Ukraine-Krieg

Zeitenwende – wohin?

| 21. Oktober 2022

Der Wirkungsanspruch des Zeitenwende-Paradigmas von Olaf Scholz weist über die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr hinaus. Er zielt auf eine rigorose Abrechnung mit wesentlichen Teilen deutscher Geschichte und Politik. Dabei droht eine überbordende Moralisierung rationale Analysen und Politikformulierungen zu verdrängen.

Redaktionelle Vorbemerkung: Dieser Artikel repräsentiert den Stand der Dinge von Ende Mai 2022.

Seit geraumer Zeit ist bekannt, dass sich die Gesellschaften des Gegenwartskapitalismus in einem tiefgreifenden Umbruch befinden. Die Spezifik der historischen Situation besteht im Aufeinandertreffen säkularer Umbrüche mit einer Serie externer Schocks. Während etwa die Globalisierung, die Digitalisierung sowie der Klimawandel zu den großen Umbrüchen gehören, lassen sich die Covid-19-Pandemie, massive Lieferkettenprobleme sowie der Ukraine-Krieg als unvorhergesehene äußere Schockereignisse fassen. Aus dieser Gleichzeitigkeit gehen Probleme hervor, die an Tiefe und Komplexität ihresgleichen suchen.

Das hat Folgen für die Politik. Strukturell überfordert steht sie vor Problempanoramen, in denen unterschiedliche Logiken wirken, die kaum zu managen sind. Dabei wächst das Risiko in dem Maße, in dem sich die Problemdeutungen von ökonomischen Gewinn- und politischen Machtinteressen entfernen. Die Folge sind suboptimale Problemlösungen, die den Konflikten befristet ihre Brisanz nehmen, aber oftmals weit entfernt von einer abschließenden Lösung sind. Die so erzwungenen „Muddling-Through“-Politiken erscheinen als Handlungsunfähigkeit und subjektives Versagen der handelnden Akteure und nagen an der Legitimation demokratischer Entscheidungsprozeduren.[1]

Um Ansehensverlust zu vermeiden, bietet es sich an, kommunikativ die Komplexität der Problemlagen zu reduzieren und eine einzelne Ursache als die alles entscheidende hervorzuheben, die dann mit moralisch unterlegter Entschlossenheit und inszenierter Schlagkraft angepackt werden kann. So entsteht der Eindruck von normativer Verlässlichkeit und politischer Handlungsfähigkeit. Das schafft Vertrauen und dient dem Image als zupackendem Entscheider, was sich letztlich an der Wahlurne auszahlt. Die durch die Digitalisierung beschleunigten Medien, denen komplexe Problemanalysen ohnehin ein Graus sind, assistieren dabei gerne. Mehr Zeit in Anspruch nehmende Versuche der Politik, durch sachgerechte Analysen zu sachgerechten Politiken vorzustoßen, werden als Unentschlossenheit, Führungsschwäche und mangelnde Tatkraft abgewertet. Auch das hat Konsequenzen bei der jeweiligen nächsten Wahl.

Der Ukraine-Krieg als Exempel

Die Positionierung der deutschen Politik gegenüber dem Ukraine-Krieg kann als Beispiel einer solchen Konstellation herangezogen werden. Um dem Schockerlebnis der militärischen Aggression rhetorische Wucht zu verleihen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem Begriff der „Zeitenwende“ ein neues Paradigma in die Öffentlichkeit eingeführt. Parteiübergreifend und mit nur wenigen Ausnahmen fand dieses Zustimmung. Gleiches galt für die mitgelieferte Ankündigung einer imposanten Aufrüstungsinitiative. Doch der Wirkungsanspruch des Zeitenwende-Paradigmas weist über die beschlossenen 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr und einen Bundeswehretat von mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) hinaus. Er zielt auf eine rigorose Abrechnung mit wesentlichen Teilen deutscher Geschichte und Politik.

