Prekäre Beschäftigung

Forschung braucht Zeit, keinen Kettenvertrag

| 11. Februar 2022
istock.com/Standbildtechniker

Prekäre Arbeitsbedingungen, Zukunftsängste – an vielen Hochschulen ständige Realität. Doch gute Wissenschaft braucht Zeit und Freiraum. Plädoyer für eine fundamentale Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetztes.

Die Debatte um prekäre Beschäftigungsverhältnisse wissenschaftlicher Arbeitnehmer an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen ist eigentlich schon ein alter Hut. Auf den Hashtag #95vsWissZeitVG folgte im Sommer letzten Jahres der Hashtag #ichbinHanna. Beide verbreiteten sich rasant, lösten eine breite Zustimmungswelle junger Wissenschaftler sowie eine Vielzahl veröffentlichter Artikel aus.

Das Ziel beider Hashtags war es, auf die Arbeitsbedingungen im deutschen Wissenschaftssystem aufmerksam zu machen und eine fundamentale Reform des zugrundeliegenden Wissenschaftszeitvertragsgesetztes (WissZeitVG) einzufordern. Dieses regelt seit 2007 die Befristung der Arbeitsverträge von Wissenschaftlern während Ihrer „Qualifikationsphase“. Sie darf laut WissZeitVG bis zu 12 bzw. 15 Jahre bei Medizinstudenten andauern.

Damit unterscheidet sich das Sonderbefristungsrecht für Hochschulen grundlegend von den Befristungsrechten „normaler“ Arbeitsverträge auf Basis des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG). Es macht befristete Beschäftigungsverhältnisse an Hochschulen praktisch zum Regelfall. Das ist der präsenteste Kritikpunkt von Zusammenschlüssen des akademischen Mittelbaus wie dem Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft. Geändert hat sich die Lebenswirklichkeit junger Wissenschaftler seit #95vsWissZeitVG und #ichbinHanna allerdings nichts.

Ich selbst bin 25 Jahre, Masterstudentin der Pluralen Ökonomik und stehe kurz vor der Abschlussthesis. Neben Pandemie, Veganismus und Postwachstum geistert in meinem universitären Freundeskreis vor allem ein Thema durch den Raum: unsere berufliche Zukunft. Genauer gesagt, Promotion oder nicht Promotion, das ist hier die Frage. Mein Werdegang war mir eigentlich klar: Nach erfolgreichem Wirtschaftsabitur und Bachelorstudium der Wirtschaftspsychologie, inklusive einschlägiger Praktika, sollte es nach dem Master in die freie Wirtschaft gehen. Der Plan erschien mir sinnvoll, zielgerichtet und erntete in meiner Nichtakademiker-Familie stets Zustimmung.

Womit ich in der Planung aber nicht gerechnet hatte – meinem wissenschaftlichen Interesse. Klammheimlich schlich es sich während der Bachelorarbeit an und machte es sich im Verlauf des Masterstudiums in meinem Kopf bequem. Die Arbeit als wissenschaftliche Hilfskraft unter einem unterstützenden Professor tat ihr Übriges.

Was ist nun mit meinem schön strukturierten Zukunftsplan? Mit finanzieller Sicherheit, Häuschen, Hund und Familie? Der Hund wäre wohl noch das kleinste Problem. Ich habe das ungute Gefühl, mich entscheiden zu müssen, zwischen akademischer Berufs- und privater Lebensplanung.

Hanna verstopft das System

Ob es Hanna, der Protagonistin eines mittlerweile gelöschten Informationsvideos des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) über das WissZeitVG, ähnlich ergeht? Im Video wird sie als promovierende Biologin über die Vorteile des Gesetzes aufgeklärt. Darüber, dass es Fluktuation und damit Innovation fördere und verhindern soll, dass eine Generation von Wissenschaftlern Stellen „verstopft“.

Wie oft Hanna in Zukunft ihren Wohnort wechseln oder über lange Distanzen pendeln muss, wie viele unbezahlte Überstunden sie im Rahmen befristeter Arbeitsverträge leisten wird und wie es ihr damit ergeht, bis in die Nacht hinein an ihrer Promotion zu arbeiten, während in ihrem Umfeld Ehen geschlossen, Häuser gebaut und Familien gegründet werden, darüber wird in dem Video nichts erzählt.

