Ein verheißungsvoller Weg für die MMT
Wer die Modern Monetary Theory nicht verstehen will, nagelt sie darauf fest, sie wolle unbegrenzt Geld in unbekümmerter Weise schaffen.
Stellvertretend für alle Missversteher der nach allen Seiten offenen, deskriptiven Geldtheorie (Dirk Ehnts) sei hier ein ehemaliger Zentralbanker zitiert, der nicht gerade zum Mainstream seiner Zunft gehört. Die Rede ist von dem Spanier Miguel Ángel Fernández Ordóñez und seinem Buch Adiós a los Bancos. Er qualifiziert die Modern Monetary Theory – kurz MMT ‒ pauschal als eine Modeerscheinung des linken Flügels der US-amerikanischen Demokraten ab. Öffentliche Defizite seien diesem egal, weil Geld unbegrenzt geschöpft werden könne, ohne dass die Inflation steige. Er gelangt zu folgendem Fazit: Die MMT sei fundamental falsch und er werde nicht eine einzige Zeile in seinem Buch dafür widmen, die Defekte dieser Theorie aufzuzeigen. Wissenschaftliche Redlichkeit sollte es dennoch verlangen.
Die Mythen der chronischen Missversteher
Wer sich die Mühe macht, einmal ein wenig eingehender bei der MMT nachzulesen, dem kann nicht entgehen, wie sehr sie sich ihre Vertreter bemühen, diesen Vorwurf der verantwortungslosen Geldverschwendung zu widerlegen.
Sie tun es einmal dadurch, dass sie die Mythen aufzeigen, auf dem dieser Vorwurf beruht. Diese Aufklärungsmission ist enorm schwierig, weil nämlich die Brandredner gegen die MMT dazu bereit sein müssten, seit Jahrhunderten eingefahrene Denkpfade zu hinterfragen, geschweige denn zu verlassen. Und, was wohl noch viel schwieriger ist: ihre obersten Herolde müssten bereit sein, viel Macht abzugeben.
Nehmen wir die MMT-Ikone Stephanie Kelton und ihr Buch The deficit myth: Modern Monetary Theory and the birth of the people’s economy. Folgende Mythen zählt sie unter anderem auf: Der Staat müsse seinen Haushalt wie die schwäbische Hausfrau führen. Ein öffentliches Defizit sei der Beweis dafür, dass der Staat zu viel Geld ausgegeben habe. Schuldenopfer des unverantwortlichen Umgangs mit dem „knappen“ Gut Geld sei die nächste Generation. Öffentliche Investitionen verdrängten private Investitionen und seien somit auf lange Sicht wachstumsschädlich. Der Staat werde dabei zum schädlichen Konkurrenten beim Zugang zur knappen Sparreserve.
Bei diesen Mythen wird Folgendes geflissentlich übersehen:
- Der währungssouveräne Staat ist nicht auf Steuern angewiesen, denn er hat das Schöpfungsmonopol des einzig sicheren Geldes, das heißt: des gesetzlichen Zahlungsmittels. Dabei darf nicht vergessen werden, dass das private Geldschöpfungsmonopol nicht ohne den Schutzschirm des staatlichen Geldes denkbar ist.
- Das Defizit des Staates, sagen wir von 100 Euro, führt gemäß der Logik sektoraler Salden immer an einer anderen Stelle (private Haushalte, Unternehmen, Ausland) zu einem Anstieg des Nettogeldvermögens von 100 Euro.
- Das Vermögen (Brücken, Schulen etc.), das der Staat durch Deficit Spending heute erstellt, steht der nächsten Generation zur Verfügung, ohne dass diese deshalb höhere Steuern zahlen müsste.
- Staatliches Deficit Spending erhöht die privaten Ersparnisse. Und zwar dadurch, dass es die privaten Investitionen stimuliert. Diese sind nämlich ‒ unter der Bedingung, dass sie erfolgreich sind ‒ unabdingbar für Ersparnisse.
An dieser Stelle verlangt die wissenschaftliche Redlichkeit darauf hinzuweisen, dass die MMT-Argumentation auf der vollen Währungssouveränität eines Landes aufbaut. Im Hinblick auf die EU-Länder ist diese eingeschränkt. Eine weitere Einschränkung besteht selbst für währungssouveräne Länder hinsichtlich der Auslandsverschuldung. Darauf weist auch Kelton hin. Lediglich die USA mit ihrem Weltgeldschöpfungsmonopol des Dollars schwebt (noch) erhaben über allen Einschränkungen. Sie kann ihre Schulden weltweit mit der eigenen Währung bezahlen.
Welche Einschränkungen auch bestehen, sie ändern nichts an der grundsätzlich richtigen Deskription der Funktionsweise des Geldes. Die eine oder andere weitere Kritik, die an der MMT angebracht werden kann, wird weiter unten ausgeführt.