Mit dem Gestus eines auftrumpfenden Realismus, der seine Zeit gekommen sieht, werden Essentials eines sozial-demokratisch-linken Selbstverständnisses zu eklatanten Fehlern der Vergangenheit erklärt und auf diese Weise abgeräumt. Das geschieht mit einem Übermaß an moralischen Be- und vor allem Verurteilungen. Dabei leistet die sich immer weiter militarisierende öffentliche Debatte ganze Arbeit. Nicht nur der bereits Jahre zurückliegende Umgang des damaligen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier mit der russischen Regierungsspitze, sondern gleich die ganze Entspannungspolitik wird geradezu zum Beginn der Kriegskatastrophe umgedeutet. Zu viel Diplomatie, zu wenig Militär, so ließe sich die Essenz dieser neuen Variante des Geschichtsrevisionismus auf eine Formel bringen. Entspannungspolitik, Kooperation und  diplomatische Konfliktprävention – alles eine große Illusion.

Auffällig ist der besondere Eifer ehemals Friedensbewegter. Zu ihnen gehört etwa die, so Jürgen Habermas, „zur Ikone gewordene Außenministerin“. Befördert durch die erstaunliche „Konversion ehemaliger Pazifisten“, diagnostiziert Habermas einen Konflikt „zwischen denen, die empathisch, aber unvermittelt die Perspektive einer um ihre Freiheit, ihr Recht und ihr Leben kämpfenden Nation einnehmen, und denen, die aus den Erfahrungen des Kalten Krieges eine andere Lehre gezogen und – wie doch die auf unseren Straßen Protestierenden auch – eine andere Mentalität ausgebildet haben. Die einen können sich einen Krieg nur unter der Alternative von Sieg oder Niederlage vorstellen, die anderen wissen, dass Kriege gegen eine Atommacht nicht mehr im herkömmlichen Sinne ‚gewonnen‘ werden können.“[2]

Nun birgt die Personalisierung politischer Phänomene stets die Gefahr einer analytischen Engführung und einer unbotmäßigen persönlichen Verunglimpfung in sich, die es in diesen überhitzten Debatten unbedingt zu vermeiden gilt. Doch nicht ohne Anlass macht die Rede vom „Hofreiter-Syndrom“[3] die Runde, profilierte sich der wohl prominenteste Repräsentant des linken Flügels der Grünen doch in besonderem Maße mit der Forderung nach immer schwereren Waffenlieferungen in die Ukraine.

Nicht minder ratlos steht man vor dem Phänomen, dass sich selbst die Sozialdemokratie an der Diskreditierung von Entspannungspolitik und diplomatischen Problemlösungsanstrengungen und damit auch der eigenen Geschichte beteiligt. Wenn Sozialdemokraten wie der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth, in den Verhandlungen von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher mit Boris Jelzins Russland eine fatale Politik „zulasten der anderen Staaten des östlichen Europas“[4] sieht, mag dies noch als Versuch gewertet werden können, aus der aktuellen Debatte kurzfristigen parteipolitischen Profit schlagen zu wollen. Doch unfreiwillig zeugt es von der Wucht, mit der der neue Zeitgeist das nicht gerade ausgeprägte Selbst- und Geschichtsbewusstsein führender Sozialdemokraten entsorgt, für die die Entspannungspolitik ein identitätsstiftendes Element war. Gerade der Sozialdemokratie wird diese Flucht in den Mainstream noch schwer zu schaffen machen. Der Rausch des Gleichschritts mit dem Zeitgeist wird bald abklingen, der folgende Kater wird andauern.

Der Drang nach moralischer Eindeutigkeit

Insgesamt ist die allgegenwärtige Akzeptanz monokausaler Erklärungen verblüffend. Insbesondere der Drang nach moralischer Eindeutigkeit befördert den Rückfall in ein naives Geschichtsverständnis. Die Bereitschaft, sich bei komplexen Fragen mit einfachen Antworten zu begnügen, ist offenbar kein Alleinstellungsmerkmal bildungsferner Opfer des Rechtspopulismus. Auf einmal gilt auch in der politischen und medialen Elite: eine Ursache, eine Antwort. In diesem Fall: ein Aggressor, eine Rüstungsoffensive dagegen. Und Schluss. Zweifelsohne dient diese Fokussierung auf eine Problemdimension dem Versuch, die Politik zu entlasten. Wenn die moralische Problemdimension dominiert, scheinen vor allem gesinnungsethisch rigorose Reaktionen angemessen.

