich von Winston Churchill stammende Maxime: Never waste a good crisis!

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[1] Barbara Tuchman, Die Torheit der Regierenden,  1984.
[2] BP, Statistical Review of World Energy 2022, London 2022.
[3] Robert H Frank, Thomas Gilovich, and Dennis T Regan, Does studying economics inhibit cooperation?, Journal of Economic Perspectives 7, No. 2, 1993, S. 159-71.