Der Hinweis auf Geldemissionsgrenzen wird nicht zur Kenntnis genommen
Die MMT-Vertreter betonen ausdrücklich, dass die staatliche Geldschöpfung an der „Auslastung“ der zur Verfügung stehenden Ressourcen und an der Inflationsgefahr ihre Grenze findet.
Bei Kelton liest man: „Wir müssen sicherstellen, dass wir, so gut wir können, mit unseren realen Ressourcen umgehen und nachhaltige Produktionsmethoden entwickeln (…)“. Dirk Ehnts ist sich bewusst, dass der Staat nach Bedarf Geld ausgeben kann, dabei aber durch die Ressourcen (Arbeitskräfte, Land, Energie etc.), die ihm für sein Geld angeboten werden, begrenzt wird. Und Günther Grunert schreibt:
„Dies bedeutet aber nicht, dass eine Regierung ausgeben kann oder sollte, wie viel immer sie will. Denn wenn die Politik die Nachfrage über die Produktionskapazität eines Landes hinaus treibt, droht Inflation. Erhöhte Staatsausgaben wirken so lange nicht inflationär, wie ungenutzte reale Ressourcen – einschließlich verfügbarer Arbeitskräfte – in der Volkswirtschaft vorhanden sind, die einer produktiven Verwendung zugeführt werden können, solange also das Wachstum der nominalen Gesamtnachfrage das Wachstum der realen Produktionskapazität nicht übersteigt.“
Trotz des klaren Standpunkts von MMT-Vertretern zum engen Nexus zwischen Geldausgabe, Inflation und Ressourcengrenzen wird dieser von den chronischen Missverstehern nicht zur Kenntnis genommen. Das ist unverständlich.
Der Steuerbegriff muss vertieft werden
Um in der verfahrenen Situation weiterzukommen, ist die Frage nach der tieferen Bedeutung von „Steuern“ unumgänglich. Die Verbindung zum Begriff der „Steuerung“ liegt nahe. Auch hier führt der Weg wieder zu einem Vertreter der MMT, zu Randall L. Wray. In seinem Buch Modern Monetary Theory. A primer on macroeconomics for sovereign monetary systems lesen wir über die Zwecke der Steuern unter anderem:
„Der dritte Zweck besteht darin, von schlechtem Verhalten abzuschrecken: Verschmutzung von Luft und Wasser, Tabak- und Alkoholkonsum oder Kauf von Importen (…). Diese werden oft als ‚Sünden‘-Steuern bezeichnet, deren Zweck es ist, die Kosten für die ‚Sünden‘ des Rauchens, des Glücksspiels, des Kaufs von Luxusgütern und so weiter zu erhöhen.“
Wray präzisiert hier den Begriff der „Steuerung“ in die Richtung von „Verhaltenssteuerung“. Heißt, durch Verteuerung der „sündigen“ Waren soll das entsprechende „sündige“ Verhalten erschwert oder ganz verhindert werden. Mit der Vorstellung der „Verteuerung“ bleibt Wray aber noch der Logik der „monetarisierten“ Steuer verhaftet. Yeva Nersisyan zeigt einen Weg, der darüber hinausweist.
Welche Bedingungen müssen für eine Steuererhebung erfüllt sein? Für diese Frage ist es hilfreich, die Begriffe der Steuerbasis und des Steuersatzes heranziehen.
Die Steuerbasis ist das, womit der Steuerzahler aus Sicht des Steuererhebers verantwortungsvoll umgehen soll. Der Steuersatz ist der sanktionierende Verhaltenskalibrator. Wichtig ist sich klarzumachen, dass sich die Sanktionierung immer nur im Rahmen von geringer und schwerer negativer Sanktionierung bewegen kann. Völlig der steuerlichen Sanktionierung kann sich nur derjenige entziehen, der überhaupt keine Steuern zahlt. Der Steuererheber weiß, dass das Verhalten dieses Typs Nicht-Steuerzahler keiner negativen Sanktionierung bedarf. Seine Einkünfte sind so gering, dass sie ihm nur ermöglichen (sollten), sich auf die Befriedigung seiner vitalen Bedürfnisse zu konzentrieren. Um nicht zu hungern, sich warm anziehen zu können und eine schützende Bleibe bezahlen zu können. Sollte er sich tatsächlich teure Zigaretten kaufen, dürfte er schnell schmerzhaft merken, dass seine vitalen Bedürfnisse zu kurz kommen.
Die alles entscheidende Bedingung für die Erhebung einer Steuer besteht darin, dass die Steuerbasis auf einem monopolistischen Eigentum beruht.