Doch eigentlich sollte sich herumgesprochen haben, dass historische Ereignisse immer Resultate eines multifaktoriellen Ursache-Wirkungsgeflechts sind. Die Aufgabe seriöser Zeitdiagnosen besteht darin, den Stellenwert der einzelnen Faktoren und die Folgen ihres wechselseitigen Zusammenwirkens zu erkunden. Natürlich darf die Adressierung Putins als dem verantwortlichen Aggressor nicht im Beharren auf einem multifaktoriellen Ursachenbündel versickern. Doch moralische Schuldzuweisungen sind das eine, rationale Problemanalysen das andere.[5] Dabei geht es weder um moralische Entlastung des Aggressors noch um Zweifel am Charakter des russischen Überfalls als einem völkerrechtwidrigen Angriffskrieg. Doch wer die Spezifik der Situation verstehen will, kommt um eine Analyse diverser Entwicklungen und Kausalbeziehungen nicht herum. Dies gilt umso mehr, wenn der gesinnungsethische Rigorismus seine Strahlkraft verliert und die Notwendigkeit verantwortungsethischer Problembearbeitung unabweisbar wird.

Der geopolitische Kontext

Einen solchen Blick auf das „Konfliktfeld, dem der Krieg entsprang“[6], wirft der britische Oxford-Historiker Tony Wood.[7] Wood verortet den Ukraine-Krieg im Kontext dreier eng miteinander verwobener Dynamiken. Erstens der inneren Entwicklung in der Ukraine seit dem Ende des Kalten Krieges. Dabei erlebte die Ukraine eine „polyzentrische Version der oligarchischen Bereicherung“, was mit Konflikten zwischen den regional verankerten Clans verbunden war und in dessen Verlauf die sich herausbildende Westorientierung mit einer gesellschaftlichen Spaltung und dem Erstarken rechtsnationaler Bewegungen einherging – alles Tatbestände, die durch die Debatte um die zügige Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union allmählich öffentliche Aufmerksamkeit gewinnen. Zweitens das Vordringen von Nato und EU in das strategische Vakuum, das mit dem Verschwinden des Ostblocks entstanden war, wobei insbesondere den USA unter der Bush-Administration eine treibende Rolle zuzuschreiben ist. Und drittens Russlands Weg vom postsowjetischen Niedergang zu einem großrussischen Nationalismus, der die Intervention in der Ukraine mit unterschiedlichen ideologischen Versatzstücken zu legitimieren sucht und der nicht nur im Denken Putins, sondern in weiten Teilen der russischen Eliten verankert ist. „Das Zusammentreffen und Zusammenwirken dieser drei Dynamiken“, so schlussfolgert Wood, „bildet den breiteren Kontext, in dem Russland dann seine Aggression beging.“

Die Sache scheint also komplizierter zu sein, als es die Talkshows und die Rufe der neuen Moral-Bellizisten nahelegen. Selbst in der Auflösung der Sowjetunion eine historische „Katastrophe“ zu sehen, ist kein Privileg Putins oder verbliebener Anhänger des russischen Staatssozialismus. Auch konservative Realisten wie der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher fürchteten, dass das Ende der Systemkonkurrenz den Beginn einer Periode globaler Unsicherheit und Unberechenbarkeit einleite.[8] Daher ihre wiederholte Zusicherung gegenüber Russland, auf eine Osterweiterung der Nato zu verzichten und dortige Bedrohungsängste nicht zu schüren. Als der Bonner Botschafter im Zuge der Debatte um einen Nato-Beitritt Polens, Ungarns und Rumäniens im Jahre 1991 über ein Gemisch aus „Bedrohungsperzeption, Isolationsangst und Frustration über die Undankbarkeit der damaligen Bruderländer“ in Moskau berichtete, verstärkte offenbar Außenminister Genscher seine Anstrengungen, genau dies zu verhindern.[9]

Heute wissen wir: Befürchtungen dieser Art waren berechtigt. Die Auflösung der Nachkriegsordnung und der Übergang in eine multipolare Weltordnung hat neben der verbliebenen Weltmacht USA und der militärischen Atommacht Russland mit China und Indien neue mächtige Spieler auf die weltpolitische Bühne treten lassen. Zugleich entstanden und entstehen neue Konfliktlinien und spannungsgeladene Akteurskonstellationen. Der Handelskrieg zwischen den USA und China ist nur eine Facette dieses neuen Kalten Krieges.[10]

