Dänemark klagt gegen die Europäische Mindestlohn-Richtlinie
Im Herbst 2022 beschloss die Europäische Union gemeinsame Standards zu Mindestlöhnen und Tarifbindung. Nun kündigt die neu gewählte dänische Regierung schon vor Inkrafttreten der Richtlinie an, gegen sie zu klagen. Das zu erwartende Urteil könnte richtungsweisend für die Grenzen der europäischen Sozialpolitik sein.
Am 14. und 15. Dezember stellte Dänemarks amtierende Ministerpräsidentin Mette Frederiksen ihr neues Kabinett und ihr Regierungsprogramm vor. Sie stützt sich auf eine breite Koalition ihrer Sozialdemokraten, der neugegründeten zentristischen Partei Moderaterne sowie der bürgerlichen Partei Venstre. Damit bricht sie das erste Mal seit den siebziger Jahren mit den traditionell starren Blockgrenzen der dänischen Politik. Die politischen Rahmenbedingungen für die neue “Koalition der Mitte” ergaben sich aus der Anfang November durchgeführten vorgezogenen Neuwahl. Hintergrund für diese war, dass Frederiksens ehemalige linke Minderheitsregierung über die Aufarbeitung ihrer Coronapolitik und insbesondere die massenhafte Tötung von Nerzen zu stolpern drohte.
Schließlich kündigten Dänemarks Sozialliberale an, der Regierung die Unterstützung zu verweigern. Aus den Neuwahlen vom 2. November gingen Frederiksens Sozialdemokraten zwar gestärkt hervor, der linke Block erzielte allerdings nur eine denkbar knappe Mehrheit. Überraschend stark schnitt die neugegründete Partei des ehemaligen dänischen Ministerpräsidenten Lars Løkke Rasmussen ab, die sich zu keinem Block bekannte. Sie ebnete damit den Weg für die dänische Variante einer “großen Koalition”, die nicht auf die Unterstützung kleinerer Parteien angewiesen ist.
Dänemark zieht vor den Europäischen Gerichtshof
Angesichts der für dänische Verhältnisse unorthodoxen politischen Mischung wurde dem neuen Regierungsprogramm auch international viel Aufmerksamkeit geschenkt. Was neben aufsehenerregenden Vorhaben wie zum Beispiel der Abschaffung eines nationalen Feiertages zur Aufstockung des dänischen Verteidigungsbudgets bisher allerdings zu Unrecht keine international Beachtung fand, ist eine knappe Ankündigung auf Seite 14 des Regierungsprogramms. Dort heißt es nämlich:
“Die Regierung wird:
(..)
- Klage auf Nichtigerklärung der EU-Mindestlohnrichtlinie erheben. In Dänemark sind es die Sozialpartner, die den Rahmen für die Lohnbildung aushandeln. Vor diesem Hintergrund haben sich auch die Sozialpartner gegen die EU-Mindestlohnrichtlinie ausgesprochen.” (Ü. d. A.)
Diese Sätze haben es in sich. Die EU-Mindestlohnrichtlinie wurde erst im Herbst nach rund zweijährigen Verhandlungen verabschiedet und ist das prestigeträchtigste sozialpolitische Projekt der EU. Auch deutsche Sozialdemokraten und Gewerkschaften versprechen sich von ihr Verbesserungen in Deutschland und im Rest der EU. Vollkommen überraschend dürfte die Klage allerdings nicht kommen, da schon die Verhandlungen der Richtlinie von rechtlichen Bedenken und skandinavischer Opposition geprägt waren (mehr dazu weiter unten).
Was regelt die EU-Mindestlohnrichtlinie?
Anders als der Name erwarten ließe, beinhaltet die im Oktober 2022 vom Europäischen Parlament und vom Rat beschlossene Richtlinie weder die Bezifferung von Mindestlohnhöhen, noch sind Mindestlöhne ihr alleiniger Fokus. Stattdessen legt der Unionsgesetzgeber im ersten Teil der Richtlinie eine Reihe von prozeduralen Vorgaben fest. So sollen Mindestlöhne mindestens alle zwei Jahre anhand klarer Kriterien evaluiert und angepasst werden. Dabei müssen Mitgliedstaaten mindestens die Kaufkraft, das Lohnniveau, das Lohnwachstum sowie die Produktivität berücksichtigen.
