Arno Luik

„Die Bahn ist ein Symbol für den Zustand dieses Landes“

| 25. Januar 2024
IMAGO / Marc John

Mit dem Buch „Schaden in der Oberleitung“ erlangte der renommierte Journalist Arno Luik viel Aufmerksamkeit. Seine Recherchen offenbaren den maroden Zustand der Bahn ‒ und helfen, die GDL-Streiks nachzuvollziehen. Wir haben ihn interviewt.

Arno Luik ist bekannt für seine Recherchen rund um das Bahnprojekt "Stuttgart 21". 2019 veröffentlichte er ein Buch über den Zustand der Bahn in Deutschland: "Schaden in der Oberleitung". Seitdem ist er in Medien als so genannter Bahnexperte gefragt und schildert die Verspätungen der Bahn als Ausdruck des allgemeinen Verfalls. Ein Gespräch über systematische Fehlplanungen, Maßlosigkeit, die Bahnstreiks und die Zukunftsfähigkeit des Schienenverkehrs.

Herr Luik, letzte Woche hat die Deutsche Bahn ihren längsten Streik der Geschichte erlebt. Ganze sechs Tage haben die Gewerkschafter der GDL ihre Arbeit niedergelegt. Da fragen sich viele, wie es so weit kommen konnte.

Einfache Antwort: das tiefverwurzelte Gefühl, schlecht behandelt zu werden; das Gefühl von Ungerechtigkeit. Für einen DB-Lokomotivführer ist ein normales Familienleben kaum möglich. Viele Lokomotivführer schieben 400 bis 600 Überstunden vor sich her – angehäuft in einem Jahr. Im Schnitt verdient ein deutscher Lokführer 35.000 Euro jährlich. Lokführer in Österreich, Luxemburg verdienen deutlich mehr – bei viel besser geregelten Arbeitszeiten. In der Schweiz, das zeigt ein Blick auf die Seiten der Schweizer Staatsbahnen, verdienen Lokführer zwischen 70.000 und 104. 000 Franken. Und so kommt es, dass schon rund 100 in Deutschland ausgebildete und dringend benötigte Lokführer in der Schweiz arbeiten.

Gleichzeitig werden die Boni der Konzernchefs erhöht…

Das Gefühl von Ungerechtigkeit speist sich vor allem aus diesen Zahlen: Die neun Bahnvorstände bekamen zu ihren überaus üppigen Gehältern neulich rund neun Millionen Euro Boni ausgeschüttet, rund zwei Millionen für den Bahnchef. Für was? Unter der Regentschaft von Bahnchef Richard Lutz hat die Bahn acht Milliarden Schulden angehäuft, so dass nun die Bahn mit 35 Milliarden Euro in den Miesen ist. Also: faktisch pleite. Doch die Täter für dieses nicht nur volkwirtschaftliches Desaster beziehen Gehälter, die durch ihre Leistung nicht zu rechtfertigen ist.

Das dürften auch die meisten Menschen so wahrnehmen, die Bahn hat einen desolaten Ruf.

Mir stellt sich ohnehin seit langem die Frage, warum der leitende Angestellte eines maroden Staatsunternehmens das Dreifache Grundgehalt bezieht wie der Kanzler. Früher hatte der Bahnchef das Gehalt eines Staatssekretärs. Und es gab keinen Bonus. Doch die Züge waren pünktlich und die Bahnhöfe ordentlich mit beheizten Warteräumen. Und wenn Schnee fiel, und es gab früher viel mehr Schnee, fuhren die Züge problemlos.

Kritik am Vorgehen der GDL wird aus Reihen der Regierung und des Bahnvorstands immer lauter. Bahnsprecherin Anja Bröker sprach von „einem Streik auch gegen die deutsche Wirtschaft“. Wie schätzen Sie das Verhalten der GDL ein?

„Die bisherigen Angebote der Bahn sind der Hohn“

Man streikt ja nicht, weil es Spaß macht. Streik ist Notwehr. Zufriedene Angestellte streiken nicht. Jeder Streik verursacht Kosten, regt Menschen auf. GDL-Chef Weselsky, ein CDUler, ist nun der böse Bube. Übersehen wird, dass er mit mehreren Privatbahnen ratzfatz Tarifverträge abgeschlossen hat, Verträge etwa mit dem Einstieg in die 35-Stundenwoche, ordentlichen Ruhezeiten nach Schichtdienst. Die bisherigen Angebote der Bahn sind der Hohn, etwa eine 32 Monate lange Laufzeit. Dieser Streik, nur etwas zugespitzt, wird vom Bahnmanagement provoziert.