Es wäre schlicht naiv, anzunehmen, dass in diesem Konflikt um die Neuaufteilung von wirtschaftlichen und geopolitischen Einflusssphären der Westen ohne imperiale Machtansprüche agieren würde. Dass die Nato mit ihrer immer offensiveren Osterweiterung Einkesselungsängste in Moskau verstärkt hat, ist evident. Dass diese Expansion die entscheidende Ursache für Putins Aggression darstellt, ist hingegen keineswegs gewiss. Hier gilt es, vor allem Ursachen, Entstehung und Verlaufsformen des immer aggressiveren Großmacht-Chauvinismus in Russland herauszuarbeiten.[11] Dabei entlastet die nach Kausalitäten fragende Problemanalyse nicht vom Druck einer normativen und politischen Parteinahme. Auch schützt sie nicht vor der nur allzu verständlichen Empörung über die menschenverachtende Kriegsführung Putins. Aber sie stellt das fällige Moralurteil auf ein rationales Fundament, das vernunftgeleitete Abwägungen nicht scheinbar überlegenen moralisch aufgeladenen Affekten opfert.

Das Versagen der Medien

Nach den Regeln einer deliberativen Demokratie käme hier den Medien eine bedeutende Rolle zu. Doch statt Fakten liefern sie vor allem Emotionen, statt Analysen Empörungsverstärker. In Endlosschleifen werden Schreckensbilder des Krieges präsentiert, auch dort, wo sie nichts mehr zum Verständnis der Lage beitragen und den Beobachter lediglich emotionalisiert zurücklassen.

Ohne die mediale Verstärkung könnten auch die Versuche der „moralischen Erpressung“ (Jürgen Habermas) kaum ihre immense Wucht entfalten. Diese wurden insbesondere durch den – sich immer wieder in rechtsnationalistischen Kreisen bewegenden – ehemaligen ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk[12] mit hoher Professionalität ins Werk gesetzt. Die aggressiv vorgetragenen Beleidigungen deutscher Regierungsrepräsentanten hätten in weniger aufgeregten Friedenszeiten sicherlich die Abberufung des für den diplomatischen Dienst ungeeigneten Ukrainers zur Folge gehabt. Doch im medialen Resonanzraum werden sie zu moralisch überlegenen Notwehrmaßnahmen aufgewertet. Die Omnipräsenz in den Interviewspalten der Printmedien und den Talkshows privater wie öffentlich-rechtlicher Anstalten sichert dabei die Bühne, auf der das moralische Schwarz-Weiß-Spiel aufgeführt werden kann.

Dagegen werden mehr oder weniger gelungene Versuche, vor den nuklearen Eskalationsgefahren durch immer weitere Waffenlieferungen zu warnen und die zögerliche Haltung des Bundeskanzlers zu unterstützen, kaum auf Pro- und Contra-Argumente abgeklopft. Vielmehr geraten sie umgehend in einen medialen Shitstorm, in der die moralische Diskreditierung der Sprechenden die Prüfung des Arguments verdrängt.[13]

Eine derart emotionalisierte und boulevardisierte Berichterstattung trägt so gut wie nichts zu einer nüchternen Problemanalyse bei, von kritisch-rationalen Diskursen zur gesellschaftlichen Verständigung über essentielle Gegenwarts- und Zukunftsthemen ganz zu schweigen. Dem späten Triumph der konservativen Entspannungsgegner in der Außenpolitik durch den Mea-culpa-Habitus einstiger Friedensaktivisten folgt der Sieg des medialen Boulevards darüber, was einst Qualitätspresse und öffentlich-rechtliche Qualitätssicherung genannt wurde.

Moralisierung, Militarisierung und Boulevardisierung

Das fatale Zusammenspiel von Moralisierung, Militarisierung und Boulevardisierung schafft einen Kontext, der die Koordinaten der politischen Akteure zu verzerren droht. Er treibt die gesellschaftliche Stimmung in eine Empörungsspirale, die Kausalanalysen und rationale Politikformulierung blockiert. Vor allem bindet sie Aufmerksamkeit und Ressourcen in einer Kriegspolitik, die weder ein diskutiertes und legitimiertes Kriegsziel noch ein politisches Lösungsszenario anzubieten hat. „Der Test für die Politik ist, wie sie endet, nicht, wie sie beginnt“, wird der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger zitiert.[14] Die Gefahr, dass diese Politik den Test nicht besteht, wächst mit Fortdauer des Krieges.

