Spotlight

EUropa, quo vadis?

| 21. Oktober 2022
istock.com/Bonilla1879

Liebe Leserinnen und Leser,

Die Europäische Union ist mit den Herausforderungen tiefgreifender Umbrüche konfrontiert. Aus einer Serie externer Schocks wie der Covid-19-Pandemie, massive Lieferkettenprobleme, dem Ukraine-Krieg und den Nachwehen der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/2008 gehen Probleme hervor, die an Tiefe und Komplexität ihresgleichen suchen.

Nun rächt sich ein Geburtsfehler der EU – ihre institutionelle Fehlkonstruktion, die bereits 1992 im Vertrag von Maastricht verankert wurde. Drei Jahrzehnte später zerschellt der Geist von Maastricht, strukturell überfordert, an Problempanoramen, in denen unterschiedliche Logiken wirken, die weder national von den nur noch begrenzt-souveränen Mitgliedsstaaten noch supranational von Brüssel aus zu managen sind. Schmerzhaft wird deutlich, was gerade jetzt nötiger denn je wäre: Die Europäische Union ist keine politische Gemeinschaft, die einen einheitlichen Willen ausbilden könnte. Deutlich wird das dieser Tage am Fehlen einer gemeinsamen und kohärenten Außen- und Energiepolitik.

Die Folge sind suboptimale Problemlösungen, erzwungene „Muddling-Through“-Politiken, die weit entfernt von einer abschließenden Lösung sind. Damit tritt nicht nur die Handlungsunfähigkeit und das Versagen der EU-Bürokratie immer mehr in den Vordergrund, auch die Legitimation des europäischen Integrationsprozesses – in seiner bisherigen Gestalt – bröckelt.

Das beste Beispiel für verschleppte Lösungen sind die jüngsten Turbulenzen auf den Finanzmärkten. Die lange Phase des „quantitative easing“, eine Reaktion auf den Bankencash und die Schuldenkrise in den südlichen Euroländern seit 2008, entfaltet zunehmend Nebenwirkungen. Die Ankündigung der neuen britischen Regierung, hohe Kredite aufzunehmen um Steuern zu senken, versetzte die Märkte Ende September in Schock. Schuld am Beinahe-Crash waren vor allem Pensionsfonds, die panikartig britische Staatsanleihen abstießen. Die Bank of England sah sich zum Eingreifen gezwungen, obwohl sie eigentlich das Gegenteil geplant hatte.

In Großbritannien zeigte sich, dass die Entwicklung der Preise für Staatsanleihen eine Gefährdung der Refinanzierungsbasis des auf Staatsanleihen basierenden Finanzsystems darstellt. Es sind die Risiken eines sich seit der Finanzkrise herausgebildeten Zentralbankkapitalismus, der einen aufgeblähten und dysfunktionalen Finanzsektor mit seinen Injektionen vor dem Zusammenbruch bewahrt: Ohne das Eingreifen der Bank of England hätte sich aus einem Strohfeuer ein Flächenbrand entwickeln können – mit all den fatalen Folgen für die Realwirtschaft wie in der vergangenen Krise.

All das steht in einem seltsamen Kontrast zu den Verheißungen von 1992. Die Neologismen, die in dieser Zeit erfunden wurden, um Skeptiker zu beschwichtigen, wirken heute wie Blendwerk. Der Lohn für "Geteilte Souveränität" oder "begrenzte Souveränität" sollte Wohlstand und Wachstum in Europa, die gemeinsame Währung das Rezept gegen das damalige trübe politische Klima sein, so die damaligen Versprechungen der Föderalisten.

Tatsächlich sehen sich seitdem nicht nur die mitgliedstaatlichen Demokratien einem Prozess schleichender Aushöhlung ausgesetzt. Auch der regulierte Kapitalismus geriet in den Schleifstein der europäischen Grundfreiheiten: freie Bewegung auf den Märkten für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit mit dem Ziel der Binnenmarktvertiefung. Das schneidet tief die Wirtschafts- und Sozialsysteme der Mitgliedstaaten. Der eigentümliche europäische Politikmodus engt also nicht nur demokratische Spielräume ein, sondern gibt zudem eine politische Richtung vor – die Durchsetzung von Liberalisierungspolitik. Doch gerade das erweist sich als anachronistisch in Zeiten, in denen die Bedeutung kritischer Infrastrukturen schmerzhalt in Erinnerung gerufen wird.

Und so bleibt angesichts der beißenden Ungewissheiten der Zukunft eine Feststellung und Frage zugleich: Europa ja, aber welches?