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Leviathan und Behemoth

| 12. März 2021
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Liebe Leserinnen und Leser,

in den Apokryphen, religiösen Schriften aus der Zeit von 200 bis 400 nach Christus, findet sich das Motiv Behemoths als männliches Fabelwesen, das gemeinsam mit seinem weiblichen Gegenstück Leviathan von Gott zur Züchtigung der Menschen gesandt wird. Im jüdischen Talmud kommt es am Ende der Zeiten zum Kampf Behemoths mit Leviathan, der seinen Widersacher mit seinen Hörnern aufzuspießen sucht, während Leviathan nach dem Landungeheuer mit seinen Flossen schlägt.

Der Titel von Thomas Hobbes berühmter staatsphilosophischen Schrift (1651) lehnt sich an das biblisch-mythologische Seeungeheuer Leviathan an, vor dessen Allmacht jeglicher menschliche Widerstand zuschanden werden muss. Eine ähnliche Rolle kommt in Hobbes' absolutistischem Politikverständnis dem Staat zu, der damit zum Gegenstück des durch Behemoth personifizierten Naturzustandes wird – passend auch zu Friedrich August von Hayeks Verständnis des Marktes als evolutionäres Entdeckungsverfahren. Heute wird auch den Finanzmärkten die Rolle des Behemoths zugeschrieben, deren Macht die Staaten herausfordert.

Das unentwegte Ringen zwischen Leviathan und Behemoth, zwischen Staat und Markt um die Hegemonie in der politischen Ordnung zieht sich durch unsere gesamte Moderne. Immer wieder wechselt die Oberhand zwischen den beiden Ungeheuern.

Zuletzt noch schien Behemoth zu obsiegen. Über Jahre und Jahrzehnte hörten wir seine Geschichte – „Privat vor Staat“, „so viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“. Oder noch eloquenter: „Der Staat ist nicht die Lösung für unser Problem, der Staat ist das Problem.“ Und Gott griff nicht ein. Diese Weisheiten stammen – der Reihe nach – vom Bund der Steuerzahler, Karl Schiller und Ronald Reagan. Wer weiß, vielleicht alles Gesandte des Dämons. Tatsächlich wurde die Tonlage über die Jahrzehnte stetig schriller, steigerte sich zur regelrechten Staatsphobie.

Jedes Kind weiß heutzutage, dass der Staat ineffizient und träge ist. Mehr noch: Die umwälzende Dynamik des globalen Weltmarktes hat ihn quasi obsolet gemacht. Was der Staat macht, vermögen innovative Unternehmen, NGOs und supranationale Institutionen wesentlich besser zu verrichten. Da ist es nur folgerichtig, dass der Staat immer mehr Bereiche, die einst zu seinen hoheitlichen Kernbereichen zählten, an private Unternehmen abtritt. Wenn schon Staat, dann schlanker Staat – das war bis vor kurzem das Schönheitsideal.

Zur neoliberalen Rosskur gehörte vor allem, die öffentliche Daseinsvorsorge zu privatisieren, sich vom Eigentum und der Verwaltung staatlicher Unternehmen einschließlich öffentlicher Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen zu lösen und auch die verbleibenden öffentlichen Dienste marktwirtschaftlicher Profitlogik zu unterwerfen.

Begleitet wurde diese Selbstamputation des Staates von einer neuen Terminologie in den Universitäten. Regieren jenseits des Staates, Demokratie ohne Demos, Public-Choice-Theory, Governance statt Government, New Public Management – typische Begriffe, die einem als Student der 90er und 2000er Jahre in den politikwissenschaftlichen Seminaren und Vorlesungen um die Ohren geflogen sind.

Doch plötzlich ward das Virus. Und all die Wörter und Ideologien verfliegen zu Schall und Rauch. Die Corona-Pandemie hat die nächste Runde des Ringens zwischen Staat und Markt, Leviathan und Behemoth, eingeläutet. Erneut scheint sich das Blatt zu wenden. Die Diskurse verschieben sich. Der Staat strotzt vor fiskalischer Kraft, die Märkte ohne seine Hilfe am Boden. Die flehende Erkenntnis offenbar: Weil weder Mensch noch Markt rational sind, brauchen sie den Staat – einen neutralen Staat, einen gezähmten Leviathan, keinen schwachen. Und eine demokratiekonforme Marktwirtschaft statt einer marktkonformen Demokratie – einen gezähmten Behemoth, keinen freien.

Deutlich wird einmal mehr, dass Leviathan und Behemoth Teil der selben Gleichung sind, dass es das eine ohne das andere nicht gibt. Beide sind „als erstes der Werke Gottes“ geschaffen. Markt und Staat sind nur scheinbar ein Gegensatz. Das Ringen der Dämonen um den angemessenen Platz in ihrer Welt tragen in Wahrheit die Menschen aus, sie halten die Ketten der Ungeheuer in ihrer Hand – denn Gott wird uns weder vom Leviathan noch Behemoth erlösen.