Wie könnte es weitergehen? Wood nennt fünf mögliche Szenarien, ohne Spekulationen über die Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens anzustellen. Erstens das Ausbrechen eines ausgewachsenen Krieges zwischen den Nato-Mächten und Russland; zweitens eine militärische Niederlage Russlands; drittens die Verlängerung des Konfliktes auf unbestimmte Zeit; viertens der rasche Abschluss eines Friedens sowie schließlich fünftens eine militärische Pattsituation, die zu einem bewaffneten Waffenstillstand führt. Niemand kann vorhersagen, welchen Verlauf der Krieg nehmen wird und welche Chancen auf eine Beendigung der Waffenhandlungen sich ergeben. Gleichwohl lassen sich Elemente einer Politik benennen, die die Komplexität der Situation anerkennt, um die Kosten für alle Beteiligten möglichst zu begrenzen.

Zunächst gilt es, der Emotionalisierung und Militarisierung der öffentlichen Debatte mit Analysen und Fakten entgegenzutreten. Wer die Logik der Aufrüstung zu Ende denkt, muss sich schwertun mit einer beschleunigten Aufrüstung eines bis an die Zähne bewaffneten Landes. Die eigentliche Herausforderung besteht vielmehr in der Öffnung von Räumen für nichtmilitärische Lösungen. Zielführender als die fatale Steigerungslogik der Aufrüstung scheint die Rationalität einer „postheroischen Mentalität“, die auf der Einsicht beruht, „dass internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen gelöst werden können – und dass im Fall des Ausbruchs von militärischen Konflikten der Krieg, da er nach menschlichem Ermessen im Hinblick auf das schwer kalkulierbare Risiko eines drohenden Einsatzes von ABC-Waffen nicht mehr im klassischen Sinne mit Sieg oder Niederlage zu Ende geführt werden kann, so schnell wie möglich beigelegt werden muss“.[15]

Auf der Grundlage dieser nach wie vor gültigen Einsichten gilt es zunächst, nichtmilitärische Politikkomponenten zu rehabilitieren und durch offizielle und vor allem informelle Diplomatie Chancen für politische Verhandlungslösungen zu fördern. Dass der Krieg auf absehbare Zeit einen militärischen Sieger hervorbringen wird, ist unwahrscheinlich. Daher muss der Aggressor als zukünftiger Vertragsakteur einer wie auch immer gearteten Waffenstillstands- oder gar Friedenslösung im Blick bleiben. Ob mit oder ohne Putin, am Ende werden legitime Interessen des Aggressors anerkannt und Repräsentanten Russlands als Vertragspartei akzeptiert werden müssen – so schwer dies angesichts der täglichen Bilder aus der Ukraine auch fallen mag.

Eine neue ökonomische und politische Ordnung

Mittelfristig wird aber die Arbeit an einer neuen europäischen und globalen Sicherheitsordnung die entscheidende Aufgabe sein. Ein solcher Zukunftsentwurf mittlerer Reichweite steht zweifelsohne vor der Aufgabe, über Putin hinauszudenken – und zwar in ökonomischer wie in militärischer Hinsicht. Dabei sollte die Neubestimmung des Militärischen nicht auf ausufernde Rüstungsetats und die platte Ingangsetzung einer neuen Rüstungsspirale hinauslaufen. Dass auch konventionelle Kriege im nuklearen Zeitalter unkalkulierbare Eskalationsrisiken in sich bergen, bleibt eine Tatsache und darf im allgemeinen Pseudorealismus der Militarisierung nicht ignoriert werden.

