Reichsbürger und reiche Bürger
Die „Reichsbürger“ sind misanthropische Sektierer. Aber ihr auf die Abschaffung des demokratischen Staats gerichtetes Gedankengut findet man auch in einer sich als liberal verstehenden bürgerlichen Szene, für die das Steuersystem Wegelagerei ist.
Im Juli 2023 wurden nach einer bundesweiten Razzia über zwanzig „Reichsbürger“ verhaftet, weil sie offenbar einen Staatsstreich planten. Zu der von der Bundesanwaltschaft als terroristische Vereinigung eingeschätzten Gruppe gehören Leute, die auf den ersten Blick als „gutbürgerlich“ daherkommen. Aber sie haben nicht den geringsten Respekt vor anders als sie denkenden Menschen und verwechseln Freiheit mit Rücksichtslosigkeit und ihren eigenen Machtphantasien.
Man darf jedoch ihre Ideen nicht auf bizarres Querulantentum reduzieren. Ihre Vorstellungen von einer Elite, die durch Herkunft oder Bildung das quasi natürliche Recht zur Herrschaft hat, findet man in Silicon Valley ebenso wie in elitären Gesprächsrunden und sich als Libertäre oder Anarcho-Kapitalisten bezeichnenden Kreisen. Ihnen ist der Steuerstaat ebenso zuwider wie die Bestimmung des Grundgesetzes, dass Eigentum verpflichtet.
Mit dem liberalen Gedankengut von John Locke und Adam Smith, das zwischen Eigentum und Arbeit einen direkten Zusammenhang postuliert, hat ihr asoziales Verständnis von Privateigentum nichts zu tun. Erst recht können diese Leute sich nicht auf den libertären Anarchismus von Proudhon und Bakunin mit der Parole „Eigentum ist Diebstahl“ berufen. Sie sind nicht liberal oder libertär, sondern rücksichtlos und menschenfeindlich.
Peter Thiel und das ewige Leben
Unter den IT-Milliardären aus dem Silicon Valley ragt Peter Thiel als politischer Prediger hervor, als den ihn George Packer in seinem Buch Die Abwicklung beschreibt. Er zog sich schon vor etlichen Jahren, nachdem er mit dem von ihm gegründeten Zahlungssystem PayPal und Beteiligungen an Facebook und anderen Unternehmen der New Economy steinreich geworden war, aus dem operativen Geschäft zurück. Er konzentriert sich seither auf die Finanzierung von Start Ups und Forschungsinstituten. Dabei gilt sein Interesse vor allem der Erforschung der biologischen Bedingungen eines längerem, wenn nicht ewigen Lebens. Er hat keinem anderen als dem Tod den Kampf angesagt.
Deshalb hat er sich zum Beispiel an der Firma Halcyon Molecular des Biochemikers William Aldregg beteiligt, der sich die Heilung der Alterung zum Ziel gesetzt hat und den Tod für ein im Prinzip lösbares Problem hält. Eine IT-gestützte Bio-Technologie soll dafür die Instrumente und Modelle liefern.
Dieser Utopie einer allmächtigen, quasi Gott ersetzenden Technologie stehen in seinem Weltbild die Demokratie und die US-Verfassung entgegen. Die Überzeugung, dass man von der Politik nur Unheil erwarten kann, wurde ihm schon als Kind vermittelt. Seine deutschen Eltern[1] waren bibelgläubige Baptisten, für die fast alle Politiker üble Kommunisten waren. Alles, was von der Regierung oder dem Parlament kam, galt ihnen als Teufelszeug.
Die radikale Ablehnung demokratischer Institutionen bestimmt die politische Gedankenwelt von Peter Thiel. Sie würden den vom Kapitalismus ermöglichten technischen Fortschritt verhindern und hätten daher keine historische Legitimation. Er will mit der Diktatur einer kleinen Elite, wenn nicht einer einzelnen Person den Kapitalismus und damit den Fortschritt vor der demokratischen Regulierung retten.
Das spricht er in seinem Essay The Education of a Libertarian offen aus, in dem er sein politisches Credo so formuliert:
„Das Schicksal der Welt liegt vielleicht in den Händen eines einzelnen Menschen, der den Mechanismus der Freiheit erschafft oder vorbereitet, den wir brauchen, um die Welt zu einem sicheren Ort für den Kapitalismus zu machen.“
Es steht für Peter Thiel wohl fest, dass er das Zeug zu einem solchen Erlöser hat. Unfassbar, dass eine derart größenwahnsinnige, wie aus einem Kubrick-Film[2] entlaufene Person als Visionär gehandelt und von Leuten wie dem Springer-Chef Döpfner hofiert und zu Gesprächen in kleiner Runde eingeladen wird.
Skrupellose Marktideologen
Ein grundlegendes Credo von Demokratiefeinden wie Thiel ist die Behauptung von Margaret Thatcher in einem Interview mit der Zeitschrift Woman’s Own, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen und Familien. Damit wird implizit die Existenzberechtigung des demokratischen Staats als einer Verkörperung der Zivilgesellschaft geleugnet.
Das gilt vor allem für seine Gestalt als Steuerstaat, der Abgaben erhebt, um Sicherheitsbehörden, die Absicherung sozialer Risiken und die zur ökonomischen Reproduktion erforderliche Infrastruktur zu finanzieren. Das ist für die neuen Staatsfeinde legalisierte Wegelagerei, die sich nicht wirklich von den Abgaben unterscheidet, die früher Raubritter den Menschen abpressten.