Zudem sollen Maßstäbe für ihre Angemessenheit zugrunde gelegt werden. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, international gängige Richtwerte wie 60% des Medianlohns und 50% des Durchschnittslohns anzuwenden. Eine Pflicht, so vorzugehen, besteht allerdings nicht. Ausnahmen von gesetzlichen Mindestlöhnen zum Beispiel für Schüler oder Langzeitarbeitslose müssen in Zukunft einer klaren Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen werden. Gewerkschaften und Arbeitgebern soll die Möglichkeit der Mitwirkung an der Festsetzung gesetzlicher Mindestlöhne eingeräumt werden. Zur Durchsetzung der Vorgaben sind umfassende Berichtspflichten an die Kommission vorgesehen, außerdem bessere Aufklärung und verstärkte Kontrollen in den Mitgliedstaaten.
Aber damit nicht genug. Neben den Vorgaben zu gesetzlichen Mindestlöhnen zielt die Richtlinie auch auf eine Stärkung der Tarifbindung ab. Die Mitgliedstaaten sollen Maßnahmen ergreifen, um Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften und deren Organisationsrecht zu schützen und zu fördern. Als Ziel wird formuliert, dass Tarifverträge in allen Mitgliedstaaten mindestens 80% der Arbeitnehmer erfassen sollen. Das ist derzeit nur in acht Mitgliedstaaten gegeben: in Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Schweden, Finnland und Österreich. Deutschland ist von diesem Ziel mit einer tarifvertraglichen Deckungsrate von gerade einmal 50% weit entfernt. Werden die angestrebten 80% unterschritten, müssen Mitgliedstaaten nationale Aktionspläne mit Maßnahmen und Zeitplänen zur Stärkung der Tarifbindung vorlegen. Um kontinuierlichen Fortschritt sicherzustellen, sollen die Mitgliedstaaten ihre Aktionspläne regelmäßig überprüfen, und sie gegebenenfalls aktualisieren.
Die Ziele der Richtlinie sind ambitioniert
Was soll man von den Vorgaben aus Brüssel halten? Für die deutschen Gewerkschaften und die hiesige Sozialdemokratie (sowie auch für den Arbeitnehmerflügel der Union, der an der Ausarbeitung der Richtlinie im Europaparlament maßgeblich beteiligt war) ist die Sache klar. Sie hatten schon im Zuge der Ernennung der von-der-Leyen-Kommission auf eine europäische Mindestlohnrichtlinie gedrängt und können sie nun als Erfolg verbuchen. So sehen es auch Wissenschaftler gewerkschaftsnaher Forschungseinrichtungen wie Thorsten Schulten und Thorsten Müller, für die die Richtlinie einen “grundlegenden Paradigmenwechsel” vom Europa der Troika hin zu einem Sozialen Europa darstellt. In der Tat, die Richtlinie schreibt ambitionierte Ziele fest. Um eine Tarifbindung von 80% in Deutschland zu finden, muss man bis in die Mitte der achtziger Jahre zurückschauen.
Auch die Richtwerte zu Mindestlohnhöhen sind ambitioniert, werden sie doch in fast allen Mitgliedstaaten unterschritten. Angesichts der hohen Mehrheitsanforderungen im europäischen Gesetzgebungsprozess überrascht zudem, dass die festgelegten Ziele deutlich über den ursprünglichen Kommissionsvorschlag hinausgehen. Dies war keineswegs abzusehen, ruft das Erreichen dieser hochgesteckten Ziele doch erheblichen Anpassungsbedarf in einer großen Mehrheit der Mitgliedstaaten hervor.
Die Verbindlichkeit der Richtlinie ist fraglich
Warum haben die Mitgliedstaaten dennoch überwiegend für die Richtlinie gestimmt? Eine zynische Erklärung könnte lauten, dass sie von vornherein nicht annahmen, die neuen Vorgaben würden jemals jenen Biss entfalten, der notwendig wäre, um große Reformen anzustoßen. So gibt es keine Pflicht für Mitgliedstaaten, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen. Bei den Vorgaben zur Angemessenheit gesetzlicher Mindestlöhne handelt es sich lediglich um Soll-Vorgaben, also Empfehlungen. Letztendlich bleibt es den Mitgliedstaaten überlassen, Schlüsse aus der regelmäßigen Evaluierung ihrer Mindestlöhne zu ziehen. Welche diese sein werden, dürfte auch von der Durchsetzungskraft nationaler Gewerkschaften abhängen, die im öffentlichen Diskurs nun zumindest auf die Ziele der Richtlinie verweisen können.
Ähnliches gilt für die Tarifbindung. Zwar etabliert die Richtlinie eine Verpflichtung zur Erstellung nationaler Aktionspläne. Ob aber mit Konsequenzen zu rechnen ist, falls die Aktionspläne bewusst oder unbewusst ineffektiv gestaltet werden, bleibt fraglich. So wird es entscheidend darauf ankommen, wie die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt wird. Im Anschluss wird die Frage sein, ob die Kommission als Hüterin des europäischen Rechts bereit sein wird, Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einzuleiten, wenn diese bei der Tarifbindung partout nicht vorankommen.