Doch auch wenn das Recht auf Landes- bzw. Bündnisverteidigung sowie die Bereitstellung entsprechender Etats als Ausgangspunkte der Überlegungen akzeptiert werden, muss sich die Debatte doch dem „Mysterium“[16] stellen, warum der Bundeswehr die Erfüllung dieser Aufgaben mit einem Budget von gut 52 Milliarden Euro im Jahr 2021 nicht möglich sein sollte. Eine glaubwürdige Rechtfertigung für ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro und für die Ankündigung, die jährlichen Ausgaben auf über zwei Prozent des BIP zu erhöhen, ist der Bundeskanzler bisher schuldig geblieben. Der Versuch, die offensichtliche Aufrüstungs- in eine vorhandene Mängel beseitigende Ausrüstungsinitiative umzudefinieren, zeugt zwar vom erwachten Selbstbewusstsein der Spin-Doctoren im Bundeskanzleramt. Doch nicht immer gelingt es, mit absichtsvoller Rhetorik die Realität erfolgreich umzudeuten. Trotz nicht optimistisch stimmender Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit bleibt es Aufgabe einer kritischen Öffentlichkeit, die fatale Logik und fehlenden Perspektiven einer reaktivierten Rüstungsspirale in der Debatte zu halten und zu Elementen einer entsprechenden Oppositionspolitik zu machen.

Die Risiken einer Isolation Russlands

Nicht minder anspruchsvoll ist die Architektur nachhaltiger ökonomischer Beziehungen zwischen den kapitalistischen Zentren des Westens und der Rohstoffökonomie Russlands. Auch hier prallt die gesinnungsethische Forderung nach einem sofortigen Totalembargo für Kohle, Öl und Gas aus Russland auf die Realität einer global verflochtenen Ökonomie. Ein sofortiger Lieferstopp russischen Erdgases könnte nicht nur zu einem Einbruch des Bruttoinlandprodukts von drei bis acht Prozent führen; dauerhaftere wirtschaftliche Schäden entstünden dadurch, dass ein abruptes Erdgasembargo die Produktionspotentiale reduziert und Wachstumskräfte schwächt.[17] Auch die Restrukturierung der kapitalistischen „Hyper-Globalisierung“ (Dani Rodrik), deren Dringlichkeit durch die Lieferkettenstörungen der jüngeren Vergangenheit deutlich wurde, könnte weiter erschwert werden.

Darüber hinaus scheint das gegenwärtig beliebte Zukunftsbild eines wirtschaftlich dauerhaft isolierten Russlands nicht zu Ende gedacht. Die russischen Chancen, die abgebrochenen Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen durch verstärkte Kooperationen mit der indischen und der chinesischen Ökonomie zu ersetzen, werden kaum reflektiert. Zugleich bleibt die deutsche Exportökonomie mittelfristig auf russisches Gas angewiesen, sollen ökologische Transformationspfade wie etwa die Ersetzung von emissionsstarker Kokskohle durch deutlich emissionsärmeres Gas in der Stahl- und Grundstoffindustrie nicht verstellt werden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch Gaslieferungen aus einem Staat wie Katar unter moralischen Gesichtspunkten höchst problematisch sind.

Nicht zu unterschätzen ist auch das politische Destabilisierungspotential eines anhaltenden Technologieembargos der russischen Wirtschaft. Diese stehe, so der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Branko Milanovic´, zunehmend unter Druck, ihre Industrien auf der Grundlage von Technologien wiederzubeleben, die seit 30 Jahren vor sich hin rosten und gegenüber dem Weltmarktstandard einen erheblichen Entwicklungsrückstand aufweisen. Eine solche „technologisch regressive Importsubstitution“ sei jedoch mit erheblichen Problemen verbunden.[18] Diese resultieren vor allem aus der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit der so reaktivierten Industriebasis und den umfassenden Dequalifizierungsrisiken der Arbeitskräfte.

Welche politischen Implikationen eine dauerhaft geschwächte ökonomische Basis Russlands haben würde, bleibt offen. Ebenso die Frage, wie ein nicht nur politisch und kulturell, sondern auch ökonomisch isoliertes Russland in eine neue Sicherheitsarchitektur eingebunden werden kann. Historische Belege dafür, dass erzwungene Autarkie einer militärischen Großmacht die Konfliktpotentiale in der Welt reduzieren könnte, existieren jedenfalls nicht.

Wohin geht die gesellschaftliche und politische Linke?

