Warum ist Japan nicht schon längst bankrott?
Der asiatische Inselstaat ist viel höher verschuldet als Frankreich. Doch der Vergleich hinkt. Weshalb Gläubiger von japanischen Staatsanleihen ruhig schlafen können – aber jene von französischen Schlaftabletten brauchen.
Die finanzpolitische Situation Frankreichs ist besorgniserregend. Am vergangenen Dienstag hat das Parlament ganz knapp das neue Sozialbudget bewilligt. Eine Mehrheit ergab sich nur dank einer Geste zugunsten der Linken, die darin bestand, dass die Ausgaben für die Krankenversicherung nächstes Jahr um 3 statt 2 Prozent erhöht werden.
Damit rückt eine Reduktion des Budgetdefizits in weite Ferne. Die französischen Staatsanleihen werden auf den Finanzmärkten mittlerweile schlechter bewertet als die griechischen.
Griechenland schreibt seit Jahren Überschüsse und hat seine Bruttoschulden in den letzten fünf Jahren von 210 Prozent auf 147 Prozent reduziert. Noch vor zehn Jahren stand es kurz vor dem Bankrott. Wer hätte das gedacht?
Es gibt allerdings immer noch Stimmen, die zu beruhigen versuchen. Ihr Argument lautet, dass das Verhältnis der französischen Staatsschulden zum BIP nur knapp 120 Prozent betrage, während Japans Schulden auf das Niveau von 230 Prozent des BIP geklettert seien, ohne dass das Land der aufgehenden Sonne insolvent geworden wäre.
Frankreich habe demnach viel Zeit für die finanzpolitische Stabilisierung. Spätestens nach der Präsidentschaftswahl im April 2027 werde es zum großen Kompromiss kommen. Solange Wahlkampf herrsche, sei klar, dass sich die Parteien rein taktisch verhielten. Ne vous inquiétez pas!
Es mag zutreffen, dass Paris dereinst zur finanzpolitischen Vernunft zurückkehren wird. Aber der Vergleich mit Japan ist höchst irreführend und vermag keineswegs zu beruhigen. Nur die japanischen Bruttoschulden betragen 230 Prozent des BIP, nicht aber die Nettoschulden. Sie liegen viel tiefer, nämlich bei 78 Prozent, denn der japanische Staat ist nicht nur ein großer Schuldner, sondern auch ein großer Gläubiger.
Japan hat sich günstig refinanziert
Die Verbindlichkeiten bestehen hauptsächlich aus niedrig verzinsten Instrumenten wie Bankreserven und Staatsanleihen, während ein Großteil der Vermögenswerte in renditestarke Anlagen wie in- und ausländische Aktien und ausländische Anleihen investiert wird. Japan funktioniert wie eine Bank, die ihre Aktiven und Passiven geschickt optimiert.
Japan hat sich zudem in den letzten dreißig Jahren günstig refinanziert. Der Leitzins der Zentralbank war Mitte der 1990er Jahre auf 0 Prozent gefallen und hat sich seither kaum bewegt. Während des Inflationsschubs nach der Corona-Krise hob die Zentralbank den Zins nur geringfügig an.
Der Schuldendienst Japans ist deshalb äußerst bescheiden: Der Anteil am BIP beträgt nur rund 1,5 Prozent. Schließlich liegt etwa die Hälfte der Staatsschulden bei der japanischen Zentralbank. Das bedeutet, dass die Hälfte des Schuldendienstes in einem geschlossenen Kreislauf erfolgt: Die Regierung zahlt der Zentralbank die Zinsen und bekommt den größten Teil davon von der Zentralbank zurückerstattet.
In Frankreich sieht die Lage weniger rosig aus. Die Nettoverschuldung ist nur geringfügig niedriger als die Bruttoverschuldung. Sie beträgt etwa 100 Prozent. Frankreich hat zwar die Zeit der tiefen Zinsen benutzt, um sich günstiger zu refinanzieren, aber das Zeitfenster war nur halb so lang wie in Japan.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hält einen viel geringeren Anteil der französischen Staatsanleihen, als dies bei der japanischen Zentralbank für die japanischen Staatsanleihen der Fall ist. Die meisten Gläubiger Frankreichs sind ausländisch, während in Japan die Staatsschulden zu einem großen Teil bei einheimischen Banken, Versicherungen und Pensionskassen liegen. Man bleibt im asiatischen Inselstaat unter sich.
Der Euro ist eine Fremdwährung
Zu guter Letzt hat Japan einen Vorteil, den Frankreich bei der Einführung des Euro verloren hat: Es kann sich in seiner eigenen Währung, dem Yen, verschulden.
Der Euro ist zwar die Währung, die in Frankreich zirkuliert, aber er ist ökonomisch gesprochen eine Fremdwährung, weil die EZB für die gesamte europäische Währungsunion und nicht nur für Frankreich verantwortlich ist. Nur wenn der politische, der fiskalische und der monetäre Raum identisch sind, besitzt ein Land die volle geldpolitische Souveränität.
Das bedeutet, dass die Gläubiger von japanischen Staatsschulden ruhig schlafen können, denn sie wissen, dass im Notfall die japanische Zentralbank unbeschränkt im Markt intervenieren wird.
Bei der europäischen Währungsunion ist alles viel politischer und komplizierter. Falls Frankreich in Schieflage gerät, wird die EZB zwar aktiv werden, aber sie kann nur bis zu einer gewissen Grenze gehen. Es besteht ein Restrisiko.
Gläubiger von französischen Staatsanleihen sind deshalb gut beraten, eine Packung Schlaftabletten auf dem Nachttisch bereitzuhalten. Nur so können sie sicherstellen, dass sie nicht öfters mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Neuen Züricher Zeitung.