Warum sollte das Management provozieren wollen?

Vielleicht geht es darum, die GDL zu zähmen, sie gar zu zerschlagen – um es zukünftig nur noch mit der kuschelweichen DGB-Gewerkschaft EVG zu tun zu haben? Dass bei der Bahn überhaupt gestreikt wird, hat auch mit der angestrebten Privatisierung zu tun: Früher waren die Lokführer Beamte – sie durften nicht streiken, sie hatten aber auch, im Gegensatz zu heute, ordentlich geregelte Arbeitszeiten.

… und das Verhalten des Vorstands?

Unverantwortlich. Die Bahn ist zu 100 Prozent im Staatsbesitz. Ich finde, ein staatlicher Betrieb sollte Vorbild sein, gerade bei Löhnen und Arbeitszeiten. Vor 40 Jahren erkämpfte die IG Metall die 35-Stunden-Woche. Sie sollte beim größten Staatskonzern schon längst Normalität sein – bei vollem Lohnausgleich.

In ihrem Bestseller Schaden in der Oberleitung geben Sie der Politik eine große Mitschuld an den vielschichtigen Problemen der Deutschen Bahn. Was hat sie in den vergangenen Jahren falsch gemacht? Und gibt es einen Zusammenhang mit den Streiks?

Der Bahnchef wird vom Bundeskanzleramt mitbestimmt. Im Aufsichtsrat der Bahn sitzen Vertreter des Finanz-, Wirtschafts- und Verkehrsministeriums, dazu noch Vertreter fast aller Parteien. Unter der rot-grünen Regierung von Schröder/Fischer wurde Hartmut Mehdorn Bahnchef. Er ist einer der Totengräber der Bahn. Er machte aus der Bahn einen global agierenden Konzern, der in 140 Ländern unterwegs ist und dort alles Mögliche und Unmögliche treibt. Die Bahn ist nur ein Anhängsel in einem Reich, über dem nie die Sonne untergeht. Milliarden wurden investiert in diese Auslandseinsätze, immense Geldsumme verpulvert, das hier dringend fehlt. Die Politik hat diesen Wahnsinn geduldet.

Warum hat die Bahn so gehandelt, wie sie es getan hat?

Die Regierenden haben die Bahn 1994 in eine Pseudo-Aktiengesellschaft verwandelt. Danach sagten sie: Wir haben mit der Bahn eigentlich nichts mehr zu tun. Mehdorn hat dieses Desinteresse ausgenützt – für seine Weltmachtträume. Er wollte ein „Master of the Universe“ sein. Noch 1999 wurden mehr als 95 Prozent des DB-Umsatzes im Inland und mehr als 90 Prozent mit der Schiene erwirtschaftet. Aber dann kam Hartmut Mehdorn und mit ihm der Drang, die Welt zu erobern.

„Mehdorn wollte ein Master of the Universe sein.“

Als Mehdorn von 1999 bis 2009 Chef der Deutschen Bahn war, sagte er: „Unser Markt ist nicht Deutschland. Unser Markt ist die Welt.“ 2005 erklärte dieser Bahnchef, ohne gerügt zu werden, dass ihm die Bahn nicht so wichtig sei: „Bis zum Ende des Jahrzehnts werden wir 60 Prozent unserer Umsätze mit Non-Rail-Aktivitäten erwirtschaften. Über 50 Prozent unserer Umsätze werden von jenseits der Grenzen Deutschlands kommen.“

Eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft ist das erklärte Ziel der Ampelregierung. Was muss sich bei der Bahn ändern, um Ziele wie beispielsweise Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen?

Hat dieses Reden von der Klimaneutralität noch einen Bezug zur Wirklichkeit? Nein. Was im Augenblick geschieht und auch weiterhin geschehen wird: sämtliche Weichen werden falsch gestellt – alle gegen das Klima. Fahren Sie mal die A7 rauf und runter. Entlang der Autobahn ploppen fast wöchentlich neue Logistikzentren, Firmenbauten hoch – alle ohne Gleisanschluss. Klima ade. Geplant sind bei der Bahn fast ausschließlich unökologische und unwirtschaftliche Großbauten, oft mit überaus teuren und überaus klimaschädlichen Tunnelbauten.