Doch so wichtig eine moralisch tragbare und politisch sachgerechte Positionierung gegenüber dem Ukraine-Krieg auch sein mag, die eigentliche Zeitenwende sollte sich nicht bei der Entsorgung antimilitaristischer Konfliktlösungsstrategien vollziehen. Die fast völlig verschwundene Aufmerksamkeit für die fundamentalen sozialen und ökologischen Jahrhundertaufgaben ist beängstigend. Vor dem Ukraine-Krieg herrschte ein gesellschaftlicher Konsens über ihre Dringlichkeit. Daran gilt es anzuknüpfen. Es geht um die Dekarbonisierung des gegenwartskapitalistischen Produktionsmodells, aber auch um die immer obszönere Ungleichverteilung von Vermögen, Naturverbrauch und Lebenschancen in der Welt.

Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat anlässlich des diesjährigen Gipfels der Reichen und Mächtigen in Davos darauf hingewiesen, dass die anhaltende Covid-19-Pandemie die wirtschaftliche und soziale Spaltung in der Weltgesellschaft erneut vertieft hat. Allein seit März 2021 ist das Vermögen der aktuell 2755 Milliardäre um fünf Billionen US-Dollar gestiegen, von 8,6 auf 13,8 Billionen. Die Kehrseite des unfassbaren Reichtums der Wirtschaftselite ist die extreme Armut eines großen Teils der Weltbevölkerung: Fast die Hälfte der Menschheit – 3,2 Milliarden Menschen – lebt in Armut, das heißt von weniger als 5,50 US-Dollar am Tag. Drei Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung und drei Viertel aller Arbeitnehmer keinen Zugang zu sozialer Sicherung.[19]

Die globalen wirtschaftlichen und politischen Eliten werden diese Fakten auch weiterhin mit gelassener Souveränität bedauern und mit der eingespielten Routine einer elaborierten, gleichwohl politikfreien Kapitalismusschelte beantworten. Doch für die Lebenswirklichkeit der Opfer dieser Missstände dürfte sich absehbar nicht viel ändern.

Wider die Gefahr einer neuen Dolchstoßlegende

Für die gesellschaftliche und politische Linke kann eine moralisierende, aber letztlich folgenlose Kritik keine Option sein. Ohne die Thematisierung der konflikttreibenden Strukturen und Dynamiken des globalen Kapitalismus werden moralisch noch so ambitionierte Politiken zum Scheitern verurteilt bleiben. So wichtig normative Empörung als Antriebskraft politischen Handelns gegen globale Missstände auch sein kann, rationale Problemanalysen von Interessen und Machtansprüchen sowie die Bereitschaft, auf komplexe Problemlagen mit entsprechenden Strategien zu antworten, kann sie nicht ersetzen. Ein solches „reflektiertes Entsetzen“[20] ist für soziale und ökologische wie für militärische Konflikte gleichermaßen unabdingbar.

Deutlich wird: Die gängige Metapher der „Illusion“[21] erweist sich gerade in Feldern als aussagekräftig, für die sie nicht ins Spiel gebracht wurde. Nicht eine auf militärischer Deeskalation und politischen Konfliktlösungen beharrende Politik, sondern der neue Waffenlieferungs-Bellizismus mit seiner Eskalationslogik birgt das brisanteste Risikopotential in sich. Weder die forcierte Aufrüstung noch die dauerhafte Isolierung Russlands bieten eine nachhaltige Zukunftsperspektive.

Trotzdem wächst die Kritik (vor allem, aber nicht nur) aus Osteuropa an der vermeintlich zu zögerlichen Waffenlieferungspolitik Deutschlands. Dass der Bundeskanzler mit seinem nicht durchdachten 100-Milliarden-Rüstungs-Booster diese Geister selbst rief, die ihn nun unter Druck setzen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Sollte die Ukraine den Krieg militärisch verlieren, was sich niemand wünschen kann, könnte diese Kritik in eine neue Dolchstoßlegende übergehen, in der dem Zaudern der deutschen Regierung die Schuld an der Niederlage zugewiesen werden könnte. Teile der deutschen Medien stünden zweifelsohne als Verstärker dieser Vorwürfe bereit. Auch um dieser Gefahr präventiv zu begegnen, muss in der (europäischen!) Debatte daran festgehalten werden, dass nachhaltige Konfliktlösungen im nuklearen Zeitalter nicht durch militärische Siege, sondern nur durch die Errichtung ökonomisch und politisch nachhaltiger Entwicklungsmodelle wahrscheinlich sind.

