Armut als Standard? Die Rentenreform und des Sozialstaatsgebot
Im Streit um die Rente ist das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes aus dem Blickfeld geraten. Diese „Ewigkeitsnorm“ gibt der Politik die Aufgabe, allen Bürgern im Alter ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Das ist schon mit der Haltelinie von 48 Prozent ein großes Problem.
Friedrich Merz warnte die Junge Union auf deren Deutschlandtag am 15. November 2025 vor einem „Unterbietungswettbewerb“ um das niedrigste Rentenniveau. Ihm ist offenbar klar, dass man damit keine Wahlen gewinnen kann und nur der AfD in die Hände spielt. Aber das ist nicht nur dem Unions-Nachwuchs egal, sondern auch dem Mainstream in den Medien, der das Menetekel einer nicht mehr bezahlbaren Sozialrente pflegt und ein kapitalgedecktes Rentensystem favorisiert, ohne dafür belastbare Sachargumente zu liefern. Es wird noch nicht einmal versucht, dem Publikum die Unterschiede zwischen Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung zu erklären. Es herrscht der verdeckte Grundsatz des Boulevardjournalismus, sich eine Story nicht durch Fakten verderben zu lassen.
Scharlatanerie
Die vorherrschende Behauptung, mit einer Umstellung der Beitragsfinanzierung auf Kapitaldeckung könne man die nachwachsende Generation entlasten, ist absurd. Die in Werbekampagnen der Versicherungswirtschaft und von etlichen Ökonomieprofessoren verkündete Behauptung, mit der Einzahlung in einen Kapitalfonds habe man die eigene Rente quasi vorfinanziert, ist Scharlatanerie. Altersrenten müssen immer aus der laufenden Wertschöpfung bezahlt werden. Einen Geldspeicher gibt es nur in der Parallelwelt von Entenhausen.
Deshalb kann eine Umstellung der Alterssicherung auf Kapitaldeckung zur Entlastung der gesamten jüngeren Generation unterm Strich gar nichts beitragen. Außerdem würden dann Beiträge in einen Kapitalstock abgeführt, der nicht nur die Renten finanzieren muss, sondern auch die Gewinnerwartungen der Finanzwirtschaft. Wie der niederländische Ökonom Dirk Bezemer berichtet, zahlten 2020 die niederländischen Pensionsfonds 29 Prozent der ausgezahlten Rentensumme als Provisionen an „Geldmanager“ wie Blackrock. Bei der Firma saß bekanntlich Friedrich Merz im Aufsichtsrat. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt?
Dennoch wird der nachwachsenden Generation von der Jungen Union und den doktrinären Marktwirtschaftlern in der Wirtschaftspublizistik und den Ökonomie-Fakultäten eingeredet, mit einem kapitalgedeckten Rentensystem würden sie entlastet. Auch sich aufklärerisch gebende TV-Moderatoren wie Oliver Welke fallen auf diesen Unsinn herein.
Ebenso realitätsfremd ist die Erwartung, mit einer Senkung des Rentenniveaus könnten die öffentlichen Mittel zur Alterssicherung stabilisiert, wenn nicht sogar gesenkt werden. Das wäre nichts weiter als eine Verschiebung der Kosten von einem öffentlichen Träger auf einen anderen. Die Zuschüsse des Bundes für die Rentenversicherung könnten abnehmen oder zumindest stabilisiert werden. Aber das ginge zu Lasten der Träger der sozialen Grundsicherung.
Ganz zu schweigen von dem damit verbundenen bürokratischen Mehraufwand. Die Verlagerung der Kosten für die Alterssicherung von der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) in die Grundsicherung ist mit einem aufwändigen und komplizierten System von Anträgen beim Sozialamt verbunden. So viel zum Thema Bürokratieabbau.
Als Bärbel Bas diesen Sachverhalt beim Arbeitgebertag ansprach, wenn auch in etwas unglücklicher Weise, wurde sie ausgelacht. Der Tunnelblick der Arbeitgeberfunktionäre auf die Lohnnebenkosten versperrt ihnen den Blick auf gesamtwirtschaftliche und verfassungsrechtliche Zusammenhänge. Nicht Bärbel Bass betreibt „intellektuellen Tiefstflug“ (Markus Lanz), wenn sie auf diese Ignoranz hinweist, sondern Arbeitgeberfunktionäre und Publizisten, die behaupten, die Privatisierung der Alterssicherung und die Altersarmut hätten nichts miteinander zu tun. Wie man mit einem Mindestlohn, der nach ihren Vorstellungen auch noch abgesenkt werden sollte, eine ausreichende private Alterssicherung finanzieren kann, verraten sie nicht.
Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes
Bei dem aktuellen Renten-Streit geht es nicht nur um Verteilungsfragen, sondern auch um verfassungsrechtliche Grundsätze. Der Sozialstaat ist eine im Artikel 20 des Grundgesetzes verankerte Implikation der Demokratie: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Die Eltern des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat haben 1949 bewusst auf Konkretisierungen dieser Maxime verzichtet.
Der Sprecher der SPD in diesem Gremium Carlo Schmid setzte sich mit der Auffassung durch, konkrete wirtschafts- und sozialpolitische Ziele wie etwa die Vergesellschaftung von Großkonzernen oder die 40-Stunden-Woche seien im Grundgesetz fehl am Platz. Solche konkreten Forderungen gehörten in Partei- und Wahlprogramme, aber nicht in eine Verfassung.