Hanna verstopft das System. Ein System, das vorhandene Privilegien in Sachen Bildungs(un)gerechtigkeit reproduziert und Entgrenzungsbereitschaft einfordert. Ist es Doktoranden nicht möglich, im Rahmen einer bezahlten Unternehmenskooperation oder eines Drittmittelprojektes promovieren zu können, stellt sich bereits zu Beginn des Dissertationsprozesses neben der Frage des Forschungsthema vor allem jene der Finanzierung des Lebensunterhaltes. Wer promoviert (oder habilitiert), muss mit wenig Geld haushalten können. Mit einem monatlichen Einkommen von rund 1000 bis 1500 Euro mittels Promotionsstipendium oder universitärer Teilzeitstelle leben Promovierende häufig unter bzw. nur knapp über der gegenwärtigen Armutsgefährdungsschwelle von 1173 Euro. Zumal Stipendien und Drittmittelprojekte im Regelfall auf zwei bis drei Jahre Förderungsdauer begrenzt sind. Finanzielle Unterstützung von Seiten der Familie bedeutet an dieser Stelle mehr Zeit und damit gegebenenfalls auch mehr Forschungsqualität. Doktoranden aus einkommensschwächeren Haushalten bleibt dieser finanzielle „Puffer“ verwehrt.

Vor diesem Hintergrund erscheinen Forderungen nach verbindlichen Quotenregelungen für die Besetzung vakanter Hochschulstellen mit weiblichen Bewerberinnen oder Vorstöße einzelner Bundesländer, wie etwa die Verankerung einer Erhöhung der Zahl weiblicher Professorinnen im bayrischen Hochschulgesetz, beinahe zynisch. Eine Geschlechterparität ohne Wandel der prekären Rahmenbedingungen würde die Ursachen der gegenwärtigen Ungleichheit vollkommen außer Acht lassen und die Vereinbarkeit von akademischem Beruf und Familie in keiner Weise fördern.

Eben jene Vereinbarkeit zu verbessern sowie ein Mehr an Planbarkeit zu realisieren, ist indessen im Sinne familiärer Arbeitsteilung selbstredend für Wissenschaftler aller Geschlechtsidentitäten mehr als überfällig. Nichtsdestotrotz – da sich Schwangerschaft (und Stillzeit) nun einmal selbst auf den gewilltesten Vater nicht übertragen lassen, ist die vorherrschende Beschäftigungspraxis für Akademikerinnen besonders problematisch.

Die unausgewogene Geschlechterverteilung an deutschen Universitäten und Fachhochschulen lässt sich daher als Symptom eines reformbedürftigen Systems interpretieren. Im Jahr 2020 waren in Deutschland laut Statista nur 26,3 Prozent aller hauptberuflichen Professuren durch Frauen besetzt. Ferner gilt nach wie vor; je höher die Besoldung, desto niedriger der Frauenanteil. Gerade einmal 11,6 Prozent der begehrten C4- bzw. W3-Professuren sind in weiblicher Hand, obwohl das Geschlechterverhältnis unter Studierenden eine bilderbuchartige Parität aufweist.  

Kettenarbeitsverträge und Co. verlangen nicht nur den Wissenschaftlern selbst, sondern auch den zugehörigen Lebensgefährten in hohem Maße Toleranz und Flexibilität ab. Eine Promotion dauert in Deutschland laut Hochschulinformationssystem und WINBUS durchschnittlich 4,5 Jahre. Als nächste Stationen einer wissenschaftlichen Laufbahn folgen Post-Doc-Stellen, gerne an ausländischen Forschungseinrichtungen, Drittmittelprojekte und mit viel Glück Junior-Professur und/oder Habilitation. Natürlich alles im Rahmen befristeter Verträge, damit die „in der Wissenschaft erforderliche Flexibilität und Dynamik“ nicht beeinträchtigt wird, wie es auf der Website des BMBF heißt.

„Gute Wissenschaft braucht Zeit und Freiraum“

Gestern konnte ich einer Freundin, die an dieser Stelle nicht namentlich erwähnt werden möchte – nennen wir sie Anna – zu ihrer erfolgreichen Promotion gratulieren. Fertig ist ihre „Diss.“ bereits seit fast einem Jahr. Aber wie schnell, oder langsam, sie von den zuständigen Professoren gelesen und beurteilt wird, wie lange es dauert bis alle notwendigen Stempel und Unterschriften platziert wurden, liegt nicht in der Macht des wissenschaftlichen Nachwuchses.

In den letzten Monaten war Anna daher arbeitslos und lebte von dem Gehalt ihres Partners. Er hat nicht studiert, sondern sich bewusst für eine Ausbildung entschieden – zum Glück, sagt Anna. Um Mietkosten zu sparen, hätte Sie andernfalls mit 30 Jahren wieder bei ihren Eltern einziehen müssen. In der nächsten Woche hat sie zwei Bewerbungsgespräche bei namhaften Unternehmen – nicht an einer Hochschule. Eigentlich wäre sie gerne an der Universität geblieben, die verfügt allerdings nicht über ausreichend finanzielle Mittel für entsprechende Stellen.

