30 Jahre Maastricht

Philippe Séguins prophetische Rede wider die EU

| 21. Oktober 2022

Philippe Séguin war 1992 einer der wenigen französischen Politiker, die sich gegen den Vertrag von Maastricht und die Blindheit ihrer Zeitgenossen stemmten. Den ökonomischen Unsinn einer kontinentalen Föderation erkannte er schon damals.

Die Übersetzung aus dem französischen Original erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Magazins Le Vent Se Lève (LVSL).

Es gibt Texte, die trotz des Laufs der Zeit nicht alt werden und deren Wahrheitsgehalt einige Jahrzehnte nach ihrer Niederschrift noch intensiver hervortritt. Philippe Séguins Rede, die er am 5. Mai 1992 vor der Nationalversammlung gegen den Vertrag von Maastricht hielt, ist ein solcher Fall. Sie ist ein Gegenmittel gegen die Scheinwelt, die eine machtlose politische Führung hervorgebracht hat. Sie kann zudem ein Kompass sein in einer Zeit, in der Präsident Emmanuel Macron seine Wiederwahl als pro-europäisches Referendum verkleidet und die Erwartungen an eine phantastische Revision der Verträge schürt. Es ist also höchste Zeit, sich daran zu erinnern, was das europäische Projekt wirklich ist. Zwischen Demokratieverrat und wirtschaftlicher Zwangsjacke, ein Rückblick auf den Traum der Apostel des "föderalen Kults".

"1992 ist buchstäblich das Anti-1789"

Als Minderheit in der Rassemblement pour la République (RPR), als Minderheit in der Versammlung und gegen den Strom der herrschenden politischen Elite machte sich Philippe Séguin zum Vorkämpfer des "Nein" beim Referendum über die Ratifizierung des Maastricht-Vertrags. Diese unbequeme Position ermöglichte es ihm jedoch, seine Landsleute vor einer Gefahr zu warnen, die unterschätzt wurde: die Verletzung von Artikel 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, für die er eine Klage auf Verfassungswidrigkeit einreichte.

Laut diesem Artikel "liegt das Prinzip jeder Souveränität im Wesentlichen in der Nation". Wenn die Souveränität als unveräußerlich und unverjährbar konzipiert wird, geschieht dies nicht aus einer Laune heraus, sondern weil sie das Wesen des politischen Handelns, den Schmelztiegel der Demokratie, ausmacht. Ein Volk ohne Souveränität ist ein enteignetes Volk. Deshalb ist es von größter Bedeutung, dass es diese allein innehat und dass die Parlamentarier bloße Delegierte bleiben: "Was das Volk tut, kann nur das Volk rückgängig machen." Ohne Referendum gibt es keine Übertragung von Souveränität, egal was die Befürworter des Vertrags von Lissabon sagen.

Eine "Souveränität", die missbraucht wird, um die Franzosen zu beschwichtigen

Es geht nicht nur um einen teilweisen Verlust staatlicher Kompetenzen, sondern um die Abdankung der Souveränität eines Staates, das heißt, um den Verlust seiner Fähigkeit, sich als Schicksalsgemeinschaft selbst zu bestimmen. Weit entfernt von den Föderalisten, die die Tragweite dieser Abstimmung herunterspielen, um die Franzosen nicht zu verunsichern, fordert Séguin die Parlamentarier also auf, sich auf eine Sache zu einigen: "die grundlegende Bedeutung der Wahl, vor der wir stehen". Denn, so erinnert er, "die Souveränität ist ein Absolutum", wenn das Volk souverän ist, dann hat es "niemandem Rechenschaft abzulegen", nicht einmal der Europäischen Kommission, nicht einmal dem Gerichtshof der Europäischen Union.

Die Neologismen, die in dieser Zeit erfunden wurden, um die Ängste zu beschwichtigen, wirken dann wie Blendwerk. "Geteilte Souveränität" und "begrenzte Souveränität" sind "alles Ausdrücke, die bedeuten sollen, dass es überhaupt keine Souveränität mehr gibt". Das Problem ist, dass die Völker durch die Rhetorik, die die Semantik verleugnet, verwirrt werden. Sie geraten in ein Räderwerk, das schnell unumkehrbar wird. Die Europäische Union anzuprangern, erscheint aufgrund des Gewichts der Verträge in der rechtlichen und wirtschaftlichen Ordnung Frankreichs schon bald "als eine illusorische Situation".