Sie spielen auf Stuttgart 21 an …

Stuttgart 21 ist ein Beispiel, aber auch die geplante Untertunnelung von Frankfurt, oder was derzeit in München geschieht. Dort wird für den S-Bahn-Verkehr jahrelang gebuddelt werden. Tiefbahnhöfe sind geplant – 41 Meter unter der Erde, angeschlossen an kilometerlange Tunnel. Denkmalgeschützte Gebäude werden abgerissen, Hochhäuser kommen, das Gesicht der Stadt wird sich verändern. „Zweite Stammstrecke“ heißt das Unterfangen, eine S-Bahnstrecke mit langen Tunneln, die für die Reisenden und Pendler wenig bringen wird. Aber dies: Erst jahrelang Lärm, Dreck mitten in der City, danach für immer längere Laufwege, weniger Umsteigemöglichkeiten und im Unglücksfall den Horror: Wie kommt man aus dieser Bergwerkstiefe in Sicherheit? Kosten des Projekts: drei Milliarden, sagt die Bahn. Sechs Milliarden werden es wohl werden.

Heißt, die Bahn ist nicht die Lösung, sondern das Problem?

Ist die Bahn umweltfreundlich? Das ist ein liebevoll gepflegter Mythos. Zugfahren, so wird suggeriert, rettet den Eisbären auf seiner schmelzenden Eisscholle. Schön wär’s. Doch grüne Streifen auf den ICEs machen keinen ökofreundlichen Zug. Bei Geschwindigkeiten über 230 Kilometer pro Stunde ist der Energieverbrauch immens. Klima ade. Außerdem fahren, weltweit einmalig, diese Züge auf Betonplatten. Klima ade. Denn: Beton ist einer der größten Umweltverschmutzer.

„Ist die Bahn umweltfreundlich? Das ist ein liebevoll gepflegter Mythos.“

Und noch etwas: Fast alle Rennstrecken führen durch ewig lange Tunnel. Das kostet sehr viel Energie. Beim Bau von einem Kilometer Eisenbahntunnel wird so viel CO2 freigesetzt, wie 26.000 Autos in die Luft schleudern, die im Schnitt (was der Bundesbürger tut) 13.000 Kilometer fahren. Diese Bahn ist ein Dieseljunkie: Fast 2 500 Triebwagen und Lokomotiven mit Dieselmotoren rollen durch Deutschland, das ist ein Drittel des DB-Fuhrparks, und die meisten von ihnen sind mit einer Uralt-Abgastechnik ausgestattet, die sich an den Schadstoffwerten von 1999 orientiert: echte Dreckschleudern. Diese Loks müssten – wie die Dieselautos – nachgerüstet, modernisiert, am besten abgeschafft werden, aber da geschieht nichts. Gerade mal 61 Prozent der Strecken hierzulande sind elektrifiziert, peinlich für eine angeblich so moderne Industrienation, die angeblich klimaneutral werden will.

Also ist ihrer Meinung nach eine verstärkte Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene weder wünschenswert noch machbar angesichts des Zustandes der Deutschen Bahn?

Es wäre schön, nur: nicht machbar. Dazu ein paar Zahlen: 1990 transportierte die Bahn in der BRD 300 Millionen Tonnen Güter. 2018 waren es in Gesamtdeutschland bloß noch 255 Millionen Tonnen, Tendenz weiter fallend. Hatte die Bahn 1994 noch knapp 12.000 Gleisanschlüsse für die Industrie, sind es heute noch knapp 2.000. Im selben Zeitraum wurde das Gleisnetz um 20 Prozent zurückgebaut. Das Restnetz ist total überlastet.

„Im Koalitionsvertrag umfasst das Thema Bahn nicht mal eine Seite.“

Wie fatal die Lage ist, zeigt sich an dieser Zahl: Um auf einen Zustand zu kommen wie in der Schweiz, müsste das Netz augenblicklich um 25.000 Kilometer erweitert werden. Ein Ding der Unmöglichkeit. So richtig wichtig scheint der Regierung allen schönen Worten zum Trotz das Thema Bahn und Verkehrswende nicht zu sein. Im Koalitionsvertrag umfasst das Thema Bahn nicht mal eine Seite. Er ist eine lose Aneinanderreihung all jener Plattitüden und Verheißungen, die man seit Jahren hört: Reaktivierung von Strecken, Elektrifizierung, Kapazitätserweiterung. Potenziell Klimafreundliches wird gewunden formuliert und relativiert: „Bei neuen Gewerbe- und Industriegebieten soll die Schienenanbindung verpflichtend geprüft werden.“ Die Bahn ein Trauerspiel – Symbol für den Zustand dieses Landes.