In der akademischen Welt etablierte Ökonomen und Sozialphilosophen wie F. A. Hayek, Guy Kirsch oder Robert Nozick kennen grundsätzlich nur zwei Formen von Güterverteilung: Tausch und Raub. Steuern sind in ihren Augen nur dann legitim, wenn sie zur Finanzierung der das Privateigentum schützenden Institutionen der Justiz, Polizei und Armee dienen.[3]
Hayek war kein Liberaler, sondern ein skrupelloser Marktideologe, der Diktaturen wie das Pinochet-Regime in Chile unterstützte, wenn es darum ging, sozialstaatliche Modelle zu verhindern oder zu zerstören. In einem Interview mit der Pinochet unterstützenden Zeitung El Mercurio bekannte er 1981: „Ich ziehe einen liberalen Diktator einer demokratischen Regierung vor, der es an Liberalität mangelt.“
Liberalismus ist für ihn kein politisches Prinzip von Toleranz und Meinungsfreiheit, sondern eine die Marktwirtschaft und das Privateigentum verabsolutierende Doktrin, zu deren Durchsetzung auch eine Diktatur legitim ist. Für die Wahrung einer zügellosen Marktwirtschaft dürfen demokratische Freiheiten eingeschränkt oder abgeschafft werden.
Die Paläo-Libertären
In Argentinien wurde Javier Milei zum Präsidenten gewählt, der ein bekennender Anhänger des US-Ökonomen Murray Rothbard ist, den Wikipedia als Anarcho-Kapitalisten bezeichnet. Damit wird ein Mann verharmlost, der eine radikale Eigentumsphilosophie und Demokratiefeindlichkeit predigt, die man auch bei den Reichsbürgern antrifft. Rothbard postuliert eine komplette, auch die Justiz und das Militär umfassende Entstaatlichung aller öffentlichen und ökonomischen Beziehungen und deren Reduktion auf eine einfache Tauschwirtschaft von Privateigentümern.
Der wichtigste deutsche Repräsentant dieser sich selbst als „paläo-libertär“ bezeichnenden Lehre ist Hans-Hermann Hoppe, ein bekennender „Feind der Demokratie“. Für ihn ist die Französische Revolution mit der Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der historische Sündenfall, dem 1917 die bolschewistische Oktoberrevolution als logische Konsequenz folgte.
Die Demokratie sei eine Kleptokratie, die durch eine „natürliche Ordnung“ von Privateigentümern ersetzt werden müsse. Von der sollten jedoch „Kommunisten, Demokraten, Lebensalternativler, Umweltschützer, Naturanbeter“ ausgeschlossen werden. Eine private organisierte Gemeinschaft könne darüber befinden, wer zu ihr gehört und wer nicht.
Das geht zwar radikalen Marktwirtschaftlern wie dem Mitbegründer der deutschen Hayek-Gesellschaft Gerd Habermann zu weit. Aber dennoch sei Hoppes kompromissloses Eintreten für Eigentum, Familie und eine aristokratisch gegliederte Gesellschaft „sympathisch“, wie er einst in der Frankfurter Allgemeinen schrieb.
Mit einer ähnlichen Mischung aus Bewunderung und verhaltener Distanzierung beurteilt auch Dietmar Döring, leitender Mitarbeiter der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, die Postulate Hoppes. Sie bewegten sich zwar „am radikalen Rand des Liberalismus“, seien aber „gnadenlos konsequent“ und „erschreckend gut begründet“. Das sieht der frühere Feuilleton-Chef der Neuen Zürcher Zeitung René Scheu offenbar ähnlich, der Hoppe in einem Gespräch als Stichwortgeber für dessen unsägliches Geschwurbel von der „Demokratie als Form des Kommunismus“ diente.
Ignoranz von Intellektuellen
Dass die Denunziation des demokratischen Staats als Kleptokratie kein Alleinstellungsmerkmal von Sektierern wie Hoppe ist, zeigte die 2009 in den deutschen Leitmedien vom Salonphilosophen Peter Sloterdijk losgetretene Debatte über die Abschaffung des Wohlfahrtsstaates durch eine „Revolution der gebenden Hand“. Das Steuersystem habe sich „zu einem geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer von beispiellosen Dimensionen ausgeformt.“ Dieser „Plünderung“ der Leistungsträger müsse man mit einer „sozialpsychologischen Neuerfindung der Gesellschaft“ und der „Abschaffung der Zwangssteuern und deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit“ begegnen.
Zwar gab es heftige Kritik an der reaktionären Utopie Sloterdijks, aber auch Zustimmung von namhaften Intellektuellen, etwa in der Zeitschrift Merkur. In einem 2010 erschienenen Sonderheft bezeichneten deren damalige Herausgeber Karl-Heinz Bohrer und Kurt Scheel den Sozialstaat als „sozialtherapeutischen Schwachsinn“, ohne sich auch nur ansatzweise mit dessen Aufgaben, Organisation und Finanzierung auseinanderzusetzen.
Diese Ignoranz von gebildeten Kreisen ist keine Petitesse. Wenn sich als liberal verstehende Publizisten demokratiefeindliche Positionen wie die von Rothbard oder Hoppe als zwar steile, aber doch irgendwie interessante Thesen gelten lassen und in den Leitmedien die Abschaffung des Steuerstaats als diskutables, aber leider unrealistisches Postulat bewertet wird, lässt das tief blicken. Man bekommt einen Eindruck von der Bereitwilligkeit auch intelligenter Menschen, sich demokratiefeindlichen Demagogen zuzuwenden, wenn diese ihnen Steuersenkungen versprechen, die fatale ökonomische und soziale Folgen haben. Die Reichsbürger sind unter uns.
Ich danke Joseph Kuhn für wichtige Hinweise.
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