Der Markt in der Filterblase
Für Rawls waren Märkte keine Orte der Verteilungsgerechtigkeit. Doch welchen Mehrwert bieten stark vereinfachte Modelle ökonomischer Zusammenhänge für die Beschreibung realer Gesellschaften?
Das Jahr des Doppeljubiläums von John Rawls, in dem der Philosoph 100 Jahre alt geworden wäre und sich die Erstveröffentlichung seiner Theorie der Gerechtigkeit zum fünfzigsten Mal jährt, bietet Anlass für politische Philosophen, sein Werk unter dem Gesichtspunkt aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen neu zu reflektieren.
Auch Marco Meyer widmet sich Rawls, und zwar als Wegbereiter der sogenannten Separationsthese, wonach Gerechtigkeitserwägungen keine Rolle in der Regulierung von Märkten spielen sollten. Meyer zeigt überzeugend, wie sehr diese Annahme auch heute noch impliziter Bestandteil philosophischer, aber auch ökonomischer Debatten ist und dazu beiträgt, dass Marktregulierungen im Sinne der Gerechtigkeit oftmals prinzipiell ausgeschlossen werden. In zwei Schritten unterzieht der Autor diese These einer kritischen Überprüfung und kommt zu dem Schluss, dass Rawls diese auf Annahmen begründet, welche nicht auf reale Volkswirtschaften übertragen werden können.
Zunächst wird die Separationsthese auf ihren Ursprung in der Wohlfahrtsökonomik zurückgeführt. Rawls habe sein Argument insbesondere auf den zweiten Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomik nach Kenneth Arrow gestützt, wonach erwünschte Güterverteilungen in einer Volkswirtschaft jenseits von effizienzmaximierenden Marktprozessen hergestellt werden können. Meyer zeigt, dass dieses Theorem innerhalb des zugrundeliegenden ökonomischen Modells Gültigkeit besitzt. Anschließend stellt der Autor aber heraus, dass dessen Modellannahmen nicht mit den Realitäten existierender Marktwirtschaften kompatibel sind, für die die Separationsthese Geltung beansprucht, und die These daher einer „Überprüfung an der Wirklichkeit“ nicht standhält.
Allgemeiner fordert er, politische Philosophen müssten ihre Annahmen aus sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen stärker reflektieren und neue Ergebnisse aus anderen Disziplinen in den Blick nehmen, um zielführende Vorschläge für die „Verwirklichung von Gerechtigkeit“ machen zu können. Die Ablehnung der Separationsthese schließlich eröffne neue Debatten darüber, wie Effizienz und Gerechtigkeit auf Märkten zusammen gedacht werden könnten.
Gemäß der Separationsthese sollen Märkte keine Orte der Verteilungsgerechtigkeit sein. Sie müssten also so reguliert werden, dass sie ausschließlich das Ziel der Effizienz verfolgen. Staatliche Eingriffe nach Gerechtigkeitsmaßstäben wären demnach sowohl für Güter- als auch Arbeits- und Finanzmärkte abzulehnen.
Meyer argumentiert, dass sich die Begründung dieser These bei Rawls vor allem auf dessen Auseinandersetzungen mit der Wohlfahrtsökonomik seiner Zeit zurückführen lässt. Das allgemeine Wohlfahrtstheorem, um das es geht, sowie das entsprechende Gleichgewichtsmodell nach Arrow, Debreu und McKenzie, dürften Studierenden der Ökonomik ein Begriff sein, denn es handelt sich dabei auch heute noch um elementare Bestandteile der Lehren der neoklassischen Mikroökonomik. An der Relevanz von Meyers Anliegen, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Modell und den davon abgeleiteten Theoremen und Thesen durchzuführen, besteht allein schon aus diesem Grund kein Zweifel.
Das Modell basiert auf der Annahme eines vollkommenen gesamtwirtschaftlichen Wettbewerbs unter rational nutzenmaximierenden Akteuren, ohne Externalitäten. Unter diesen Bedingungen gilt, dass es verschiedene Wettbewerbsgleichgewichte gibt und an diesen Punkten Wohlstand effizient, das heißt Pareto-optimal, verteilt ist. Der zweite Hauptsatz des Wohlfahrtstheorems behauptet nun, dass jedes dieser Gleichgewichte durch Umverteilung der Ausgangsvermögen erreicht werden kann. Das heißt, jede Art von effizienter Verteilung ist außerhalb der Märkte durch Steuern und Transfers herstellbar.
Die Gültigkeit dieses Satzes innerhalb des Arrow-Debreu-Modells wird vom Autor überzeugend begründet. Meyer merkt aber richtigerweise an, dass die Schlussfolgerungen der Rawls‘schen Separationsthese darüber hinausgehen, indem sie annehmen, dass diese modellierte Möglichkeit auch in der realen Wirtschaft umgesetzt werden könne – und zwar neben Gütermärkten auch für Arbeits- und Finanzmärkte. Dieser entscheidende Schritt setzt also noch etwas anderes voraus: Dass reale Ökonomien in ausreichendem Maße den Annahmen des Modells ähneln.
