Die große Ernüchterung
Liebe Leserinnen und Leser,
unser heutiger roter Faden: Ernüchterung. In Großbritannien, wo der Johnsonismus zu scheitern droht; mit Blick auf die Pandemie, die anfängliche Hoffnungen auf ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen ausbluten lässt; und auch konjunkturell: wo das V zum W wird. Alles schreit nach einem Green New Deal, oder?
Kann Biden Roosevelt?
Ist man realistisch, ist Joe Biden kein großes Versprechen für progressive Wähler. Vielmehr verkörperte er als professioneller Politiker über Jahrzehnte erfolgreich das, was Tariq Ali als »extremen Zentrismus« bezeichnet. Nach 36 Jahren im Senat und acht Jahren in der Vizepräsidentschaft sind einige seiner Positionen, die in der Vergangenheit als moderat galten, selbst für Mainstream-Wähler zu einem bedenklichen Makel seiner Laufbahn geworden.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird Bidens Präsidentschaft dem neoliberalen Konsensus der letzten Jahrzehnte folgen und in diesem Sinne der Obama-Administration stark ähneln. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass dieser Konsens bröckeln und neuen Kompromissen Platz machen könnte, die für die Linke annehmlicher sind, glaubt der USA-Kenner Andreu Espasa. So hat Biden in Fragen der Außenwirtschaftspolitik angedeutet, es nicht eilig zu haben, jedes Freihandelsabkommen zu revitalisieren, das durch Trump abrupt ausgesetzt worden ist.
Gleichzeitig hat Biden kleinere Schritte nach links angedeutet, insbesondere in der Klimafrage. Die neue Vizepräsidentin Kamala Harris schloss sich Alexandria Ocasio-Cortez an, um den »Climate Equity Act« einzuführen und will auch ohne weitere Hinhaltetaktik den »Green New Deal« verabschieden. Biden selbst hat Roosevelt als inspirierende Figur gelobt, weil er glaubt, dass sie beide in einer ähnlichen Lage den Wahlsieg davon getragen hätten: Das Land ist von der Wirtschaftskrise verwüstet, und Biden habe, wie Roosevelt, versprochen, eine große nationale Wende anzuführen, wobei er, wie Roosevelt, einen mehr pragmatischen denn ideologischen Ansatz verfolge.
Die Verweise auf Roosevelt und den New Deal mögen der Versuch sein, sich populär zu geben, wie es in jüngster Zeit nur dem linken Flügel und den demokratischen Sozialisten gelungen ist. Doch jenseits von politischem Kalkül lassen sich durchaus einige Parallelen zwischen den beiden Präsidenten ziehen, glaubt Espasa.
Strukturauflösungen
Während man in den USA nach vorne schaut und auf das Ende der leidigen Intrigen und Skandale hofft, wird die britische Öffentlichkeit mitten im Schlussakt der Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit der EU von Dominic Cummings und Lee Cains Weggang aus der Downing Street Nr. 10 in Beschlag genommen. Die britische Diplomatie, mit einer so wichtigen Angelegenheit wie dem Brexit befasst, dürfte sich fragen, ob der Abgang zweier wichtiger und hochrangiger Berater von Premierminister Boris Johnson eine weiterreichende Bedeutung hat. Gibt es eine Zukunft für Johnsons politische Vision, jetzt, da er jener Strategen beraubt ist, die ihm zu seinem Sieg bei den Parlamentswahlen 2019 verholfen haben?
Im Verlauf der Coronavirus-Pandemie ist es Johnson nicht gelungen, seine parlamentarische Mehrheit mit 80 Sitzen in ein demokratisches Mandat umzumünzen, so zumindest der Befund von Philip Cunliff. Dies hätte ihm erlaubt, eine Notstandsregelung zu vermeiden und zwischen konkurrierenden Forderungen und Interessen in Reaktion auf die Pandemie zu vermitteln: zwischen den Interessen der Arbeitnehmer, der Regionen, der verschiedenen Industriezweige, ganz zu schweigen von den allgemeineren Anliegen der öffentlichen Gesundheit und bürgerlichen Freiheit.
Sein Scheitern zeige, so Cunliff, wie schwach Johnsons vielversprechend gestartetes politisches Projekt immer war – verstrickt in einer Schar aus nicht gewählten Beratern, denen es an der Fähigkeit mangelte, technokratische Herausforderungen zu bewältigen.
Vielversprechend auch der kurze Augenblick, in dem die Corona-Pandemie den Blick und das Bewusstsein für lang anstehende ökonomische und sozialpolitische Probleme zu schärfen und Lösungen in greifbare Nähe zu rücken schien. Doch die nahezu unversöhnlichen und unergiebigen Streitereien in medialen Diskussionsforen bis hin zu hasserfüllten, gewalttätigen Aktionen bei Demonstrationen zeigen – keineswegs steuert die Gesellschaft einer Lösung ihrer zentralen Probleme, sondern vielmehr einer »Strukturauflösung der öffentlichen Meinung« entgegen.
Überhaupt würden die Anti-Corona-Proteste die tieferliegenden gesellschaftlichen Konfliktlinien konterkarieren, von ihnen ablenken oder sie gar verschütten, indem sich die »Freiheitsfrage« auf das Tragen oder Nichttragen von Corona-Schutzmasken reduziere, schreiben Hans Jürgen Lichey und Dieter Demuth in ihrem tiefsinnigen Essay.
Die Frage ist, wer verursacht diese destruktiven Prozesse? Ihnen liegt der mittlerweile über 40 Jahre währende Siegeszug des nicht nur ökonomisch begriffenen Neoliberalismus zugrunde, so die These von Lichey und Demuth. Ist dieser doch in nahezu alle gesellschaftlichen Poren eingedrungen. Und zwar überziehen seine Handlungsimperative nicht nur in zunehmendem Maße die ökonomischen, sozialen oder politischen Institutionen, sondern zusehends auch die Bewusstseinsstrukturen und seelischen Konstitutionen der Individuen.
Aus »V« wird »W«
Mit der zweiten Infektionswelle verschwand das V als Konjunkturverlauf aus dem Blickfeld. Auf jeden Fall befinden wir uns in der Abwärtsstrecke eines W. Die Frage ist nun, wann wir die letzte und aufsteigende Etappe erreichen werden. Können wir nicht einfach wiederholen, was wir im Sommer, im Frühjahr, getan haben, sobald der Impfstoff da ist? Das scheint unwahrscheinlich; es könnte sehr wohl sein, dass wir uns in einer zweiten Rezession befinden (zwei aufeinanderfolgende Quartale mit Schrumpfung). Die Ursache hierfür liegt in der Kombination aus Sparpaketen, dem Einbruch des Außenhandels und der gestiegenen Verschuldung – nicht der Staatsverschuldung, sondern der Unternehmensverschuldung.
Man wird vor Schneeballeffekten auf der Hut sein müssen, wenn aus aufgeschobenen Zahlungen endgültig ausbleibende Zahlungen werden, konstatiert daher Dirk Bezemer.
Wenn wir solche Prozesse in der gesamten Eurozone beobachten, dann droht durch die angeschlagenen Banken eine finanzielle Instabilität. Noch sind wir nicht so weit, aber die Europäische Zentralbank bereitet bereits eine Bad Bank für faule Kredite vor. Denn das Durchwursteln mit hohen Schulden und vielen »faulen Krediten« wird zu einer anhaltenden Stagnation führen. Dann haben wir es nicht mit einem V oder W, sondern mit einem VL-Szenario zu tun.