Keynes und seine Erben
Liebe Leserinnen und Leser,
für eine Publikation, die sich wohl zu Recht als »das einzige Magazin für Wirtschaftspolitik aus einer keynesianischen Perspektive in Deutschland« bezeichnet, war es nur eine Frage der Zeit, bis die vergessene Geschichte des Keynesianismus ins große Licht gerückt wird.
Alle, die sich ein wenig mit Wirtschaft beschäftigen, und das dürfte auf Sie als Leserinnen und Leser von MAKROSKOP fraglos zutreffen, ist John Maynard Keynes natürlich ein Begriff, wie für einen Autofahrer das Lenkrad. Jemand, der von Keynes noch nie etwas gehört hat, dürfte dieses Spotlight daher aus zweierlei Gründen nicht lesen: Erstens, er ist kein Abonnent, zweitens, er würde sich für den Inhalt ohnehin nicht interessieren.
Falls wir uns täuschen sollten, das wesentliche: Keynes war der große britische Ökonom, der in der Ratlosigkeit der Ersten Weltwirtschaftskrise das wirtschaftswissenschaftliche Fundament für breiten Wohlstand legte.
Damit wären wir beim Thema. Wenn Keynes so bedeutend und der Keynesianismus als wirtschaftspolitische Maxime in der Nachkriegszeit so erfolgreich war, wie konnte es dann zum Niedergang dieser Wirtschaftstheorie kommen? Was ist in den Jahren zwischen 1970 und 1980 passiert? Wieso fristet der Keynesianismus seitdem solch ein Schattendasein? Wieso lernen Studenten der Volkswirtschaftslehre heute nur noch die Neoklassik, oder – was von Keynes übriggeblieben ist – den sogenannten Neu-Keynesianismus (Sie werden sehen, der Begriff beruht auf einem Etikettenschwindel)?
Tatsache ist, dass der Keynesianismus während einer Schwächephase von einer ideologischen Lawine überrollt wurde. Der US-Ökonom Alan Blinder bezeichnete 1989 das, was sich in weniger als einem Jahrzehnt abspielte, als »eine intellektuelle Revolution«, deren Ausmaß dadurch sichtbar wurde, dass es »um 1980 [...] schwer [war], einen amerikanischen Makroökonomen unter 40 Jahren zu finden, der sich als Keynesianer bekannte.«
Doch hat sich das Rad der Geschichte nicht gerade wieder um eine Speiche weiter gedreht? Tatsächlich ist bereits früh eine alternative Keynes-Interpretation entstanden, die den »echten« Keynes vertreten und gegenüber der neoklassischen Interpretation verteidigen will: der Post-Keynesianismus, dessen Stimme seit einigen Jahren lauter ist als zuvor. Was es mit ihm genau auf sich hat, werden sie hier ebenfalls lesen können. Nicht zuletzt kommt der zu Unrecht in die hinteren Regale der Universitätsbibliotheken verdrängte Hyman Minsky seit der großen Finanzkrise 2008 zu neuen Ehren. Minsky war es, der bereits in den 1970er Jahren die Instabilität des Finanzkapitalismus nachwies.
Und mehr noch, erleben wir inmitten der Covid-Pandemie nicht gerade die Renaissance von Keynes? Plötzlich setzen die Staaten Konjunkturpakete auf, deren Summen astronomisch anmuten, die dafür nötige Feuerkraft erhalten sie von Zentralbanken, die ihre Strategie neu ausgerichtet und sich längst von Monetarismus sowie einseitiger Preisstabilitätspolitik verabschiedet haben. Das Corona-Hilfspaket über 1,9 Billionen Dollar, das der neue US-Präsident Joe Biden unlängst ankündigte, liest sich auf den ersten Blick wie ein Forderungskatalog des Postkeynesianismus. Auch der Wind in den Debattenräumen hat sich gedreht – von Sozialabbau, Sparpolitik und Deregulierung redet abgesehen von ewig gestrigen liberalkonservativen Kreisen kaum noch jemand.
Oder trügt der Schein? Werden wir gerade nur Zeuge eines kurzen Intermezzos, welches dem Ausnahmezustand der Krise geschuldet ist und der Handlungsanweisung in den klassischen Lehrbüchern folgt: Der Staat muss solange intervenieren, bis das natürliche Gleichgewicht des Marktes wiederhergestellt ist? Danach dann business as usual, zurück zum ersehnten Status quo, in den kalten Schoß von TINA, mit Schuldenbremsen, die wieder greifen und eine möglichst schnelle Reduktion der in der Krise angehäuften Defizite einläuten? Wird das Lenkrad, dass der Staat in Krise plötzlich so fest in die Hand genommen hatte, wieder losgelassen?
Wenn es so komme sollte, dann liegt der Kern dieses Handelns in der fatalen Entwicklung des makroökomischen Denkens im vergangenen halben Jahrhundert, das streng genommen zu einer »aggregierten Mikroökonomik« (Günther Grunert und Michael Paetz) und damit »ein Fall für die Psychoanalyse« (Stephan Schulmeister) geworden ist.
Sie liebe Leserinnen und Leser, haben jetzt die spannende und exklusive Gelegenheit, neben den Psychotherapeuten Platz zu nehmen und ihnen bei der Arbeit zuzusehen.