INTERNATIONALE POLITIK – 13

Monopoly ohne Grenzen

| 08. November 2023
@midjourney

Der Ordoliberale Lars Feld lehnt das Lieferkettengesetz mit der Begründung ab, die Verantwortung für Menschenrechte liege in der Souveränität von Staaten. Dabei übergeht er, was Iris Marion Young als strukturelle Ungerechtigkeit und partizipatorische Verantwortung anmahnt.

In den letzten drei Artikeln hat Sophie Lukas eine Einführung in verschiedene Positionen zur globalen Gerechtigkeit gegeben.

"Die amerikanische Philosophin Iris Marion Young, die an der University of Chicago lehrte, hat sich neben globaler Gerechtigkeit auch sehr mit Demokratie, der Rolle der Frau in der Gesellschaft und sozialer Unterdrückung beschäftigt. Bei ihrem Ansatz zur globalen Gerechtigkeit betont sie die politische und ökonomische Verflochtenheit der globalen Welt. Aus ihrer Sicht ist es nicht mehr möglich, Nationen isoliert von anderen zu betrachten. Um die heutige Situation zu beschreiben, hat sie die Begriffe strukturelle Ungerechtigkeit und partizipatorische Verantwortung geprägt.

„Klingt sehr akademisch. Erkläre sie mir an einem anschaulichen Beispiel.“

„Wie wäre es damit: Kennst du das Spiel Monopoly?“  

„Schon mal gespielt, ist aber schon lange her.“

„Monopoly ist ein Brettspiel, bei dem sich alle Spieler in einer Stadt befinden. In dieser Stadt kann jeder Spieler Straßen kaufen, auf die er dann Häuser oder Hotels bauen kann. Wenn ein anderer Spieler mit seiner Figur in deine Straße kommt, muss er Miete bezahlen. Mit den Mieteinnahmen kannst du dann neue Straßen oder Häuser kaufen, um noch mehr Mieteinnahmen zu bekommen. Der reichste Spieler gewinnt. Das ist im Großen und Ganzen schon alles.“

„Klingt ziemlich kapitalistisch.“

„Es gilt als das Kapitalismus-Spiel schlechthin, aber um Kapitalismus geht es hier erst mal noch nicht. Man könnte auch ganz andere Situationen wählen. Jetzt müssen wir uns fragen, wie Monopoly meistens verläuft.“

„Einer besitzt am Ende alles und die anderen nichts mehr.“

„Richtig. In dem Spiel gewinnt irgendwann einer einen entscheidenden Vorteil, er hat zum Beispiel mehr Straßen als die anderen. Deshalb hat er auch mehr Mieteinnahmen als die anderen. Diesen Vorteil kann er jetzt immer weiter ausbauen und immer mehr Straßen kaufen, wodurch er immer mehr Mieteinnahmen bekommt usw. Die anderen sind irgendwann pleite und müssen ihre Straßen und Häuser verkaufen, bis sie nichts mehr besitzen. Angenommen, das würde in der Wirklichkeit stattfinden. Einer würde reich werden und die anderen arm. Wer ist jetzt für die Armut verantwortlich? Der Reiche oder die Armen?“

„Vielleicht keiner von beiden, sondern die Spielregeln.“

„Das ist hier der entscheidende Punkt. Wenn ein Spieler einen bestimmten Vorteil erreicht hat, können die anderen Spieler sich so anstrengen wie sie wollen, die Spielregeln machen es ihnen praktisch unmöglich ihren Abstieg aufzuhalten. Dieser Vorteil entsteht auch dann, wenn alle gleich gut spielen. Wer die Nase vorne hat, entscheidet dann allein der Würfel. Die Ungleichheit entsteht also nicht dadurch, dass die einen gemeine Sklavenhalter oder die anderen faul sind, sondern durch etwas Abstraktes, die Spielregeln. Das würde Iris Marion Young als strukturelle Ungerechtigkeit bezeichnen.“

„Aber sind denn nicht diejenigen, die die Spielregeln entworfen haben, verantwortlich für die Ungerechtigkeit?“

„Nicht unbedingt. Angenommen, das Spiel wäre Wirklichkeit und es würden nicht nur sechs, sondern Millionen Spieler teilnehmen. Die Spielregeln wären nicht von Anfang an dagewesen, sondern hätten sich im Laufe des Spieles erst entwickelt. Tausende Menschen hätten zu der Entstehung dieser Spielregeln beigetragen. Es könnte sein, dass die negativen Folgen gar nicht vorhersehbar waren. Es könnte sogar sein, dass es gar nicht möglich ist, Spielregeln zu entwerfen, die keinen benachteiligen. Wer ist dann für die ungerechte Gesellschaft verantwortlich?“

