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Wahlbarometer: Die Wahl der Qual

| 07. Mai 2021
istock.com/Sybille Reuter

Liebe Leserinnen und Leser,

die Kanzlerkandidaten zur Bundestagswahl sind nominiert, aber stehen wir vor der Qual der Wahl – oder doch eher vor der Wahl der Qual? Ganz ernsthaft, machen Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet irgendwie Lust auf die Qual, … äh Wahl? Klingen diese Namen nach Profil, Aufbruch, Veränderung – zusammengefasst: nach einem Plan? Zumindest Baerbock kündigt mit viel Tamtam an, „Zukunft machen zu wollen“ und überhaupt wollen sie alle Klimapolitik machen – aber nicht alles, was grün ist, glänzt.

Gut, vielleicht tun wir den drei Kandidaten unrecht und urteilen verfrüht. Schließlich hatten sich auch von „Sleepy Joe“ nicht viele viel versprochen, und jetzt – in den ersten Wochen seiner Amtszeit – lässt dieser angeblich senile, alte weiße Mann in seinem Tatendrang sogar Barack Obama blass aussehen (wenn dieses Wortspiel erlaubt ist) und schickt sich an, in die Fußstapfen von Franklin D. Roosevelt zu treten.

Biden macht Krisenpolitik im besten Sinne und – bevor wir vom Thema abkommen – auch die Bundestagswahl steht im ganz Zeichen ökonomischer, ökologischer und gesellschaftlicher Zuspitzungen. Letztere legt einmal mehr die soziale Ungleichheit offen (lesen Sie dazu auch unsere Ausgabe „Die Pandemie, die spaltet“). Damit ist die Heraus- und Anforderung an einen Kanzler umso größer.

Kann Biden Krise, weil er die Erfahrung hat? Ja, sagt Heiner Flassbeck: Nur wer große Erfahrung hat, kann es sich erlauben, etwas Neues zu wagen. Oder anders formuliert: Etwas Neues wagen, wie Annalena Baerbock so gerne will, kann man genau dann, wenn man das Alte beherrscht. Allerdings ist Baerbock – die vor allem damit punktet, jung und weiblich zu sein – noch nie Kanzlerin oder Ministerin gewesen. Deswegen, so Flassbeck, ist genau sie nicht die Kandidatin, die etwas Neues wagen und durchsetzen könnte.

Mit der Erfahrung will dafür Armin Laschet punkten. Während Baerbock nur „redet“, nimmt Laschet für sich in Anspruch, ein Macher zu sein, der aus dem Fundus reichhaltiger Regierungserfahrung zehren kann. Doch was er „macht“, sind lediglich altbekannte Rezepte aus dem verstaubten Kochbuch der Reaganomics aufzuwärmen, die Biden gerade hinter sich lässt. Der Krise soll mit einer „Entfesselung der Wirtschaftskraft“ entgegengetreten werden, die dadurch entfesselt wird, in dem der Staat noch schlanker wird. Marktwirtschaftliche Anreize und Bürokratieabbau mitten in der Coronakrise – man hat in der CDU offenbar nichts dazu gelernt.

Hätte es noch eines Beweises für den programmatischen Stillstand der Union bedurft, dann ist das die Reaktivierung des gescheiterten Kanzlerkandidaten Friedrich Merz als „Wirtschaftsexperten“ – ein Mann, der 2008 „Mehr Kapitalismus wagen“ wollte, als "seine Botschaft von der Überlegenheit des entfesselten Kapitalismus" durch den Crash des großen Casinos längst widerlegt worden war. Aufbruch sieht anders aus.

Das zeigt sich auch bei der Steuer- und Finanzpolitik: Gerade wo die Primärverteilung, also die Lohnpolitik, immer weiter abfällt, müsste über Steuern korrigierend eingegriffen werden, will man der Ungleichheit begegnen. Und angesichts einer wachsenden Vermögenskonzentration wäre dies politisch mehr denn je geboten. Wie aber positionieren sich die Parteien steuerpolitisch?

Auch hier könnte man sich in Deutschland viel von Biden abschauen, der gerade einen steuerpolitischen Wandel in den USA anstößt, mit dem Trickle-Down-Mythos bricht und die Unternehmensbesteuerung ausdrücklich als Teil der Verteilungspolitik behandelt. Die Kernpunkte des Steuerplans, die von der Administration Anfang April veröffentlicht wurden, sind ambitionierter als vieles, was in den vergangenen Jahrzehnten in der Steuerpolitik diskutiert wurde und können als „game changer“ verstanden werden (mehr dazu in unserer kommenden „Aktuellen Ausgabe“).

Keine Spur davon, wenn man in die Programme der Bundestagsparteien schaut (Alexander Leipold beginnt mit CDU, FDP und AfD). Hier ergibt sich allenfalls ein trüber Blick, der unseren Ihnen eingangs entgegengeschwappten Pessimismus berechtigt. Alle genannten Parteien stimmen in der Verringerung der Unternehmensbesteuerung überein. Insgesamt gilt festzuhalten: Die vorgeschlagenen steuerpolitischen Maßnahmen würden die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung verfestigen und vertiefen.