Die wirtschaftliche Illusion

Für die weniger Ehrgeizigen ein zukünftiges Schlaraffenland, für die Realistischeren ein wahres Eldorado: Glaubt man den Versprechungen der Föderalisten, so sollte Europa nur noch aus Wohlstand und Wachstum bestehen. Die gemeinsame Währung sollte das Rezept gegen das damalige trübe politische Klima sein, das neue Ideal, das es anzustreben galt. Dank der Einheitswährung war eines der Szenarien für Wachstum, Investitionen und Handelssalden optimistischer als das andere... Die Föderalisten standen Schlange, um die gute Nachricht zu verkünden, allen voran Jacques Delors, der fünf Millionen neue Arbeitsplätze versprach. François Mitterrand, wie üblich ein politisches Schlitzohr, ergriff die Gelegenheit beim Schopf und deklamierte: "Frankreich ist unser Vaterland, Europa ist unsere Zukunft".

Diese Zukunft war jedoch in den Augen eines Philippe Séguin weit weniger strahlend. Schon damals warnte er vor der Blindheit seiner Zeitgenossen, indem er darauf hinwies, dass der Euro wirtschaftlich nicht gerechtfertigt sei, da "keine Statistik auf eine signifikante Auswirkung des Wechselkursrisikos auf die Investition schließen lässt." Zudem sei eine "unabhängige" Zentralbank vor allem eine unverantwortliche Zentralbank, die ihre Handlungen nicht vor den Völkern verantworten müsse. Als Vorausdenker zeigte er auf, dass die Einführung einer einheitlichen Währung für eine Vielzahl von Ländern mit unterschiedlicher Wettbewerbsfähigkeit unweigerlich zu einer Polarisierung der Volkswirtschaften zwischen dem Süden und dem Norden führen wird, was heute von dem Wirtschaftswissenschaftler Jacques Sapir als "Eurodivergenz" bezeichnet und auch von Joseph Stiglitz analysiert wird [1]. In einer Zeit des schleppenden Wachstums, der Massenarbeitslosigkeit und der defizitären Handelsbilanz haben die wirtschaftlichen Phantastereien der Föderalisten einen schalen Nachgeschmack.

Europa des wirtschaftlichen Schiffbruchs

Philippe Séguin beschränkt sich jedoch nicht auf eine einfache Tirade über die Einheitswährung, sondern entfaltet den ganzen ökonomischen Unsinn, den die Schaffung einer kontinentalen Föderation darstellt. Eine Gruppe von Ländern mit unterschiedlichsten Interessen schafft keine Gesetzeswerke, die in der Lage wären, wirtschaftliche Optimalwerte zu erzielen, sondern vielmehr Durchschnittswerte. Da jedes Land bis zu einem gewissen Grad seine Interessen kompromittieren muss, ist die Konstellation letztlich für niemanden interessant.

Der Wind des Wandels

Im Unterschied dazu sorgt eine Zusammenarbeit, die den freien Zusammenschluss souveräner Staaten zu bestimmten Projekten ermöglicht, für eine Konvergenz, die für die Entstehung von Optima günstig ist. Das belegen europäische Erfolgsgeschichten wie Ariane und Airbus.

Schließlich ist Séguin zwar liberal, aber dennoch Gaullist und daher nicht unempfänglich für die soziale Frage. Auch deshalb sträubt er sich gegen die europäische Harmonisierung, die er eher mit einer für die Franzosen ungünstigen Konvergenz gleichsetzt, die zwangsläufig zur Zerstörung ihrer "sozialen Errungenschaften" führt. Es ist also nicht schwer zu verstehen, warum sich das Referendum von 2005 in eine echte Klassenwahl verwandelt hatte. [2]

Ein demokratischer Staatsstreich?