„Keiner. Keiner ist schuld! Klingt nach einer Generalamnestie für unverantwortliche Politiker. Iris Marion Young ist bei ihnen bestimmt sehr beliebt.“

„Das glaube ich nicht. Erstens würde sie nicht bestreiten, dass es unverantwortliche politische Entscheidungen gibt, deren Folgen absehbar sind. Wenn man aber keinen Verantwortlichen ausmachen kann, bedeutet das zweitens auch nicht, dass niemand die Verantwortung hat, die Ungerechtigkeit zu beseitigen. Jetzt stellt sich die entscheidende Frage: Wer hat die Verantwortung die Ungerechtigkeit zu beseitigen?“

„Wenn niemand für ihre Entstehung verantwortlich war? Schwierig.“

„Stelle dir vor, in einem Land gibt es ein neues Gesetz. Das Gesetz wurde mit dem besten Wissen und den besten Absichten von der gesamten Bevölkerung verabschiedet. Doch im Laufe der Zeit stellt sich heraus, dass dieses Gesetz dazu führt, dass die eine Hälfte immer reicher wird und die andere Hälfte immer ärmer. Eine Art Monopoly-Gesetz, das eine strukturelle Ungerechtigkeit zur Folge hat. Nach zwanzig Jahren ist die ärmere Hälfte so verarmt, dass ihre Lebenserwartung fünfzehn Jahre niedriger ist als die der reichen Hälfte. Könnte man nach zwanzig Jahren sagen, dass niemand die Verantwortung hatte, diese negative Entwicklung aufzuhalten und die Ungerechtigkeit zu beseitigen?“

„Natürlich nicht.“

„Die Verantwortung entsteht daraus, dass die Bevölkerung mit diesem Gesetz lebt. Die reichere Hälfte profitiert von dem Gesetz. Sie nimmt das Gesetz nicht nur billigend in Kauf, sondern verschafft ihm durch ihr tagtägliches Verhalten Geltung. Das nennt Iris Marion Young partizipatorische Verantwortung. Es ist eine Verantwortung, die daraus entsteht, dass man durch sein Handeln an struktureller Ungerechtigkeit teilnimmt.“

„Verständlich. Aber deine Beispiele handeln immer von Ungerechtigkeiten innerhalb von Staaten, nicht von globaler Ungerechtigkeit. Gilt denn diese partizipatorische Verantwortung für Young auch global?“

„Oh ja! Young verdeutlicht dies am Beispiel der Textilindustrie. Die Textilindustrie, die Kleider für den Markt in den reichen Industrieländern herstellen, besteht aus einer sehr großen Zahl an Akteuren. Zu ihnen gehören die Konsumenten, die bekannten Kleidungskonzerne, große und kleinere Zwischenhändler, große Fabriken und kleine Manufakturen bis hin zu Arbeitern, die Kleider in Heimarbeit herstellen. Die Arbeit findet sehr oft in ausbeuterischen Verhältnissen statt. Die Arbeiter verdienen sehr wenig Geld, können jederzeit gefeuert werden, haben sehr lange Arbeitstage mit wenigen Pausen und sind an ihrem Arbeitsplatz erheblichen Risiken für ihre Gesundheit ausgesetzt.

Diese ausbeuterischen Verhältnisse existieren nicht auf einem anderen Planeten oder in einem Staat, der völlig von der Außenwelt abgeschottet ist. Die reichen Industrieländer sind mit der Ausbeutung vielmehr auf vielfältige Weise verbunden: durch die internationalen Institutionen, durch die Handelsbeziehungen der Konzerne, die Profite, die sie erwirtschaften und nicht zuletzt durch die Tatsache, dass die Textilien, die eine arme Arbeiterin genäht hat, in unseren Kleiderschränken landen. Viele von uns nehmen also an der internationalen strukturellen Ungerechtigkeit teil und tragen für Young deshalb eine partizipatorische Verantwortung.“

„Das Problem ist bekannt. Wir sollen also solche Kleidungsstücke nicht mehr kaufen.“

„Diese Antwort wäre für Young zu einfach. Es ist keineswegs ausgemacht, dass wir, wenn wir solche Kleidungsstücke nicht mehr kaufen, an der strukturellen Ungerechtigkeit nicht mehr teilnehmen. Die heutige Wirtschaft ist ein System, in dem alle auf vielfältige Weise mit anderen verbunden sind. Jemand, der mit Ausbeuterbetrieben Profite erwirtschaftet hat, könnte damit ein teures Auto kaufen, wovon der Autoverkäufer profitiert, der damit etwas kauft, wovon wiederum jemand profitiert usw. Es könnte sein, dass das Problem internationale Handelsgesetze sind, die auch in anderen Bereichen wie der Lebensmittelindustrie zu ausbeuterischen Verhältnissen führen. Vielleicht haben wir Parteien gewählt, die sich nicht gegen diese Missstände eingesetzt, sondern sie sogar verschlimmert haben.

