Debatte

Plädoyer für eine behutsame De-Industrialisierung

| 29. August 2023

In der hitzigen Debatte über eine drohende De-Industrialisierung sind beide Extrempositionen gefährlich. Deutschland hat allen Grund, sich um seine Industrie zu sorgen. Aber eine behutsame De-Industrialisierung sollte zugelassen werden.

Die Sorge um die Zukunft der deutschen Industrie ist berechtigt. Eine schockartige, eruptive De-Industrialisierung Deutschlands wäre zweifellos katastrophal. Von den Energiepreisschocks seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs war die ohnehin schon pandemiebedingt strauchelnde Wirtschaft hierzulande überdurchschnittlich betroffen. Die deutsche Industrie weist einen ausgeprägten Energiehunger auf. Der Gasanteil am Energiemix ist zwar nicht exzeptionell hoch, aber Deutschland hatte sich mehr als andere auf sichere Lieferungen aus Russland verlassen. Entsprechend schnell erfolgten Produktionseinbrüche in den energieintensivsten Bereichen, insbesondere in der chemischen Industrie. Weitere Herausforderungen wie der vom amerikanischen Inflation Reduction Act angestoßene Subventionswettlauf und die scharfe EZB-Zinspolitik traten und treten weiterhin hinzu.

Die deutsche Politik hatte also gute Gründe, in einem breiten Elitenkonsens unter Einschluss der Sozialpartner umfängliche fiskalische Mittel zur Krisenbewältigung zu mobilisieren. Der inländischen Koordination stand freilich ein bemerkenswerter internationaler Unilateralismus gegenüber: Die deutsche Politik koordinierte sich mit den europäischen Nachbarn wenig und gewährte Subventionen, die sich beispielsweise Italien nicht hätte leisten können, jedenfalls nicht vor dem Hintergrund einer Geldpolitik, die gleichzeitig auf quantitative tightening umschaltet. Auf europäischer Bühne hat die deutsche Politik im Zuge ihrer Krisenreaktionen also Porzellan zerschlagen – aber das will ich vorliegend nicht weiter vertiefen. Halten wir fest: Die Sorge um die Industrie war und ist berechtigt, es musste und muss etwas getan werden.

Zu Widerspruch regt wahrscheinlich eher meine Warnung vor dem anderen Extrem an. So berechtigt die Sorge um die Industrie angesichts des Energiepreisschocks und weiterer Herausforderungen war und ist, nicht jeder Industriearbeitsplatz sollte verteidigt und nicht jede De-Industrialisierung unterbunden werden. De-Industrialisierung ist zu einem gewissen Grad eine normale Entwicklung reifer Volkswirtschaften – ein Prozess, den Deutschland in den vergangenen zwei Dekaden gleichwohl in bemerkenswertem Umfang aufzuhalten vermochte. Nicht die De-Industrialisierung, sondern ihre zeitweilige Unterbrechung erscheint im internationalen Vergleich und im Zeitvergleich ungewöhnlich. Der Versuch, diese Unterbrechung um jeden Preis zu verlängern, würde mehr Probleme erzeugen, als er zu lösen vermag. Um das zu erklären, muss ich etwas ausholen.

Theorie der De-Industrialisierung

Das Papier, das mich vor mehr als zwanzig Jahren davon überzeugte, dass De-Industrialisierung ein natürlicher Prozess in erfolgreichen, reifen Volkswirtschaften ist, stammt von dem marxistisch inspirierten Ökonomen Robert Rowthorn und dem damaligen IWF-Ökonomen Ramana Ramaswamy.[1] Ihr Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass die relativen Beschäftigungsanteile (oder Arbeitsstundenanteile), die in den entwickelten Volkswirtschaften auf den industriellen Sektor entfielen, seit ungefähr den siebziger Jahren sanken, zugunsten der Beschäftigung in den sehr heterogenen Dienstleistungssektoren. Warum, so fragten sie sich, ist das so?

Auf den ersten Blick schien die als De-Industrialisierung bezeichnete Verschiebung in der Beschäftigungsstruktur einfach einen Wandel in der Nachfrage widerzuspiegeln: Sind die Grundbedürfnisse an Industriegütern erst einmal gedeckt, fragen die Leute bei steigendem Wohlstand anteilsmäßig mehr Dienstleistungen nach. So etwas war für landwirtschaftliche Produkte schon lange beobachtet worden (das so genannte Engelsche Gesetz). Je höher das Einkommen, um so weniger wird anteilsmäßig für Nahrungsmittel ausgegeben. Warum sollte derselbe Sättigungseffekt nicht auch irgendwann bei den Industriegütern eintreten?