Die anschließende Prüfung dieser Voraussetzung ist aus meiner politökonomischen Perspektive besonders interessant. Meyer berührt damit eine zentrale Debatte in der Ökonomik und benachbarten (Sub-)Disziplinen, etwa politikwissenschaftlichen und wirtschaftssoziologischen Ansätzen: Welchen Mehrwert bieten stark vereinfachte Modelle ökonomischer Zusammenhänge für die Beschreibung realer Gesellschaften und welche normativen Schlüsse lassen sie zu? Meine Anmerkungen beziehen sich folglich in erster Linie auf diese Aspekte.
Grundsätzlich teile ich Meyers Argumentation, dass eine Übertragung der betrachteten Modelleinsichten auf reale Volkswirtschaften nicht möglich ist. In der Begründung dieser Einschätzung würde ich allerdings andere Punkte stark machen, die zu einer grundsätzlicheren Kritik der Annahmen von Modell und Thesen führen und damit auch zu einer stärkeren Infragestellung ihrer wirtschaftspolitischen Implikationen beitragen könnten.
Verteilungsneutrale Konstitution effizienter Märkte oder Depolitisierung?
Meyers Haupteinwand gegen die allgemeine Übertragbarkeit der Modellannahmen ist die eingeschränkte politische Durchsetzbarkeit von Steuer- und Transfermaßnahmen, um im Nachhinein zu einer gerechten Verteilung zu gelangen. Dem ist sicher nicht zu widersprechen.
Wenn es dem Autor aber wirklich um die allgemeine Übertragbarkeit des Modells geht, dann ließe sich hier viel grundlegender ansetzen, als lediglich die Durchsetzbarkeit der Umverteilung zu hinterfragen, welche die Separationsthese nahelegt. Schon die Annahme eines eigenen, getrennten sozialen Bereiches des Marktes, der nach Maßstab „reiner Effizienzkriterien“ reguliert werden könnte, stellt eine grob irreale Modellannahme dar, die Konsequenzen für die Verteilungsgerechtigkeit hat.
Tatsächlich wäre es für die Umsetzung des Prinzips, dass Politiken sich an reinen Kriterien der Effizienz orientieren, zunächst notwendig, dass relativ klar und überprüfbar wäre, welche Maßnahmen am ehesten zu Effizienz führen, um kontrollieren zu können, dass entsprechende Entscheidungsträger sich nicht interessengeleitet verhalten. Das ist in der Realität unzutreffend. Weder gibt es in der Realität unbestrittene ökonomische Empfehlungen, noch sind politische Intentionen eindeutig überprüfbar. Deshalb handelt es sich bei der Annahme einer reinen Effizienzerwägung, übertragen auf reale wirtschaftspolitische Entscheidungen, immer auch um eine Depolitisierung von Verteilungsentscheidungen, statt um eine reine Verschiebung dieser Entscheidungen auf andere gesellschaftliche Bereiche.
Die Folgen dieser depolitisierenden Annahmen lassen sich in den letzten Jahrzehnten beobachten, in denen die Deregulierung etwa von Finanzmärkten ein instabiles System erzeugt haben, von dem wenige profitieren, was aber notwendigerweise gestützt wird durch die letzte Instanz des Staates, welcher in Krisen Marktmechanismen wiederherstellt, indem er Verluste sozialisiert, alles unter der Prämisse neutraler Effizienzentscheidungen.
Anstatt erst hier anzusetzen und zu argumentieren, dass eine Umverteilung von diesem Zustand aus politisch schwer umsetzbar ist, wäre die Erklärung, dass diesen Verhältnissen immer bereits implizite Gerechtigkeitsentscheidungen vorausgehen, ein stärkeres Argument für eine andere – nicht eine neue – gerechtigkeitsgeleitete Regulierung von Märkten. Der wichtigen Forderung des Autors folgend, die politische Philosophie solle einschlägige Ergebnisse anderer Disziplinen einbeziehen, um zu beantworten, ob ihre Gerechtigkeitsvorstellungen auch umsetzbar wären, könnte an dieser Stelle etwa auf soziologische Einsichten zu ökonomischem Wissen zurückgegriffen werden (zum Beispiel Maeße, Pahl, Sparsam 2017).
Eigenkapitalregeln als Argument für die Hypothese finanzieller Instabilität
In einem zweiten, weit ausführlicheren Schritt widmet sich Meyer der beanspruchten Gültigkeit für den spezifischeren Bereich der Finanzmärkte. Um diese zu behaupten, wird das Arrow-Debreu-Modell durch eine scheinbar simple Erweiterung angepasst: Geld und Kredit werden als weitere Ware interpretiert, die neben anderen gehandelt wird. Dass diese Annahme an den grundsätzlichen Eigenschaften des modernen Geldsystems vorbeigeht, sei hier aus Platzgründen nur dahingestellt, obgleich es sich bereits hierbei nicht bloß um eine unproblematische Vereinfachung handelt.