Philippe Séguins Rede ist letztlich nichts anderes als die Bloßstellung eines Referendums, das den Franzosen abgerungen wurde, obwohl sie das Vertrauen in ihre Vertreter längst verloren hatten. Wenn es eine Krise der Repräsentativität gibt, beginnt sie mit dieser Demonstration des falschen Bewusstseins, in das sich die politische Elite Frankreichs verrannt hat. Um 1992 nicht zum "Anti-1789" zu machen, wäre es gut gewesen, wenn man aufgehört hätte, die "Herausforderungen" des Vertrags "herunterzuspielen", wenn man eine Abstimmung nicht auf einen Berg von falschen Versprechungen gestützt hätte, wenn dem Klima des "intellektuellen Terrorismus", das Séguin in seiner Rede erwähnte, ein Ende gesetzt worden wäre.

Fast die gesamte politische und mediale Elite – mit Ausnahme der Kommunisten und eines Teils der Rechten – ereiferte sich wie ein einziger Geist für das "Ja". Der damalige Premierminister Pierre Bérégovoy erklärte: "wenn man gut informiert ist, muss man sich dafür entscheiden, mit Ja zu stimmen [3]". Und François Mitterrand sparte in seiner Fernsehdebatte mit Philippe Séguin am 3. September 1992 nicht an Pathos und Sentimentalität, um die Herzen der Franzosen zu erweichen und seinen Gegner zu entwaffnen, indem er seine Krebserkrankung und sein Leiden zur Schau stellte.

Weil es nicht um eine bloße Reform oder eine einfache Satzungsänderung ging, sondern um das Ende der Politik und die Niederlage eines ganzen Volkes, ist Maastricht eine französische Tragödie. Die föderale Herrschaft ist auch die neoliberale Regel: "Was sich hinter der Politik der nationalen Bilanzen, hinter der Besessenheit von buchhalterischen Gleichgewichten verbirgt, das ist doch der tiefste Konservatismus, das ist doch der Verzicht darauf, klare öffentliche Entscheidungen zu treffen, für die die haushaltspolitischen Willkürakte nur die Ausdrucksform sind."

Dennoch entbehrt diese Tragödie nicht einer gewissen Gerechtigkeit. Sie hat Philippe Séguin zum Dank gereicht, der trotz des Goliath, dem er gegenüberstand, stolz auf das knappe Ergebnis von nur 51% "Ja"-Stimmen sein kann. Eine solche Prozentzahl ist angesichts des von den damaligen Umfragen prognostizierten überwältigenden Sieges der Föderalisten ein großer Kraftakt und ein Beweis für die Stärke der Ideendebatte, für die der demos alles andere als unempfänglich ist.

Vierzig Jahre später und trotz der Missachtung des Ergebnisses des Referendums von 2005 ist der Kampf um die Wiedererlangung der Souveränität Frankreichs noch immer lebendig. Viele Franzosen wollen sich nämlich nicht mit einer Situation abfinden, in der seine Repräsentanten die ihnen gehörende Macht aus Angst, sie verantworten zu müssen, weiter delegieren und sich von Staatsführern in bloße Verwalter verwandeln. Wie Séguin es getan hat, ist es wichtig, diese daran zu erinnern, dass die Macht, mit der sie betraut werden, nicht ihnen gehört, dass sie sich nicht entmachten können, ohne ihr Volk zu entmachten. Denn dadurch ließen sie die Franzosen allein mit der räuberischen Globalisierung und der unerbittlichen Herrschaft externer Juristen.

Für Séguin müssen daher die Differenzen zwischen den politischen Fraktionen überwunden werden, um die Macht wiederzuerlangen. Seiner Meinung nach "gibt es Momente, in denen das, worum es geht, so wichtig ist, dass alles zurücktreten muss", um dem "Albtraum all unserer Entsagungen" ein Ende zu setzen.

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[1] Joseph E. Stiglitz, L'euro: Comment la monnaie unique menace l'avenir de l'Europe, 2016, Les Liens qui Libérer.
[2] Siehe Jérome Fourquet, L'Archipel français, Seuil, 2019, oder das letzte Interview von LVSL mit François Ruffin.
[3] Serge Halimi, Les nouveaux chiens de garde, 2005, Raisons d'agir.