Irritierend ist nun aber, dass sich die relativen Wertschöpfungsanteile beider Bereiche bei genauerer Betrachtung über weite Strecken als ziemlich konstant erwiesen – und zwar dann, wenn man die entsprechende Wertschöpfung in konstanten Preisen berechnete. Im Zeitverlauf sind Industriegüter relativ zu den arbeitsintensiven Dienstleistungen billiger geworden, beziehungsweise umgekehrt: die Dienstleistungen haben sich, verglichen mit den Industriegütern, verteuert. Der entscheidende Grund für die relative Schrumpfung des Industriesektors, gemessen an der Beschäftigung, musste also ein anderer sein.

Aber welcher? Die Dynamik der De-Industrialisierung, so die Einsicht der Autoren, beruht auf sektoralen Eigenschaften, die dreißig Jahre zuvor von William J. Baumol und William G. Bowen beschrieben worden waren, genauer: auf der Unterschiedlichkeit der sektoralen Produktivitätsfortschritte. Der industrielle Sektor ist technologisch fortschrittlich: Aufgrund der Standardisierbarkeit industrieller Abläufe ist das verarbeitende Gewerbe stetig rationalisierbar. Das trifft zweifellos auch auf manche Dienstleistungen zu (man kann die Heterogenität dieses „Sektors“ gar nicht genug betonen). Aber oft trifft es nicht zu, namentlich bei den personenbezogenen Dienstleistungen: Der Rationalisierbarkeit von Friseurdienstleistungen oder Lehrberufen bis hin zur Kranken- oder Altenpflege sind Grenzen gesetzt.

Wenn nun aber die Produktivität der Industrie über einen langen Zeitraum schneller wächst als jene der Dienstleistungen, und wenn ihre jeweiligen Wertschöpfungsanteile konstant bleiben – wenn also beide gleichermaßen mit der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate wachsen –, dann wird sich die Beschäftigungsstruktur trendmäßig von der Industrie zu den Dienstleistungen verschieben. Auf Grundlage international vergleichender Daten schätzten die Autoren, dass ungefähr zwei Drittel der De-Industrialisierung seit den Siebzigern auf diesen Effekt der differenziellen Produktivitätsentwicklung entfielen. Und nicht auf veränderte Präferenzen der Konsumenten oder etwa den internationalen Handel. Ein sich wandelndes Nachfrageverhalten kann es natürlich trotzdem geben, insbesondere höhere Lebenserwartungen legen das nahe. Aber diese Effekte kommen dann auf die produktivitätsbedingte Veränderung der Beschäftigungsstruktur obendrauf.

Entscheidend ist nun, dass diese Form der De-Industrialisierung nichts Pathologisches an sich hat, das bekämpft werden sollte oder müsste. Schon gar nicht zeugt sie von schlechter Standortqualität oder dergleichen. Sie ist vielmehr eine normale, „gesunde“ Dynamik entwickelter Ökonomien (vergleichen Sie auch dieses OECD-Papier von 2016 auf den Seiten 16-18). Mehr noch, sie hat eine erfreuliche Schlagseite: Würde die industrielle Produktion auf ewig in dem Umfang wachsen, der notwendig wäre, um den von ihr absorbierten relativen Beschäftigungsanteil trotz überdurchschnittlicher Produktivitätszuwächse konstant zu halten, wäre das ökologisch gewiss verheerend. Also, noch verheerender als ohnehin schon.

Deutschland koppelt sich ab

So weit, so gut. Betrachten wir die Abläufe in Deutschland, stoßen wir aber auf eine Besonderheit. Diesen Daten des Statistischen Bundesamts zufolge (scrollen Sie nach unten, um die gesamte Zeitreihe zu sehen) setzte die relative Schrumpfung des deutschen Industriesektors zur Mitte der Sechzigerjahre ein und setzte sich mindestens bis kurz nach der Jahrtausendwende fort (ich verzichte auf die Nennung konkreter Zahlen, weil sie je nach statistischen Sektorenabgrenzungen unterschiedlich ausfallen – die übergreifende Logik im Zeit- oder Ländervergleich ist aber stets dieselbe). Dann aber passierte etwas, im Unterschied zu anderen reifen Ökonomien wie den USA, Frankreich, Großbritannien und Italien: Die De-Industrialisierung verlangsamte sich. Betrachtet man nicht relative, sondern absolute Beschäftigungswerte, scheint die deutsche De-Industrialisierung bis zum Eintritt in die Covid-Krise sogar nahezu gänzlich aufgehört zu haben. Auf alle Fälle weicht Deutschland vom Trend in ähnlich produktiven Ländern ab. Nach internationalen Standards beurteilt ist Deutschland heute klar über-industrialisiert.