Meyer hat der Adäquatheit der Erweiterung auf das Finanzsystem aber durchaus wichtige Beobachtungen entgegenzusetzen. Der innerhalb der Separationsthese elementare Zugang zu Krediten – und damit zum Finanzsystem – stehe Verbrauchern in der Realität nicht immer offen, was durch empirische Studien überzeugend gestützt wird.
Um zu erklären, dass hier – entgegen des ökonomischen Modells – kein Punkt gefunden werden kann, an dem sich Angebot und Nachfrage nach der Ware Kredit treffen, verlässt der Autor die neoklassische Modellökonomik und greift auf den Ansatz asymmetrischer Informationen aus der Institutionenökonomik zurück. Mangelnde Informationen über die Kreditwürdigkeit der Kreditnehmer seien es, die Eigenkapitalforderungen und Risikoaufschläge notwendig machten, welche wiederum bestimmte Personen von der Kreditaufnahme von vornherein ausschlössen. Das Argument, dass solche Gründe für Kreditbeschränkungen im Arrow-Debreu-Modell nicht abgebildet werden können, ist sicher schlüssig.
Weniger erschließt sich mir aber der nächste Schritt. Hier wird argumentiert, dass der Staat aus diesen Gründen notwendigerweise mit Eigenkapitalquoten regulierend eingreifen muss, um den Zugang zu Krediten zu regeln, weshalb in diesem Fall der zwei Hauptsatz nicht gelte. Zweifelsfrei greifen Eigenkapitalquoten in den Zugang zu Krediten ein, allerdings können sie die Verfügbarkeit von Krediten auch nicht sicherstellen, sondern bewirken, wie der Autor selbst erläutert, im Zweifel sogar, dass weniger vermögende Haushalte zusätzlich von der Kreditvergabe ausgeschlossen werden.
Das angesprochene Informationsproblem vermag eine höhere oder niedrigere Eigenkapitalquote in diesem Sinne kaum zu lösen; näherliegend wären innerhalb der ökonomischen Argumentation sogar private Lösungen wie Ratingagenturen oder Kreditderivate. Solche privaten Finanzinnovationen waren es schließlich tatsächlich, die dazu führten, dass – wie vom Autor beobachtet – Kredite vor der Finanzkrise zeitweise quasi ohne Eigenkapital zugänglich waren. Für einen staatlich geregelten Zugang zum Finanzsystem bräuchte es dagegen andere Instrumente, wie staatliche Garantien oder sogar direkte öffentliche Kreditvergaben, die zudem noch andere Problematiken als die genannten Informationsasymmetrien wie diskriminierende Zugangshürden überwinden müssten.
Was das Beispiel gestiegener Eigenkapitalquoten nach der Krise stattdessen zeigt ist, dass das reale Kreditsystem bei einer Deregulierung, wie sie die Separationsthese nahelegt, hochgradig instabil ist. Das „freie Spiel der Finanzmärkte“ zu konstituieren, bedeutet unweigerlich, Turbulenzen und Krisen in Kauf zu nehmen (Minsky). Dadurch werden entweder nachträgliche staatliche Rettungsmaßnahmen notwendig, mit erheblichen negativen Folgen für das angestrebte Ziel der ökonomischen Verteilungsgerechtigkeit, oder Marktregulierungen wie Eigenkapitalquoten, um eine längerfristige Resilienz des Systems zu erreichen.
Auch hier liegt das Problem der Argumentation also darin, dass die Annahme nicht hinterfragt wird: dass es möglich sei, einen abgegrenzten sozialen Bereich zu konstituieren, in dem Marktkräfte langfristig ohne politisches Einwirken nach verteilungsabhängigen Kriterien agieren könnten. Die Einsicht, dass diese unzutreffend ist, kann durch ökonomische und andere sozialwissenschaftliche Ergebnisse gestützt werden.
Für das Fazit bedeutet dies, dass die gesellschaftlichen Fragen, für die Meyer mit der Ablehnung der Separationsthese einen Raum in der politischen Philosophie sieht, etwa die nach Umweltfreundlichkeitskriterien für die Anleihenkäufe von Zentralbanken, nicht nur als neue Verteilungsfragen gestellt werden könnten. Stattdessen müssten die aktuellen, vorgeblich marktneutralen Kriterien von Grund auf gerechtfertigt werden.
Meyer leistet insgesamt einen wichtigen Beitrag dazu, eine oft implizite Annahme zu hinterfragen, die über Vorschläge der politischen Philosophie zu gerechtem Wirtschaften großen Einfluss auf die Ungleichheit in realen Volkswirtschaften hat. Für das entscheidende Unterfangen, die Umsetzbarkeit von Gerechtigkeitsvorstellungen zu prüfen, ist aber, Meyers Impuls folgend, eine breite interdisziplinäre Betrachtung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse entscheidend.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem theorieblog und wurde mit freundlicher Genehmigung übernommen.