Löhne und Preise in der Eurozone
Der enge Zusammenhang zwischen den Anstiegen der Lohnstückkosten und der Preise beruht auf einer beidseitigen Kausalität. Falls sich die vorläufig beobachtbaren Muster stabilisieren, könnten sich die realen Wechselkurse in der Eurozone erneut verzerren.
Lohnstückkosten und Preise entwickeln sich langfristig Hand in Hand
Treue Makroskopen haben die untenstehende Grafik gewiss schon einmal gesehen, in dieser oder einer ähnlichen Variante. Diese Fassung stammt aus Heiner Flassbecks und Paul Steinhardts Buch „Gescheiterte Globalisierung“ von 2018 (dort auf Seite 52). Sie zeigt den in langfristiger Betrachtung engen Zusammenhang zwischen den Steigerungsraten der nominalen Lohnstückkosten und der Binneninflation (dem Preisindex der im Inland erzeugten Güter und Dienstleistungen). Man muss kein Datenfreak sein, um die in der Tat beachtliche Enge des Zusammenhangs zu erkennen: Die zwölf Beobachtungspunkte, das sind ausgewählte große Industrieländer (wobei ein Beobachtungspunkt die Eurozone, also eine Ländergruppe repräsentiert), liegen alle äußerst nah an der eingezeichneten Regressionsgeraden. Die Gleichung, die die Gerade beschreibt, hat also eine ziemlich genaue Schätzgüte, einen guten fit, wie die Statistiker sagen.
In inhaltlicher Hinsicht dient die Grafik der Veranschaulichung der Kostendruck-Theorie der Inflation, der zufolge der über die produktivitätsbereinigten Lohnkosten bewirkte Kostendruck langfristig die wichtigste Determinante von Preissteigerungen ist. Nicht bestritten wird von den Befürwortern dieser Sichtweise, dass es neben der Kostendruck-Inflation auch – in speziellen Situationen – eine Nachfragesog-Inflation gibt. Wer in diesem Sinne argumentiert, grenzt sich von der konkurrierenden monetaristischen Sicht ab, der zufolge die Inflation vor allem ein monetäres Phänomen ist.
Der in der Grafik veranschaulichte Zusammenhang dient zudem der Ableitung einer an die Lohnpolitik gerichteten Empfehlung. Die Sozialpartner – die Verbände beider Seiten wohlgemerkt – tun demnach gut daran, ihre Lohnabschlüsse ungefähr an den Produktivitätsfortschritten plus der Zielinflation (das sind im Euroraum 2%) zu orientieren. Wird diese Zielmarke nämlich dauerhaft unterschritten, droht ein Deflationsszenario, das für Beschäftigte und Unternehmen gleichermaßen schlecht ist. Und wird die Zielmarke dauerhaft überschritten, entsteht Inflation oberhalb der Zielmarke, gegen die die Geldpolitik früher oder später mit Zinserhöhungen einschreiten muss, ebenfalls zum Nachteil aller Beteiligten.
Löhne und Preise: Was treibt was?
Nun bedeutet eine Korrelation zwischen A und B nicht zwingend, dass A kausal auf B einwirkt. Es könnte sich beispielsweise auch um eine reine Zufallskorrelation handeln. A und B könnten zudem kausal unverbunden, aber beide durch denselben Hintergrundfaktor C determiniert sein. Oder A und B hängen wirklich kausal zusammen, aber in anderer Richtung als angenommen: B könnte auf A einwirken statt A auf B. Lohnt es, darüber nachzudenken, ob letzteres in unserer Grafik eine Rolle spielen könnte? Ob also vielleicht nicht nur, aber zumindest auch die Inflation auf die Höhe von Lohnabschlüssen einwirkt, statt lediglich umgekehrt? Und ob die Enge des Zusammenhangs daher vielleicht auch auf diesem Wege entsteht?
Dafür sprechen tatsächlich einige Gesichtspunkte. Die Orientierung an der Zielinflation fällt den Sozialpartnern vergleichsweise leicht, wenn sich die tatsächliche Inflation in deren Nähe bewegt. Anders verhält es sich bei höheren Inflationsraten von, sagen wir, 8%. Dann wird es für die Gewerkschaften schwierig. Denn sie muten ihren Mitgliedern hohe Reallohnverluste zu, wenn sie dem mittelfristigen Produktivitätsfortschritt lediglich zwei weitere Prozentpunkte (die 2%-Zielinflation) hinzufügen und das Ergebnis als Tarifabschluss akzeptieren. Spiegelbildlich verhält es sich, wenn die gegebene Inflationsrate die Zielinflation klar unterschreitet. Dann wird es für die Arbeitgeberverbände schwierig. Und auch vergleichsweise niedrige Lohnabschlüsse versprechen dann immer noch einen Reallohnzuwachs.
