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Vier Irrtümer einzelwirtschaftlichen Denkens
Von Armin Groh
| 15. Dezember 2020istock.com/petervician
Wirtschaftswissenschaft ist für Sie Neuland, das Sie betreten möchten? Dann lassen Sie sich wie Lukas von Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen.
Im letzten Teil hat Jakob Lukas die gesamtwirtschaftliche Rolle von Schulden erklärt. Offen blieb dabei, ob Staatsschulden nicht nachteilig sind, weil sie Zinsen kosten und eine Belastung für die zukünftigen Generationen sind. Diese Einwände nimmt Jakob heute zum Anlass, den Unterschied eines gesamtwirtschaftlichen von einem einzelwirtschaftlichen Denken noch einmal anhand vierer Beispiele zu verdeutlichen: Staatsschulden, Zinsen, Sozialstaat und Rente.
»Für einen privaten Haushalt ist es besser, Ersparnisse zu haben, als Schulden. Schulden empfinden wir als Belastung. Wir befinden uns im Defizit. Diesen Gedanken übertragen wir auf den Staat. Wir haben den Eindruck, wenn der Staat zusätzliche Schulden aufnimmt, vergrößert sich das Defizit der Volkswirtschaft. Wenn wir dagegen Schulden zurückbezahlt haben, empfinden wir das als positiv. Wir sind aus dem Defizit raus. Auch das übertragen wir auf den Staat. Es ist besser für die Volkswirtschaft, wenn er seine Schulden abbaut.
Wie wir am Kinobeispiel gesehen haben, gilt aber das, was für einen Einzelnen zutrifft, nicht unbedingt für die Gesamtheit. Tatsächlich genügen wenige Überlegungen, um zu zeigen, dass zusätzliche Staatsschulden das Geldvermögen einer Volkswirtschaft nicht verringern. Zunächst müssen wir beachten, dass zum Geldvermögen auch Forderungen wie Staatsanleihen und Kredite gezählt werden. Wer eine Staatsanleihe über 1000 € besitzt, hat dieses Geld zwar aktuell nicht zur Verfügung. Er besitzt aber eine Forderung gegenüber dem Staat, dieses Geld zuzüglich der Zinsen nach einem bestimmten Zeitraum wieder zurückzuerhalten. Die Staatsanleihe ist Teil seines Geldvermögens. Jemand, der sein Auto verliehen hat, würde ja auch nicht sagen, dass sich sein Sachvermögen durch den Verleih des Autos verringert hat.
Wenn der Staat Schulden aufnimmt, entsprechen diese Schulden genau den Forderungen derjenigen, die dem Staat durch eine Staatsanleihe oder einen Kredit Geld geliehen haben. Darüber hinaus erhält der Staat aber durch die Aufnahme der Schulden auch den geliehenen Geldbetrag. Der Staat verwendet dieses Geld für seine Ausgaben. Er beauftragt Bauunternehmen für die Autobahnsanierung, er lässt Windkraftanlagen produzieren und bezahlt Beamte oder Rentner. Irgendjemand wird dieses Geld besitzen. Dass sich das Geldvermögen der gesamten Volkswirtschaft durch Staatsschulden verringert, ist also falsch.
Wenn der Staat dagegen seine Schulden zurückbezahlt, muss er mehr Einnahmen haben als Ausgaben. Irgendjemand muss also Geld weggenommen werden. Wer dem Staat in Form einer Staatsanleihe dagegen sein Geld geliehen hat, bekommt es bei einer Rückzahlung zuzüglich der Zinsen zwar wieder, sein Geldvermögen wächst dadurch aber nicht, denn die eingelöste Forderung gegen den Staat war bereits Teil seines Geldvermögens. Die Staatsschulden werden folglich zwar geringer, aber für andere Akteure der Volkswirtschaft entstehen in derselben Höhe Defizite. Dass eine Volkswirtschaft durch Verringerung der Staatsschulden reicher wird, ist also ebenfalls falsch. Unsere einzelwirtschaftlichen Vorstellungen lassen sich also wieder einmal nicht auf die Gesamtwirtschaft übertragen.«
»Und was bedeutet das für die nächsten Generationen?«
»Wenn Staatsschulden das Geldvermögen einer Volkswirtschaft nicht verringern, verringern sie auch nicht das Geldvermögen der kommenden Generationen. Wir vererben der nächsten Generation nicht nur die Staatsschulden, sondern auch das entsprechende Geldvermögen. Je nachdem, wie viel gespart wird und wie sehr die Wirtschaft wachsen soll, ist es sogar notwendig, der nächsten Generation Staatsschulden zu vererben. Wie bereits gezeigt: Wenn die privaten Haushalte kontinuierlich sparen, die Unternehmen nicht genug investieren und der Staat nicht einspringt, gerät die Wirtschaft in eine Krise. Dann sinken die Steuereinnahmen und steigen die Ausgaben für Arbeitslosengeld, Insolvenzen oder Bankenrettungen. Die Vermeidung von Staatsschulden führt dann erst recht zu einer Belastung des Staatshaushaltes und zu neuen Staatsschulden. Wenn in einer Volkswirtschaft dagegen die Produktivität steigt, steigt normalerweise auch die Geldmenge und damit auch die Schulden. Dass die Schulden eines Staates anwachsen, ist aus dieser Perspektive eine ganz natürliche und meistens notwenige Entwicklung. In den USA sind die Staatsschulden seit 182 Jahren immer weiter angewachsen. Aber eben auch das Geldvermögen.«
»Und was ist mit den Zinsen?«
»Wenn die Zentralbank der Regierung wie in Kanada Geld direkt zur Verfügung stellt, braucht sie keine Zinsen zu verlangen. In der Eurozone kann die Zentralbank die Zinsen für Staatsanleihen dadurch senken, dass sie Staatsanleihen aufkauft. Was sie tatsächlich auch tut.