Diese Weisheit wurde verleugnet, als die Union und die SPD gemeinsam 2011 die Schuldenbremse mit exakten Vorgaben zur Begrenzung der Kreditfinanzierung öffentlicher Haushalte ins Grundgesetz hievten. Damit erhielt eine umstrittene Lehrmeinung in der Volkswirtschaftslehre Verfassungsrang. Sie lähmt die Politik und macht sie in weiten Teilen reformunfähig, weil Abweichungen von dieser Limitierung nur mit einer Zwei-Drittel Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat möglich sind.
Der Artikel 20 gehört zusammen mit dem Artikel 1 zur Unantastbarkeit der Menschwürde zu den „Ewigkeitsartikeln“ des Grundgesetzes, die auch mit einer Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat nicht verändert werden können. Die Wahrung der Menschenwürde ist eine verfassungsrechtliche Richtlinie der Sozialpolitik. Die Leistungen des Sozialstaats müssen allen Bürgerinnen und Bürgern ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen und dürfen sich nicht auf Kleiderkammern, Notunterkünfte und Suppenküchen beschränken.
Das Bundesverfassungsgericht hat zuletzt im Urteil vom 5. November 2019 den Leitsatz bestätigt, dass der Sozialstaat nicht nur die physische, sondern auch die soziokulturelle Existenz der Menschen zu gewährleisten hat. Diese Maxime habe die Neuordnung der Grundsicherung von Erwerbslosen („Hartz IV“) vor allem mit den Sanktionsmöglichkeiten bei Verweigerung einer angebotenen Arbeit verletzt. Die vom Bundesverfassungsgericht auch in anderen Urteilen postulierte Orientierung von Sozialleistungen an der Wahrung der Menschenwürde gilt auch für die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV).
Deren Altersrenten richten sich an der Höhe und Dauer der eingezahlten Beiträge. Das führt dazu, dass Unterbrechungen in der Erwerbsbiografie, die Einzahlungen in die Rentenkasse aussetzen oder reduzieren, zu sinkenden Rentenansprüchen führen. Davon sind vor allem Frauen betroffen mit der Folge, dass sie stärker von Altersarmut betroffen sind als Männer.
Eines ist sicher: Wird die „Haltelinie“ bei den Altersrenten von 48 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Durchschnittseinkommens weiter abgesenkt, erhöht sich die Altersarmut und die Zahl der von der Grundsicherung abhängigen alten Menschen. Das Problem ist nicht die intergenerative Verteilung zwischen alten und jungen Menschen, sondern die intragenerative Schieflage in der Einkommens- und Vermögensverteilung mit der Folge wachsender Altersarmut. Dieser Sachverhalt wird in der veröffentlichten Meinung kaum angesprochen.
Perspektiven der Rentenversicherung
Als 1957 die dynamische Rentenversicherung mit einer jährlichen Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung eingeführt wurde, war das politische Ziel die Sicherung des Lebensstandards im Alter. Darin waren sich christliche und sozialdemokratische Sozialpolitiker einig. Der Rothenfelser Kreis von christlich-konservativen Beratern von Konrad Adenauer [1] hielt damals eine Rentenniveau von 70 bis 75 Prozent des Durchschnittslohns für angemessen. Das war angesichts der damaligen Einkommensstruktur bei den sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigen keine unrealistische Wunschvorstellung.
Heute ist es keine politisch machbare Zielgröße. Es geht vor allem darum, Altersarmut zu verhindern und ein menschenwürdiges Leben im Alter als einer vom Grundgesetz vorgegebenen Orientierung zu ermöglichen. Dieses Ziel überfordert die Volkswirtschaft keineswegs, wie das österreichische Rentensystem zeigt. Es ist als einheitliche Erwerbstätigenversicherung verteilungspolitisch effektiver als unser zu wachsenden sozialen Disparitäten und Altersarmut führendes gegliederte Alterssicherungssystem.[2]
Unser Sozialversicherungssystem wird nicht durch die wachsende Zahl älterer Menschen überfordert, sondern dadurch, dass es auf die versicherungspflichtigen Personen der unteren und mittleren Einkommensgruppen beschränkt ist und die Gutverdiener privilegiert. Von denen profitieren nicht zuletzt die in den Medien als „Junge Wilde“ hochgejazzten Vertreter der Jungen Union, die als Bundestagabgeordnete pro Jahr einen Rentenanspruch von 2,5 Prozent ihrer Bezüge von aktuell 11.833 Euro haben. Das sind schon nach zwei Legislaturperioden 2.367 Euro pro Monat.
Die schwarz-rote Koalition hat mangels interner Konsensfähigkeit die Fragen einer großen Rentenreform auf eine Reformkommission verschoben, die im kommenden Jahr Empfehlungen erarbeiten und 2027 abgeben soll. Diese werden mit Sicherheit nicht weniger kontrovers ausfallen als die Vorschläge der von der rot-grünen Koalition 2002 eingesetzten Rürup-Kommission. Sobald die Mitglieder dieser Kommission bekannt sind, lassen sich ihre Empfehlungen vorhersagen.
Hier ein leider unrealistischer Gedanke: Sollte man sich die Kosten für diese Kommission nicht sparen und stattdessen eine Arbeitsgruppe von Fachbeamten aus Bundes- und Landesbehörden einsetzen? Sie würde die Reformalternativen für die GRV deutlich kosteneffektiver und auch schneller erarbeiten als die vorgesehene Reformkommission von Professoren und Politikern.
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