»Fürchtet Euch nicht!«
Liebe Leserinnen und Leser,
die Corona-Pandemie lässt uns nicht los, weder medizinisch, noch wirtschaftlich, noch redaktionell. Und so steht sie – fast unweigerlich – mit allen ihren Facetten auch im Mittelpunkt dieser Ausgabe.
Wie es das Wort »Pandemie« schon besagt, ist die gesamte Weltbevölkerung und -wirtschaft betroffen – ein wahrer globaler Schock. Doch dessen Auswirkungen waren und sind je nach Land und Region unterschiedlich gravierend.
Wie stark ein bestimmtes Land von der Corona-Pandemie getroffen worden ist, lässt sich für Jörg Bibow im Kern auf drei Bestimmungsfaktoren zurückführen. Erstens haben Geografie und Struktur der jeweiligen Volkswirtschaft einen wichtigen Einfluss. Zweitens ist die Kompetenz der Regierung sowie der soziale Zusammenhalt der Bevölkerung entscheidend für die lokale Eindämmung der Pandemie und somit der Beherrschbarkeit der Gesundheitskrise. Drittens bestimmt die Kompetenz und Schlagkraft der Makrowirtschaftspolitik, ob und wieweit eine schnelle Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und Erholung der Wirtschaft stattfinden kann – oder nicht.
Die USA haben diese Schlagkraft mit Hilfe der FED fiskalpolitisch zwar bewiesen und die Krise wirtschaftlich abfedern können. Umso mehr aber hat Amerika gesundheitspolitisch versagt. Die Gründe hierfür sind vielfältig, wie Bibow weiß: Sie hängen nicht zuletzt auch mit verbreiteter Armut, fehlendem Krankenversicherungsschutz und fehlender sozialer Absicherung zusammen. Und nun bedrohe Trumps Politik der verbrannten Erde auch die wirtschaftliche Erholung.
Eine halbwegs erfolgreiche Kontrolle der Pandemie hängt sehr stark an einem funktions- und leistungsfähigen System öffentlicher Institutionen, so formuliert es auch Frank Nullmeier, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Das gilt für Einrichtungen der Pflege und Gesundheitsvorsorge über die Verwaltung des Arbeitsmarkts bis hin zur lokalen Verwaltung.
Nullmeier skizziert in seinem Aufsatz, den Berthold Vogel auf MAKROSKOP kommentiert, in welcher Weise die Gesellschaftswissenschaften einen Beitrag zur Bewertung und Einordnung der pandemischen Krise leisten können bzw. sollten. Dass wir die Pandemie und ihre Bewältigung primär virologisch und epidemiologisch angehen, erweise sich immer mehr als problematische Verengung. Nullmeier plädiert für die Entwicklung einer Sozialpolitik des Infektionsschutzes, die öffentliche Institutionen substantiell verändert.
Das Problem mit den Risikogruppen
Die Idee klingt wie die Erlösung: Wir brauchen keinen Teil-Lockdown, keine strikten Kontaktbeschränkungen. Wenn es uns gelingt, die Risikogruppen zu schützen, können alle anderen ein weitgehend normales Leben leben. Trotz Corona. Innerhalb kurzer Zeit – so die Theorie – stecken sich so viele Menschen mit dem Virus an, dass sich in der Bevölkerung eine Immunität aufbaut und die Pandemie von selbst stoppt. Wäre das nicht ein Segen?
Sicher, schreibt Carina Frey – wenn man zu den jungen gesunden Menschen gehört und tatsächlich einen milden Krankheitsverlauf erwarten darf. Doch die Risikogruppe ist ziemlich groß. 23,7 Millionen Menschen in Deutschland sind 60 Jahre und älter – und haben damit laut Robert Koch Institut ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Das entspricht mehr als einem Viertel der Bevölkerung. 21,9 Millionen Männer und Frauen leiden an mindestens einer der Vorerkrankungen die mit einem Risiko schwerer Verläufe einhergeht, hat das Wissenschaftliche Institut der AOK ausgerechnet. Wie all diese Menschen besonders geschützt werden können, bleibe unklar. Doch die Forderung, das gesellschaftliche Leben weiter zu öffnen und vor allem die Risikogruppen zu schützen, führe in eine Zweiklassengesellschaft, findet Frey.
Nicht zur Risikogruppe gehören anscheinend die 600 Delegierten der AfD, die trotz Corona-Lockdown ihren Bundesparteitag im niederrheinischen Kalkar abhalten dürfen – wenn auch mit Maskenpflicht. Dagegen hat die AfD Klage eingereicht, womit das eigentliche Thema der Zusammenkunft vorerst in den Hintergrund rückt – die Sozialpolitik. Denn mehr als sieben Jahre nach ihrer Gründung hat die AfD noch immer kein in sich stimmiges Rentenkonzept. Das soll sich nun ändern. Zu erwarten stehe aber ein fauler Kompromiss zwischen den beiden Parteiflügeln ohne erkennbare Linie, so die Einschätzung von Christoph Butterwegge.
So furchtlos wie die AfD angesichts des Virus sind sonst nur die Grünen, zumindest der Rhetorik nach. »Fürchtet Euch nicht«, rief Annalena Baerbock vom Parteitag der Grünen den »lieben Freundinnen, Freunden und lieben Menschen an den Bildschirmen« zu, »[…] was das Virus kann, können wir schon lange [...]. Wenn wir zusammenarbeiten – wir können Wunder bewirken.«
Dass der Parteitag trotz dieser zelebrierten Furchtlosigkeit und Wundergläubigkeit anders als bei der AfD sicherheitshalber virtuell stattfand, hätte schon Symbolik genug sein können für das, was Baerbocks Rede auszeichnete – ein Schwall von rhetorischen Floskeln, der schon das neue Grundsatzprogramm der Grünen durchsetzt. Anstatt über Fragen der politischen Gestaltung einer sozial-ökologischen Transformation unserer Wirtschaft werde über die »Stärke« von Bekenntnissen diskutiert, kommentiert Paul Steinhardt diese Rede, die eher an eine Erweckungsbewegung erinnerte.