Makroskop
Aufstrebender Nachbar

Der wundersame Aufstieg Polens und die neue Geoökonomie Europas

| 09. Dezember 2025
IMAGO / Anadolu Agency

Deutschland tut gut daran, das Verhältnis zum unbequemen Nachbar zu pflegen. Denn an Warschau kommt niemand mehr vorbei.

Eine Zeitlang waren sie vom Tisch, jetzt sind sie wieder Thema: die polnischen Reparationsforderungen gegenüber Deutschland. Juristisch sind sie chancenlos. Die Sache ist bereits zweimal von den Alliierten geklärt worden: durch das Londoner Schuldenabkommen von 1953 und den sogenannten Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990, der die deutsche Wiedervereinigung besiegelte und die Wiederaufnahme von Reparationsverhandlungen ausdrücklich ausschloss.

Auch außenpolitisch haben die hohen finanziellen Forderungen aus dem Zweiten Weltkrieg keine Aussicht auf Erfolg. Polen hat in Europa keinerlei Unterstützung, Washington hat andere Prioritäten, und das Verhältnis zu Russland ist seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine auf einem Tiefpunkt.

Innenpolitisch sind die Reparationsforderungen hingegen populär und lassen sich deshalb nicht so leicht zum Verschwinden bringen. Polen bleibt für Deutschland ein unbequemer Partner, der aus historischen Gründen ein tiefes Misstrauen gegenüber dem großen westlichen Nachbar hegt.

Berlin tut aber gut daran, geduldig zu bleiben und das Verhältnis zu pflegen. Denn zum ersten Mal in der Geschichte Europas ist Polen ein stabiler und wohlhabender Staat, der eine geopolitische Schlüsselrolle spielt. Ein absolutes Novum in der Geschichte der europäischen Geoökonomie.

Polen gab es gar nicht

Wie erstaunlich der polnische Aufstieg in den letzten dreißig Jahren ist, erschließt sich erst, wenn man historisch etwas weiter ausholt. Noch vor etwas mehr als hundert Jahren gab es das Land noch gar nicht. Die drei Großmächte Österreich, Preußen und Russland hatten die königliche Republik Polen-Litauen im späten 18. Jahrhundert unter sich aufgeteilt.

Als die Polen nach dem Ersten Weltkrieg schließlich einen eigenen Nationalstaat erhielten, handelte es sich um ein zusammengestückeltes Territorium ohne gemeinsame Infrastruktur und Institutionen. Die ererbten Eisenbahnlinien waren von unterschiedlicher Breite. Es gab keine gemeinsame Währung, kein einheitliches Steuersystem.

Die Startbedingungen hätten nicht schwieriger sein können. Trotz Hyperinflation, Militärputsch und Depression wuchs dennoch zusammen, was zusammengehörte, bis das Land 1939 ins Visier von Deutschland und Russland geriet, erneut aufgeteilt wurde und eine katastrophale Zeit durchlebte. Im Zweiten Weltkrieg verlor Polen sechs Millionen Einwohner (rund 17 Prozent der Bevölkerung), unter ihnen drei Millionen Jüdinnen und Juden.

Nach 1945 erhielten die Polen ihr Land zurück, aber es wurde einige hundert Kilometer nach Westen verschoben: Stalin annektierte Ostpolen, der neue polnische Staat bekam dafür deutsche Gebiete, insbesondere Schlesien mit der Stadt Breslau.

Was in Russland scheiterte, funktionierte in Polen

Mehr als eine Million Polen wurden zwangsweise umgesiedelt, die Deutschen wurden aus den neuen polnischen Gebieten vertrieben. Daraufhin musste sich das neu geformte Land als sowjetischer Satellitenstaat behaupten, wobei das Verhältnis zur Zentrale in Moskau und zum Nachbarland DDR stets schlecht war.

Die ideologische Verbindung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wunden der Geschichte weiter schwelten. Es ist kein Zufall, dass der Niedergang des Ostblocks 1980 mit der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc in Danzig begann.

Als der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West verschwunden war, optierte die frei gewählte polnische Regierung für eine wirtschaftspolitische Schocktherapie. In kurzer Zeit privatisierte sie einen Großteil des Staatsbesitzes, reduzierte die Inflation, stabilisierte die Währung, sanierte die Staatsfinanzen und öffnete das Land für ausländische Investitionen.

Was in Russland vollkommen scheiterte, funktionierte in Polen wunschgemäß. Nach einer kurzen aber harten Rezession wuchs das Land Jahr für Jahr. Gemäß den Berechnungen des IWF hat Polen heute ein kaufkraftbereinigtes Pro-Kopf-Einkommen wie Japan und Spanien und wird bald Italien und Großbritannien einholen, wenn die Wirtschaft weiter so schnell wächst.

Natürlich hat Polen seine Probleme. Besonders gravierend ist die dramatische Schrumpfung der Fruchtbarkeitsrate auf 1,16 Geburten pro Frau. Wenn das Land weiterhin wachsen und seine exponierte geopolitische Position verteidigen möchte, muss es ein gewisses demografisches Gewicht bewahren.

Dennoch: Polen hat sich dauerhaft als aufstrebende Macht in Europa etabliert. Wir hören und lesen in den Medien viel über die traditionellen Mächte Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Wir wissen alles über die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, die Ideen der Pariser Intellektuellen und den Rücktritt der stellvertretenden britischen Premierministerin.

Vielleicht wäre es wichtiger, über die Verhältnisse in Polen besser informiert zu sein. An Warschau kommt niemand mehr vorbei.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Neuen Züricher Zeitung.