(Bis 1990 früheres Bundesgebiet; 1950 bis 1959 ohne Berlin und Saarland). Quelle: Statistisches Bundesamt: Ergebnisse der Erwerbstätigenrechnung im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR)

Die Leserinnen und Leser von MAKROSKOP wissen auch, wie das zustande kam. Deutschland verschaffte sich einen für den industriellen Exportsektor vorteilhaften realen effektiven Wechselkurs, indem es auf eine zurückhaltende Fiskalpolitik und auf Lohnzurückhaltung einschwenkte, die Entwicklung der Binnennachfrage damit hemmte und seine Inflationsrate im Ergebnis hinter jenen seiner wichtigsten Handelspartner zurückhielt. Über diesen Wettbewerbskanal absorbierte Deutschland so ausländische Nachfrage und überzog die Weltwirtschaft mit seinen Exportüberschüssen.

Seit 2011, bis einschließlich 2021, lag der deutsche Leistungsbilanzüberschuss oberhalb jener sechs Prozent, die das makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren der EU als exzessiv kennzeichnet. Erst im Schockjahr 2022 sank der deutsche Leistungsbilanzüberschuss wieder unter diese Marke. So konnte sich Deutschland vom säkularen Trend der De-Industrialisierung abkoppeln, beschleunigte im Gegenzug aber die De-Industrialisierung der Handelspartner, für die die deutschen Überschüsse Importschwemmen sind. Den Zusammenhang zwischen der Handelsbilanz und der Größe der industriellen Sektoren hat übrigens auch der bereits erwähnte Robert Rowthorn untersucht, etwa in diesem Artikel von 2004 (sehen Sie das Ergebnis auf Seite 772).  

Schutz der Industrie – um jeden Preis?

Vor diesem Hintergrund werden Sie verstehen, warum mir der Ruf nach Verhinderung jeglicher De-Industrialisierung verdächtig vorkommt. Was wird uns hier untergejubelt? Die Agenda 2010, die seinerzeit maßgeblich dazu beitrug, Deutschland in eine für die Exportwirtschaft vorteilhafte Unterbewertungskonstellation zu bringen – die wollen wir doch hoffentlich nicht noch einmal machen? Mit Druck auf den Sozialstaat, auf die Löhne und allem, was dazugehört? Und diesmal kombiniert mit Industriesubventionen bis zur Oberkante, die vor dem Hintergrund einer Rückkehr zur Schuldenbremse dazu beitragen, dass für Projekte wie derzeit die Kindergrundsicherung die Mittel fehlen? Die Rede von einer ominösen Agenda 2030 zur Stärkung der Wettbewerbskraft der deutschen Wirtschaft lässt in diesem Zusammenhang jedenfalls nichts Gutes erahnen.

Es sei auch daran erinnert, dass die heutigen Debatten über den Schutz der deutschen Industrie in einem veränderten Arbeitsmarktumfeld stattfinden. Als Deutschland vor gut zwanzig Jahren real abwertete, war das so oder so eine beggar-thy-neighbor-Politik par excellence, aber sie geschah vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit. Bereits heute ist die Situation anders. Die Klagen über Fachkräftemangel sind mal mehr, mal weniger glaubhaft. Spätestens wenn die geburtenstarken Jahrgänge (die ungefähr zwischen 1955 und 1969 geborenen Baby-Boomer) in Rente gehen, werden wir uns genauer überlegen müssen, wofür wir knappe Arbeitskraft einsetzen wollen.

Schon heute erscheint die deutsche Beschäftigungsstruktur merkwürdig. Warum lassen wir eigentlich zu, dass der industrielle Exportsektor einen im internationalen Vergleich so überdurchschnittlichen Anteil des Arbeitskräfteangebots absorbiert, um unsere Handelspartner anschließend mit unseren Leistungsbilanzüberschüssen überziehen zu können – während gleichzeitig Lehrer, Mediziner, Polizisten usw. gebraucht und händeringend gesucht werden? Diese Konstellation ist schwer zu rechtfertigen. Geht der Tanz um den Exportsektor nicht schon lange zu weit? Dient er wirklich der Befriedigung gesamtgesellschaftlicher Bedürfnisse, oder lassen wir nicht vielmehr zu, dass uns spezifisch-sektorale Interessen als Allgemeininteressen verkauft werden?

Ich hoffe sehr, nicht falsch verstanden zu werden. Die Sorge um die deutsche Industrie ist berechtigt. Sie sollte uns Anlass zu einer grundsätzlichen – und alles andere als einfachen – Debatte geben. Was soll unser Platz in einer künftigen internationalen Arbeitsteilung sein, was wollen wir im Land halten, mit welchen Mitteln und, vor allem, zu welchem Preis? Wie auch immer die Antworten ausfallen werden: Das Ziel kann nicht in einer umfassenden Bestandsgarantie des industriellen Sektors bestehen. Daher halte ich eine behutsame, kontrollierte, sozial- und umweltverträgliche De-Industrialisierung für einen notwendigen Teil eines progressiven wirtschaftspolitischen Programms.

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[1] Noch heute bin ich meinem damaligen Kollegen Eric Seils (heute am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans Böckler Stiftung) dankbar, mich auf diesen Text aufmerksam gemacht zu haben.