Die Sozialpartner haben also nachvollziehbare Gründe, bei ihren Lohnabschlüssen neben der Zielinflation auch die aktuell gemessene Inflation zu berücksichtigen. Ist das Umfeld inflationär, wird das insbesondere für die Gewerkschaften gelten. Im Fall von formalen Lohnindexierungen stellt sich ein Ergebnis, bei dem die Abschlüsse auf die vorgefundene Inflationsrate reagieren, automatisch ein. Hierfür war eine Zeitlang Italien der paradigmatische Fall (die zwischen 1975 und 1992 bestehende Scala mobile), heute gibt es solche Regelungen noch in Belgien sowie den sehr kleinen Euro-Mitgliedstaaten Luxemburg, Malta und Zypern (European Commission 2022: 54). Aber auch ohne formale Indexierungen dürften – nicht unbedingt: sollten – sich die Sozialpartner wohl tendenziell so verhalten, als gäbe es sie. Wer will schon Mitgliedsbeiträge an eine Gewerkschaft zahlen, die mit ihren Tarifabschlüssen Reallohnverluste bewirkt?
Kurz, es spricht einiges dafür, dass hinter dem engen Zusammenhang zwischen den Anstiegen der Lohnstückkosten und der Preise eine doppelte Kausalität steckt, die in beide Richtungen verläuft – nicht nur von den Löhnen zu den Preisen, sondern auch umgekehrt, von den Preisen zu den Löhnen.
Die Lohnentwicklung im Kontext der Inflation
Behalten wir diese Erwägungen im Hinterkopf und wenden uns einer weiteren Grafik zu. Diesmal geht es um einen sehr kurzen Zeitraum, nämlich um die sieben Quartale vom ersten Quartal des Jahres 2021 (dem Beginn der momentanen Preisschübe) bis zum dritten Quartal 2022 (leider sind die Daten für das vierte Quartal des vergangenen Jahres noch nicht verfügbar). Abgetragen werden die durchschnittliche jahresbezogene Inflationsrate für die sieben beobachteten Quartale auf der waagerechten Achse und die durchschnittlichen nominalen Lohnsteigerungen für dieselben Quartale, ebenfalls in jahresbezogenen Daten, auf der senkrechten Achse. Wir wollen darüber hinwegsehen, dass hier statt Steigerungen der Lohnstückkosten lediglich Lohnsteigerungen betrachtet werden: Angesichts der großen Unterschiede zwischen den Lohn- und Preisinflationen fallen die sehr kleinen Unterschiede zwischen den geringen Produktivitätssteigerungen nicht ins Gewicht. Die Beobachtungspunkte sind die Mitglieder der Eurozone, aber ohne die sehr kleinen Länder Luxemburg, Malta und Zypern.
Eigentlich ist es zu früh, sich bereits ein Bild über die Lohnentwicklung seit Beginn der Preisschübe zu machen. Das liegt vor allem an der Heterogenität der Laufzeiten von Tarifverträgen, die die Daten erheblich „verunreinigt“. Meine Kollegen Anke Hassel, Donato Di Carlo und ich – wir vergleichen derzeit das, wie wir es nennen, Inflationsmanagement der Euro-Mitgliedsländer – warten daher mindestens zwei weitere Quartals-Beobachtungspunkte ab, bevor wir uns fundierte Schlüsse zutrauen. Gleichwohl zeichnet sich im Nebel bereits ein Muster ab, das dem aus der ersten gezeigten Grafik ähnelt: Es sieht nach einem positiven Zusammenhang zwischen den Preis- und Lohnsteigerungen aus.
Diesmal aber müssen wir über die Richtung der Kausalität nicht rätseln. Wir wissen, dass die auf der waagerechten Achse abgetragenen Inflationsraten nicht von den Arbeitskosten getrieben sind. Selbst jene, die besonders leidenschaftlich vor einer im Entstehen begriffenen Lohn-Preis-Spirale warnen, behaupten das nicht. Es ist unstrittig, dass die derzeitigen Preisanstiege vor allem auf angebotsseitige Verknappungen während der Pandemiekrise und auf die jüngsten Anstiege der Energiepreise zurückgehen. Das spricht nicht gegen die Theorie der Kostendruckinflation, denn es kann absolut sein und ist sogar wahrscheinlich, dass die Lohnsteigerungen in der Zukunft ihrerseits auf die Preise einwirken (ich komme unten darauf zurück). Aber diese (in der Grafik gezeigten) Preisschübe haben gewiss nichts mit den Lohnentwicklungen zu tun. Vielmehr bestätigt sich, dass die vorgefundene Inflation die Lohnpolitik nicht unberührt lässt.
Ein Blick auf den Forschungsstand
Nun sind wir natürlich nicht die ersten, die sich über die Richtung der Kausalität im engen Zusammenhang von Lohn- und Preisentwicklungen Gedanken machen. Es handelt sich um ein altehrwürdiges Thema der makroökonomischen Forschung. Statistiker haben spezielle Methoden entwickelt, um Kausalitäten in Zeitreihendaten nachzuspüren. Das maßgebliche Konzept ist dabei der Granger-Kausalitätstest, benannt nach dem Ökonometriker Clive W. J. Granger. Die Befunde dieser Forschungsrichtung sind erstaunlich heterogen.