Für Iris Marion Young ist, wie sie schreibt, ‚Verantwortung aus sozialer Verbundenheit politische Verantwortung.‘ Wenn wir an struktureller Ungerechtigkeit teilnehmen, haben wir also die Verantwortung, uns politisch dafür einzusetzen, dass sich die Verhältnisse verbessern. Menschen können sich beispielsweise zusammenschließen und Druck auf staatliche Institutionen oder Unternehmen ausüben.“

„Damit die Verantwortlichen bestraft werden.“

„Es geht Young weniger darum, in der Vergangenheit aufzuräumen, als die Zukunft zu verändern. Wie gesagt, ist es in einem so komplizierten System wie der Weltwirtschaft auch schwierig, genau zu bestimmen, wie viel welcher Akteur zu einer Ungerechtigkeit beigetragen hat. Wenn es möglich ist, bestimmte Täter zu isolieren, die beispielsweise Arbeiter verprügeln lassen, ist es natürlich richtig sie rechtlich zu belangen. Auf der anderen Seite kann es aber auch kontraproduktiv sein, bestimmte Personen zu isolieren und auf sie mit dem Finger zu zeigen, wenn das Problem von sehr vielen Akteuren verursacht und getragen wird. Wir sollen deshalb nicht zuletzt nach Hintergrundbedingungen suchen, nach Gewohnheiten in unserer Gesellschaft, die viele praktizieren und die Teil des Problems sind. Wenn sehr viele Menschen für das Problem mitverantwortlich sind, ist es sinnvoll, sich gemeinsam mit vielen anderen gegen die Ungerechtigkeit politisch zu engagieren.“

Miller würde einwenden, dass Staaten wie Indien oder Bangladesch, die solche Arbeitsbedingungen zulassen, dafür verantwortlich sind. Von Gerechtigkeit zu sprechen, macht nur innerhalb von Staaten Sinn.“

„Das wäre nach Young aber falsch. Zunächst einmal sind Beziehungen zwischen Menschen grundlegender als politische Ordnungen. Sie gingen der Staatenbildung voraus. Auch ohne politische Ordnung scheint es offensichtlich, dass es in menschlichen Beziehungen ein ‚Gerecht‘ und ‚Ungerecht‘ gibt. “

„Aber daraus folgt noch nicht, dass wir auch die Verantwortung haben, strukturelle Ungerechtigkeit in anderen Staaten zu bekämpfen.“

„Richtig. Aber gegenüber wem haben wir die Verantwortung, strukturelle Ungerechtigkeit zu bekämpfen? Gegenüber den Menschen, mit denen wir sozial verbunden sind. Jetzt könnte man wiederum einwenden: Aber sozial verbunden sind wir doch im Wesentlichen mit den Menschen unseres Staates. Doch für Young und andere Philosophen ist dies, wie gesagt, gerade in der heutigen Welt falsch. Die Welt ist heute stark vernetzt, nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft wie der Wissenschaft, der Kunst, der Religion, dem Sport usw. Dass soziale Verbundenheit mit der Staatsgrenze endet, wäre vor diesem Hintergrund eine willkürliche Entscheidung.

Auch das Beispiel der Textilindustrie zeigt nach ihr deutlich, dass staatliche Grenzen für ein solches Produktionssystem eine untergeordnete Bedeutung haben. Youngs Ansatz ist kosmopolitisch, aber weniger fordernd als Singers utilitaristischer Ansatz. Denn beim Utilitarismus bestehen international nicht nur Pflichten zu Nothilfe, sondern auch stärkere Gerechtigkeitspflichten deshalb, weil jeder die Plicht hat, im Sinne des Nutzens der gesamten Menschheit zu handeln. Das hält sie nicht nur für eine Überforderung, sondern es widerspricht auch der Intuition, dass man Menschen gegenüber besondere Verpflichtungen hat, mit denen man in Beziehung steht. Diese Beziehungen enden ihr zufolge im internationalen Handel aber nicht an Staatsgrenzen.

Als nächstes behandeln wir eine Position, die wie Iris Marion Young kosmopolitisch ist, aber in verschiedener Hinsicht noch weiter geht. Nach Charles Beitz, einem Schüler von John Rawls, müssen die globalen Wohlstandsunterschiede angeglichen werden.“

Hinweis: Am ersten Oktober erschien das Buch zu Lukas und Sophie im Promedia-Verlag: „Die blinden Flecken der Demokratie. Eine Entdeckungsreise in die politische Ideengeschichte.“