Kein Zweifel, auch die Kritiker einer militarisierten Öffentlichkeit verfügen nicht über schnelle Antworten auf Krieg, Zerstörung und menschliches Leid. Auch sie müssen sich der Fragilität historisch bewährter Grundsätze stellen. Doch der reflexartige Rückgriff auf die Logik militärischer Aufrüstung hilft bei der Suche nach neuen Orientierungen in einer neuen Welt offensichtlich nicht weiter.

Dieser Essay erschien ursprünglich in der „Blätter“ Ausgabe Juli 2022

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[1] Vgl. dazu die einschlägige Studie von Charles E. Lindblom, The Science of „Muddling Through“, in: „Public Administration Review“, 2/1959, S. 79-88, in der er inkrementelle Entscheidungsprozesse mit Blick auf komplexe Herausforderungen nicht als Versagen, sondern eher als adäquate Reaktion begreift. Für die Analyse der genannten Konstellation gilt es jedoch, den systemischen Charakter der Probleme zu erfassen und auf grundlegenden Veränderungen ökonomischer und sozialer Strukturen zu beharren. Vgl. dazu etwa Hans-Jürgen Urban, Gute Arbeit in der Transformation. Über eingreifende Politik im Gegenwartskapitalismus, Hamburg 2019.
[2]Jürgen Habermas, Krieg und Empörung, in: „Süddeutsche Zeitung“, 28.4.2022.
[3] Ute Gerhard, „Beim nächsten Krieg sind wieder alle so naiv wie vorher“, in: „Braunschweiger Zeitung“, 3.5.2022.
[4] Zit. nach Klaus Wiegrefe, In vertraulichen Gesprächen ausgeredet, in: „Der Spiegel“, 30.4.2022.
[5] Zu den generellen Tücken einer unreflektierten Gesinnungsethik in der Politik vgl. klassisch: Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Schriften 1894-1922, Stuttgart 2002, S. 512-556.
[6] Wolfgang Fritz Haug, Das Blut der anderen, in: „Das Argument“, 338, 2022, S. 343-368, hier S. 344.
[7] Hier und im Folgenden: Tony Wood, Matrix of War, in: „New Left Review“, Januar/April 2022, S. 41-64; S. 49; S. 42.
[8] Zu den Belegen aus neu ausgewerteten Akten des Auswärtigen Amtes siehe Klaus Wiegrefe, a.a.O.
[9] Zit. nach Wiegrefe, a.a.O., S. 29.
[10] Frank Deppe, Der alte und der neue Kalte Krieg, in: „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung“, 129, 2022, S. 8-11.
[11] Als ein schockierendes Dokument dieser imperialistisch-rassistischen Weltanschauung vgl. Timofej Sergejzew, „Was Russland mit der Ukraine tun sollte“, in: „Blätter“, 5/2022, S. 63-70.
[12] Dazu etwa Katja Thorwarth, Ukrainischer Botschafter Andrij Melnyk unterstützt ultrarechtes Asow-Regiment, www.fr.de, 11.5.2022.
[13] So etwa die Reaktionen auf den „Offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz“, der von knapp 30 Erstunterzeichner aus Wissenschaft und Kunst in die Debatte eingebracht wurde, www.emma.de, 29.4.2022.
[14] Zit. nach Haug, a.a.O., S.364.
[15] Jürgen Habermas, a.a.O., Herv. i. O.
[16] Wolfgang Zellner, Der Zwang zur Abschreckung: Das Dilemma des Westens, in: „Blätter“, 4/2022, S. 72.
[17] Tom Krebs, Auswirkungen eines Erdgasembargos auf die gesamtwirtschaftliche Produktion in Deutschland, IMK-Study 79, Mai 2022.
[18] Branko Milanovic, Ein noch nie dagewesenes Experiment, in: „Makronom“, 2.5.2022.
[19] Dazu ausführlich: Oxfam Deutschland, Gewaltige Ungleichheit. Warum unser Wirtschaftssystem von struktureller Gewalt geprägt ist und wie wir es gerechter gestalten können, Berlin 2022.
[20] Haug, a.a.O., S. 362.
[21] Albrecht von Lucke, Putins Krieg: Das Ende unserer Illusionen, in: „Blätter“, 4/2022, S. 59-66