Warum beinhaltet die Richtlinie keine klareren Bestimmungen?
Die für eine europäische Richtlinie (im Unterschied zu einer Empfehlung) überraschend schwache Verbindlichkeit ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass sich die Kommission mit ihrem Vorschlag auf unbekanntem Terrain bewegt. Zwar besitzt die EU seit den Maastrichter Verträgen eine Reihe von Gesetzgebungskompetenzen im Bereich der Sozialpolitik. Die Kommission konzentrierte sich bisher aber überwiegend auf Themen wie Arbeitssicherheit, Antidiskriminierung und die Regulierung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Andere Bereiche wie die Mitbestimmung unterliegen dem Einstimmigkeitsprinzip. Die Verträge schließen Vorgaben zum Arbeitsentgelt, zum Koalitionsrecht und zum Streikrecht sogar explizit von den Kompetenzen des Unionsgesetzgebers aus (Art. 153(5) AEUV). Um trotzdem aktiv werden zu können, stützte sich die Kommission auf die Kompetenz der EU, Mindestvorgaben zu “Arbeitsbedingungen” (Art. 153(1) AEUV) erlassen zu können. Dabei war stets klar, dass es präzise Vorschriften etwa zur Höhe von Mindestlöhnen zu vermeiden gilt, um den Artikel 153(5) AEUV nicht zu reißen.
Hinzu kam, dass einige Mitgliedstaaten ohne gesetzlichen Mindestlohn, vor allem Dänemark und Schweden, mit Verweis auf ihr nationales Arbeitsmarktmodell Bedenken gegen die Richtlinie anmeldeten. Um dem entgegenzukommen, stellt die Richtlinie klar, dass es keine Pflicht zur Einführung gesetzlicher Mindestlöhne gibt und dass nationales Recht und Praktiken ausschlaggebend sind. Zudem wird darauf hingewiesen, dass Dänemark und Schweden auch von den Regelungen zur Tarifbindung derzeit nicht betroffen sind, da die Tarifbindung in beiden Ländern über 80% liegt. Diese Umstände verleiteten den zuständigen EU-Kommissar Nicholas Schmit zu der Aussage, er könne gewährleisten, dass die Tarifsysteme Schwedens und Dänemarks “absolut geschützt“ seien. Allein, die dänischen und schwedischen Regierungen überzeugte das nicht. Sie stimmten schlussendlich als einzige Mitgliedstaaten im Rat gegen die Richtlinie.
Warum sind die Dänen dagegen?
Aber wieso gerade Dänemark und Schweden? Sind nicht gerade die skandinavischen Länder sozialdemokratische Musterstaaten mit ausgeprägten Wohlfahrtsstaaten, starken Gewerkschaften und guten Arbeitsbedingungen? Die Gründe für deren ablehnende Haltung lassen sich in den dänischen und schwedischen Arbeitsmarktinstitutionen finden. Das Arbeitsleben in Dänemark und Schweden wird vornehmlich durch autonom ausgehandelte und kollektivrechtlich verankerte Tarifverträge geprägt. Gesetzliche Regelungen spielen eine Nebenrolle, Mindestlöhne oder Allgemeinverbindlicherklärungen gibt es in Dänemark und Schweden anders als im Rest von Europa nicht.
Im Gegenzug sind Gewerkschaften auch aufgrund ihrer wichtigen Stellung in der Arbeitslosenversicherung stark organisiert und haben ein für deutsche Verhältnisse sehr weit gefasstes Streikrecht. Angesichts dessen sorgen sich die skandinavischen Gewerkschaften, dass stärkere staatliche Einmischung ihre Machtressourcen gefährden und die Legitimität ihrer Tarifsysteme schwächen könnte. Zudem befürchten sie, dass sich die individualrechtlich geprägte kontinentaleuropäische Vorstellung von Arbeitsrecht nur schwer mit der nordischen vereinbaren lässt.
Dass EU-Kommissar Schmit diese Sorgen nicht ausräumen konnte, dürfte auch historische Gründe haben. Angesichts des historischen Erfolgs ihrer nationalen Modelle waren Dänemark und Schweden von jeher skeptisch gegenüber Ausweitungen der sozialpolitischen Kompetenzen der EU. Schon bei der Verhandlung der Maastrichter Verträge beziehungsweise des schwedischen EU-Beitritts sorgten sich Gewerkschaften, dass europäische Richtlinien die weitgehende Regulierung des Arbeitsmarktes über Tarifverträge untergraben könnten.