Auch das ist ein bekanntes Problem. Die zunehmende Abhängigkeit der akademischen Forschung von Drittmittelprojekten erschwert den Fakultäten eine längerfristige (Personal-)Planung und bietet Anlass, die Unabhängigkeit der Forschung kritisch zu hinterfragen. Was es an dieser Stelle von Bund und Ländern bräuchte, wären Hochschulbudgets, die eine angemessene und von externen Geldgebern möglichst unabhängige Bezahlung der Angestellten gewährleisten.

Natürlich kann und soll nicht jeder Studierende später einmal wissenschaftlicher Mitarbeiter oder Professorin werden. Das wäre weder förderlich für Forschungs- und Lehrqualität, noch würde es Unternehmen bei der Deckung ihres Fachkräftemangels weiterhelfen. Doch gerade Hochschulen, die als staatliche Institutionen eine Vorbildfunktion in der Gesellschaft innehaben, sollten sich keine Doppelmoral erlauben dürfen; nicht in Seminaren zu Wirtschaftsethik oder Moralökonomik die Entgrenzung der Arbeit tadeln, ohne einen Wandel der Beschäftigungsverhältnisse in den eigenen, akademischen vier Wänden einzuleiten. „Wo Fortschritt entsteht, muss er auch gelebt werden“, heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien. Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.

Das erklärte Ziel von Scholz, Stark-Watzinger und dem restlichen Bundeskabinett ist nichts weniger als der „Aufbruch in ein Innovationsjahrzehnt“. Dass die praktischen Konsequenzen des WissZeitVG diesen Aufbruch jedoch in einem stärkeren Maß behindern als fördern, haben Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kuban, mit Anspielung auf den Reformationstag, in ihrer auf Twitter gestarteten Aktion #95vsWissZeitVG deutlich gemacht. 95 Thesen bzw. Kritikpunkte am Gesetzestext und dessen Implikationen für die Lebenswirklichkeit junger Wissenschaftler haben sie gesammelt. „Gute Wissenschaft braucht Zeit und Freiraum, Gedanken zu verfolgen und auch in Sackgassen rennen zu dürfen, um danach neu zu beginnen“ um nur eine Thesenpassage zu zitieren.

Die neue Bundesregierung im Kabinett Scholz plant eine Novellierung von WissZeitVG und BAföG. Maßgebend für mögliche Gesetzesänderungen sind die in den nächsten Monaten zu erwartenden Ergebnisse des im August 2019 vergebenen Evaluationsauftrages des WissZeitVG. Ziel der Novellierung soll es unter anderem sein, die Planbarkeit und Verbindlichkeit in der Post-Doc-Phase zu erhöhen. Es könnte sich also etwas bewegen für Hanna und die knapp 270.000 Mitarbeiter an deutschen Hochschulen. Einmal mehr bleibt zu hoffen, ob die Bundesregierung ihren bisher noch vagen Versprechungen Taten folgen lässt.

Nachjustierungen an einzelnen Passagen des bestehenden WissZeitVG dürften für eine reelle Verbesserung der Beschäftigungssituation betroffener Wissenschaftler allerdings kaum ausreichend sein. Vielmehr liegt es in der Verantwortung von Bund und Ländern, Gesetzgebungskompetenzen und Handlungsmöglichkeiten auszuschöpfen, wie etwa die Angleichung der Befristungsregeln an das TzBfG sowie die Herstellung von Tarifbindung für alle Beschäftigten. „Dauerstellen für Daueraufgaben“ und damit mittel- und langfristige Perspektiven im Wissenschaftsbetrieb auch abseits von Professuren zu schaffen (wie unlängst von der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft im Zuge des äußert sachdienlichen 100-Tage-Programms der Wissenschaftspolitik gefordert), ist ohne einen Ausbau der entsprechenden Grundfinanzierung schlichtweg nicht möglich.  

Die Etablierung neuer Stellen mit Zukunftsperspektive auch im Bereich Technik und Verwaltung, ein Abbau befristeter Arbeitsverträge und unbezahlter Mehrarbeit von wissenschaftlichen Mitarbeitern und Lehrbeauftragten, sowie ein Ausbau drittmittel-unabhängigerer Forschungs- und Dissertationsprojekte, die nicht verfrüht als beendet erklärt werden, wenn die Finanzierung oder der Arbeitsvertrag auslaufen, würden nicht „nur“ die Lebenswirklichkeit vieler Wissenschaftler positiv beeinflussen, sondern auch die Attraktivität des deutschen Wissenschaftssystems für Spitzenkräfte maßgeblich erhöhen. Gute Forschung braucht Zeit!