Wenn wir über Zinsen für Staatsschulden klagen, sollten wir bedenken, dass auch das eine einzelwirtschaftliche Perspektive ist. Irgendjemand in der Volkswirtschaft wird dieses Geld ja bekommen. Viele klagen über zu niedrige Zinsen. Auch das ist wiederum eine einzelwirtschaftliche Perspektive. Irgendjemand muss diese Zinsen ja bezahlen. Wenn wir die gesamte Volkswirtschaft betrachten, sind Zinsen ein Nullsummenspiel. Die einen klagen über hohe Zinsen für Hauskredite, die anderen über niedrige Zinsen für Spareinlagen. Die einen klagen über teurere Produkte oder niedrigere Löhne, wenn die Unternehmen hohe Zinsen bezahlen müssen, die anderen klagen wiederum über niedrige Zinsen auf Spareinlagen. Ob hohe oder niedrige Zinsen gut für die Wirtschaft sind, hängt von anderen Faktoren ab. Für die gesamte Volkswirtschaft sind Zinsen aber niemals ein Einkommen, denn was der eine gewinnt, verliert der andere.
Für die Volkswirtschaft als Ganzes gibt es nur eine Möglichkeit, ihren Reichtum zu vergrößern: Sie muss ihre Produktivität steigern. Denn das ist es ja letztlich, worauf unsere Wünsche an Lohn- oder Zinseinkommen abzielen: Wir wollen uns etwas leisten können. Im Unterschied zu armen Ländern können wir uns nicht deshalb so viel leisten, weil irgendwo Zinseinnahmen herkommen, sondern weil unsere Wirtschaft so leistungsfähig ist.«
»Weshalb wir uns auch einen Sozialstaat leisten können.«
»Richtig. Wenn wir uns eine steinzeitliche Kultur vorstellen, in der jeder an einem Tag gerade so viel Nahrung in den Wäldern finden kann, wie er selbst braucht, dann wäre es unmöglich, kranke und schwache Menschen mit genügend Nahrung zu versorgen. Wenn wir uns auf der anderen Seite einen Staat vorstellen, in dem die Technik so weit fortgeschritten ist, dass niemand mehr arbeiten muss, könnte jeder vom ›Sozialstaat‹ leben. Wie viele Menschen in einem Staat leben können, ohne arbeiten zu müssen, hängt also zunächst einmal von der Produktivität ab.«
»Ich habe aber gehört, der Sozialstaat sei ›zu teuer‹.«
»Das ist wiederum eine einzelwirtschaftliche Perspektive. Bezogen auf Dich macht diese Formulierung Sinn, weil Du tatsächlich zu wenig Geld haben kannst, um etwas zu kaufen. Aber die Volkswirtschaft als Ganzes kann über den Staat ja Geld selbst herstellen. Außerdem ist das Geld, das für den Sozialstaat ausgegeben wird, nicht einfach weg. Mir sind bestimmte Dinge zu teuer, weil das dafür ausgegebene Geld dann nicht mehr in meinem Besitz wäre und ich mir damit nichts anderes mehr kaufen könnte. Auch das ist eine einzelwirtschaftliche Vorstellung. Wenn wir die Volkswirtschaft als Ganzes betrachten, ist das an die sozial Schwachen abgegebene Geld immer noch da. Die sozial Schwachen kaufen mit dem Geld Güter, das an die Unternehmen fließt. Es würde durchschnittlich sogar mehr Geld an die Unternehmen fließen, als wenn dieses Geld an Menschen mit höherem Einkommen abgegeben würde, weil die sozial Schwachen statistisch weniger sparen.