Um den Sorgen entgegenzutreten, gab die damalige Kommission politische Garantien ab, die sich aber schnell als unwirksam entpuppten. Das sollte nicht die einzige negative Erfahrung bleiben. Als schwedische Gewerkschaften einen Arbeitskampf gegen einen europäischen Dienstleister führten, um die Einhaltung inländischer Standards zu erzwingen, hatte das ein juristisches Nachspiel: Der Europäische Gerichtshof erklärte den Arbeitskampf in seiner kontroversen Laval-Rechtsprechung für europarechtswidrig. Dieser Angriff auf den Kern des nordischen Arbeitsmarktmodells ist bis heute unvergessen. Angesichts dieser Erfahrung lässt sich zumindest nachvollziehen, warum Dänemark in Bezug auf die neue Richtlinie möglichst früh Rechtsklarheit haben möchte und die Grenzen der europäischen Kompetenzen gerichtlich ausbuchstabiert sehen möchte.
Schwache Erfolgsaussichten
Da noch keine Klageschrift vorliegt, lässt sich über deren Inhalt bisher nur spekulieren. Angesichts der bisher veröffentlichten Rechtsgutachten ist aber davon auszugehen, dass sich die Klage auf die Frage konzentrieren wird, ob die Bestimmungen zu Mindestlohn und Tarifbindung wirklich als "Arbeitsbedingungen" zu werten sind – oder ob sie, verbotenerweise, doch auf das Arbeitsentgelt und das Koalitionsrecht zielen. Zudem ist zu erwarten, dass die Klageschrift die Frage aufwerfen wird, ob die Vorgaben nicht eigentlich in den Bereich der kollektiven Interessensvertretung fallen. Zu diesem Bereich kann der Unionsgesetzgeber zwar Vorschriften erlassen, braucht hierfür im Rat aber die Einstimmigkeit.
Mit dieser Argumentation wäre Dänemark jedenfalls nicht auf völlig verlorenem Posten. Auch deutsche Arbeitsrechtler wie Gegor Thüsing bestreiten, dass die Richtlinie auf korrekter Kompetenzgrundlage beschlossen wurde. Andererseits misst der EuGH erfahrungsgemäß mit zweierlei Maß, wenn es um die Rechtmäßigkeit nationaler und europäischer Rechtsakte geht. Letztere werden weniger streng geprüft und wurden bisher nur äußerst selten für unionsrechtswidrig und daher für nichtig erklärt. Zudem gelangten sowohl die Hausjuristen der Kommission wie auch der Rechtsdienst des Rates zu der Einschätzung, die Richtlinie sei von stimmigen Kompetenznormen gedeckt. Der EuGH misst diesen Gutachten in seinen Verfahren regelmäßig hohe Bedeutung zu. Die Erfolgschancen der dänischen Regierung dürften daher größer als Null, aber insgesamt alles andere als rosig sein.
Warum die Klage dennoch spannend ist
Aber selbst vor diesem Hintergrund dürfte sich die Klage aus dänischer Sicht lohnen. Denn sie zwingt den EuGH dazu, frühzeitig Klarheit über den Umfang und die Grenzen der neuen europäischen Vorgaben zu schaffen. Angesichts des pfadabhängigen Fallrechtsystems des Unionsrechts würde das auch die Chancen des Gerichtshofs minimieren, den normativen Gehalt der Richtlinie in späteren Entscheidungen überraschend zu maximieren. Darüber hinaus zwingt die Klage den EuGH dazu, die Bedeutung des Begriffs “Arbeitsbedingungen” in Art. 153 AEUV klarer auszubuchstabieren. Auch das dürfte die dänischen Sorgen vor einer schleichenden Ausweitung der sozialpolitischen Unionskompetenzen im Ergebnis mindern.
Sollte Dänemark überraschend Erfolg haben und das Verfahren mit der Nichtigkeit der Mindestlohnrichtlinie enden, wäre das für die neue dänische Regierung umso erfreulicher. Für die Mehrheit der europäischen Gewerkschaften und insbesondere die Gewerkschaften in Deutschland wäre das indes ein herber Schlag, hat man doch große Hoffnungen an die Richtlinie geknüpft: Hoffnungen auf gesteigerte gewerkschaftliche Machtressourcen und auf einen nachhaltigen Richtungswechsel der europäischen Integration. Das Ziel des „Sozialen Europas“ (zumindest nach deutschem Verständnis) würde dann in weite Ferne rücken, genauer: in eine zukünftige Phase mit durch Vertragsänderungen ausgeweiteten Sozialkompetenzen des Unionsgesetzgebers. Eine neue Strategie wäre erforderlich. Deshalb geht es für die europäischen Gewerkschaften um viel. Das weitere Schicksal der Klage ist mit Spannung zu erwarten.