Zwar ist der langfristig enge Zusammenhang zwischen Lohn- und Preisentwicklungen auch dort unbestritten. Fragt man aber nach der Richtung der Kausalität, scheinen sich beide Möglichkeiten bestätigen zu lassen, je nach Wahl der Länder oder Ländergruppen, der analysierten Zeiträume oder der betrachteten Sektoren. So findet Mehra (1991) für die USA vor allem eine Wirkung der Preise auf die Löhne, Zanetti (2005) findet anhand schweizerischer Daten zumindest mehr Wirkung der Preise auf die Löhne als umgekehrt. Brauer (1997) hingegen findet vor allem die Kostendruck-Theorie der Inflation bestätigt, Rissmann (1995) verweist auf unterschiedliche Befunde je nach Sektor und Emery/Chang (1996) auf unterschiedliche Befunde je nach Zeitraum. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Wer mag, kann sich der beidseitigen Kausalität von Lohn- und Preisentwicklungen selbst vergewissern, denn die dafür notwendigen Daten sind leicht aus dem Netz zu fischen. Wer Verlaufskurven der Löhne und Preise für ausgewählte Länder übereinanderlegt, wird Beispiele für beide Wirkungsrichtungen mit bloßem Auge erkennen. In Deutschland beispielsweise normalisierte sich zur Mitte des vergangenen Jahrzehnts die vorher äußerst schwache Lohnentwicklung wieder, aber die Preissteigerungen zogen erst zeitverzögert nach – ein Prozess, der dann durch die Pandemiekrise unterbrochen wurde. Ein grafisch besonders eindrückliches Beispiel für Löhne, die auf Preise reagieren, scheint mir Dänemark während des ersten Ölpreisschocks (beides steigt zeitverzögert) und nach diesem Schock (beides sinkt zeitverzögert) zu sein. Und für sinkende Preise, die nachgelagert auf sinkende Löhne reagieren, ist Griechenland während der Eurokrise ein gutes Beispiel: Die Lohnsenkungen ab 2009 gingen den bezweckten Preissenkungen glasklar voraus.
Grund zur Sorge
Interessant finde ich nun, dass der Verweis auf den engen Zusammenhang zwischen Lohn- und Preisentwicklungen einen unerwarteten Twist gewinnt, wenn wir die beidseitige Kausalität in Rechnung stellen. Eigentlich läuft der Verweis auf den engen Zusammenhang ja, wie wir sahen, auf ein Plädoyer für eine an der Zielinflation orientierte Lohnregel hinaus. Wenn wir an dieser Politikempfehlung angesichts der jüngeren Vorgänge festhalten wollen, dann geht es aber gerade darum, aus dem engen Zusammenhang auszubrechen, die kurzfristigen Freiheitsgrade des mittelfristig ziemlich stabilen Zusammenhangs zu nutzen – um den Eintritt in eine Lohn-Preis-Spirale zu vermeiden, die am Ende in der Tat allen Beteiligten nur schaden kann.
Meines Erachtens gibt es durchaus Anlass für Sorge über den für die letzten sieben Quartale gezeigten Zusammenhang. Man darf hier nicht naiv sein: Selbstverständlich können die Gewerkschaften bei der Wahl ihrer Lohnforderungen die tatsächliche Inflationsrate nicht völlig außer Acht lassen. In der Praxis müssen sie zwischen zwei widerstreitenden Zielen vermitteln, dem der Reallohnstabilisierung und damit dem Schutz der eigenen Organisation einerseits und der Verhinderung von Lohn-Preis-Spiralen andererseits. Irgendwo in der Mitte zwischen beidem sind die jüngsten Lohnentwicklungen in der Tat fast überall angesiedelt.
Gleichzeitig aber agiert die Lohnpolitik in einer Währungsunion, in der es zwischen ihren Teilnehmern keine nominalen Wechselkursanpassungen mehr gibt. Stabilisieren sich die für die letzten Quartale erkennbaren Muster mittelfristig, dann besteht die Gefahr, dass sich im Euroraum unterschiedliche Inflationsniveaus perpetuieren. Denn dort, wo die Lohnsteigerungen vergleichsweise hoch sind, bewirken sie auch einen vergleichsweise hohen zusätzlichen Kostendruck auf die Unternehmen. Setzt sich das fort, dann treiben die verfestigten unterschiedlichen Inflationsniveaus die realen effektiven Wechselkurse erneut, wie bereits während der ersten Euro-Dekade, auseinander. Das mündete damals in die Euro-Krise. Nichts garantiert, dass so etwas nicht noch einmal geschehen kann. Diesmal aber, in einem inflationären Umfeld, kann die Bereitschaft der EZB, mit massenhaften Anleihekäufen zu helfen, nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden.
Mindestens ebenso wichtig wie ein gutes Inflationsmanagement erscheint daher ein gleichgerichtetes Inflationsmanagement, also: eine hinreichende innereuropäische Koordination. Bisher sehen wir davon sehr, sehr wenig, in der Lohnpolitik und zudem auch leider in der Fiskalpolitik.
Ich danke Laura Gerl für wertvolle Hinweise zu diesem Artikel.
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Literatur