Mit der Aussage, der Sozialstaat sei zu teuer, könnte auch gemeint sein, dass die Produktivität nicht hoch genug ist, um die Produkte herzustellen, die die Sozialhilfeempfänger sich kaufen wollen. Aber das ist für die reichen Industrienationen meist überhaupt kein Problem, denn die Unternehmen sind im Allgemeinen nicht ausgelastet und könnten ihre Produktivität leicht steigern. Es könnte damit natürlich auch gemeint sein, dass wir die Produkte, die die Sozialhilfeempfänger bekommen oder bekommen könnten, selbst haben wollen. Mit anderen Worten: Wir wollen die Steuern für die Sozialhilfe nicht bezahlen. Das wäre dann eine Frage der Moral und der Gerechtigkeit.«
»Am Sozialstaat sind aber auch die Arbeitgeber beteiligt. Was ist mit deren Belastung durch Lohnnebenkosten, über die wir gesprochen hatten? Haben sie dann nicht weniger Geld zur Verfügung, um zu investieren?«
»Auch das ist – wieder und wieder – eine einzelwirtschaftliche Perspektive. Ein einzelner Unternehmer hat mehr Geld, um zu investieren, wenn er keine Lohnnebenkosten bezahlen muss. Wenn er überhaupt keine Löhne bezahlen müsste, hätte er noch mehr Geld zur Verfügung. Würden das aber alle Unternehmer machen, würde sofort die Nachfrage einbrechen. Wie bereits erläutert, ist für den Unternehmer die Nachfrage das entscheidende Kriterium für eine Investition. Er möchte seine Produkte ja losbekommen. Da Arbeitnehmer wie Sozialhilfeempfänger durchschnittlich weniger sparen als Unternehmer, sind Lohnnebenkosten volkswirtschaftlich sinnvoll: Sie führen zu einer höheren Nachfrage. Die Nachfrage muss ja mindestens so hoch sein, dass die hergestellten Güter auch gekauft werden.«
»Aber je mehr der Unternehmer von seinen Einkünften an die Arbeitnehmer und die Sozialhilfe abgeben muss, desto eher ist er gezwungen, einen Kredit aufzunehmen, wenn er investieren will.«
»Richtig. Aber das sollte in einer wachsenden Wirtschaft der Normalfall sein. Ein einzelner Unternehmer kann seine Produktivität steigern, indem er mit seinen Profiten eine Investition tätigt. Diese Strategie lässt sich aber nicht verallgemeinern und auf alle Unternehmer zusammen anwenden. Denn für die zusätzlichen Produkte, die durch Investitionen in der Volkswirtschaft hergestellt werden, braucht es auch mehr Geld, mit dem diese Produkte gekauft werden können. Wie bereits erläutert, entsteht dieses Geld bei der Kreditvergabe durch die Geschäftsbanken. Investitionen sind aus postkeynesianischer Sicht also ebenfalls kein Argument gegen einen großen Sozialstaat.«
»Zum Sozialstaat gehören aber auch die Renten. Was ist, wenn die Zahl der Rentner wächst?«
»Oft wird gesagt, dann müssen die Rentner etwas für das Alter zurücklegen. Sie sollen dazu eine private Rentenversicherung abschließen. Was würdest du dazu sagen, nachdem was du jetzt gelernt hast?«
»Ich denke, das wäre wieder eine einzelwirtschaftliche Perspektive. Man stellt sich vor, in einem Teil der Volkswirtschaft wachsen Ersparnisse an, die später wieder ausgegeben werden. Aber wenn die Erwerbstätigen anfangen, zu sparen, entziehen sie dem Wirtschaftskreislauf Geld. Sie können nur erfolgreich sparen, wenn zugleich Schulden anwachsen. Eine Volkswirtschaft kann gar nicht Geld für die Zukunft ansparen, denn die Schulden müssen in derselben Höhe mitwachsen.«
»Richtig. Das ist Keynes‘ Sparparadoxon, über das wir schon gesprochen hatten. Wenn die Erwerbstätigen in Rente gehen, hängt ihre Rente in erster Linie davon ab, wie groß die Produktivität der Wirtschaft ist. Das Sparen ist aber eher eine Gefahr für die zukünftige Produktivität. Wenn es mehr Rentner gibt, gibt es folgende Möglichkeiten: Die Rentner bekommen einen größeren Teil von der Produktivität, das heißt, die anderen müssen höhere Abgaben bezahlen. Oder die Rente wird gekürzt. Oder die Produktivität der Volkswirtschaft erhöht sich mit der Zahl der Rentner entsprechend so, dass es weiterhin genauso viel an jeden Rentner zu verteilen gibt, ohne dass die anderen weniger haben müssen. Da die Unternehmen nicht ausgelastet sind, könnten wir uns leicht höhere Renten leisten.«
»Es wäre also aus postkeynesianischer Sicht kein Problem, den Sozialstaat wieder zu vergrößern.«
»Nein, aus postkeynesianischer Sicht müsste dein Großvater keine Geldsorgen haben. Gut, jetzt hast du einige Grundgedanken des Postkeynesianismus kennen gelernt. Da wir bis jetzt nur die theoretischen Grundlagen der Neoklassik und des Postkeynesianismus behandelt haben, sollten wir uns die Anwendung dieser Theorien an Hand eines konkreten Beispiels anschauen. Dafür schlage ich die anfangs erwähnte Griechenlandkrise vor.«
»Ich bin gespannt.«
Im nächsten Artikel werden die nach der Finanzkrise in Griechenland durchgeführten Strukturreformen aus neoklassischer und postkeynesianischer Sicht beurteilt.
Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buchprojekt »Thinking for Future«, das die politische Philosophie und angrenzende Sozialwissenschaften thematisiert.