Im vorhandenen Steuersystem beruht sie auf dem staatlichen Währungs- und Geldschöpfungsmonopol. Der Monopol-Eigentümer ist der Staat. Das Monopol führt auf direktem Weg zur monetarisierten Steuer. Um in den Besitz des Geldes zu kommen, das dem berufstätigen Bürger ermöglicht, seine Steuerschuld beim Staat zu begleichen, muss er sich einer steuerpflichtigen Arbeit unterwerfen. Durch einen geringeren oder größeren Einzug einer bereits erfolgten Geldausgabe durch den Staat – in Form von Steuergutschriften – zieht dieser seine Steuern ein. Mit Steuerzahlungen weist der Berufstätige nach, dass er seine wertschöpfende Arbeitspflicht erfüllt hat. Er begleicht dadurch seine Arbeitsschuld gegenüber dem Staat.
Yeva Nersisyan stellt das Bodenmonopol in Frage
Yeva Nersisyan – Professorin für Wirtschaftswissenschaften am Franklin and Marshall College in Lancaster – zeigt in ihrem lesenswerten Beitrag „Die Wahrheit über Geld zu verschleiern, ist Betrug“ eine verheißungsvolle Fährte auf. Sie schreibt:
„Sollte sich jedoch herausstellen, dass die vorhandenen Ressourcen nicht ausreichen, müssen wir uns der wichtigen Aufgabe zuwenden, die notwendigen realen Ressourcen zu schaffen. Wenn das Ziel so wichtig ist, wie die Bewältigung des Klimawandels, ist es gerechtfertigt, darüber zu diskutieren, ob Ressourcen, die der Privatsektor nutzt, eingeschränkt und auf öffentliche Prioritäten verlagert werden müssen. Der private Sektor hat kein gottgegebenes Recht auf die Ressourcen einer Nation.“
Die Aussage des letzten Satzes ist von enormer Tragweite. Für historisch Interessierte sei der Hinweis erlaubt, dass schon Pierre Joseph Proudhon am biblischen Verständnis der Erde als Eigentum Gottes festhielt. Und es war der napoleonische Code Civil, der das Privateigentum am Boden legalisierte und „das frühere Unrecht des feudalen Großeigentums auf eine neue kapitalistische Weise fortführte“ (Werner Onken). Nach meiner Auffassung stellt Nersisyan berechtigt das Bodenmonopol in Frage. Eine im Prinzip seit 1789 längst überfällige Notwendigkeit.
Wie könnte man ans Werk gehen? Der wohl bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes, sagte, „daß die Zukunft mehr vom Geiste Gesells als von jenem von Marx lernen wird.“ Tatsächlich betrachtet die MMT ihre Theorie als nicht kompatibel mit den „metallischen“ Geld(wert)vorstellungen von Marx. Keynes spricht von Silvio Gesell (1862-1930), der nicht nur eine Geldreform verlangte, sondern in gleichem Maße eine „interessenneutrale Boden- und Ressourcenordnung“ (Werner Onken). Es ging ihm um die Beseitigung eines in höchstem Maße destabilisierenden Faktors im Geld- und Wirtschaftskreislauf, der leistungslosen Bodenrente. Das gegenwärtige riesige gesellschaftliche Problem der Immobilienspekulation lässt grüßen.
Mit ihrer mahnenden Behauptung, dass der „private Sektor kein gottgegebenes Recht auf die Ressourcen einer Nation“ habe, könnte sich Nersisyan als Vordenkerin und Wegweiserin innerhalb der MMT hervortun. Jedenfalls ist mir nicht bekannt, dass sich bisher ein Ökonom aus dem Kreis der MMT so weit vorgewagt hat wie sie.
Die drei wichtigsten Monopole, die in menschlichen Gesellschaften anzutreffen sind, sind das Währungs- und Geldschöpfungsmonopol, das Bodenmonopol sowie das Produktions- und Arbeitsmonopol. Bei dem ersten sind die „Steuerungs“-Instrumente in monetarisierter Form am stärksten entwickelt. Von demokratisch oder gar partizipatorisch entwickelten Instrumenten kann allerdings keine Rede sein. Die Geldschöpfer machen sich einen schlanken Fuß und ziehen sich hinter realitätsferne Neutralitäts- und Unabhängigkeitskonstruktionen des „unpolitischen“ Geldes zurück.
Das zweite Monopol verschanzt sich hinter dem ideologischen Panzer des unantastbaren Privateigentums. Und das dritte bindet die eigentlichen Wertschöpfer in einen Arbeitsvertrag ein. Dieser macht sie abhängig von den Arbeitgebern und nimmt ihnen echte Einflussmöglichkeiten auf die „Steuerung“ dessen, was sie – in einem weitesten Sinne – produzieren müssen.
Sollte sich jedoch die nach allen Seiten offene MMT einer Infragestellung des Bodenmonopols gegenüber öffnen, so wäre das schon einmal ein mutiger Schritt vorwärts in Richtung Steuerung von natürlichen Ressourcen. Nicht-monetarisierte Formen der Steuerung sind da durchaus denkbar. Auch Ndongo Samba Sylla („Ursachen für die Schuldenkrisen des Globalen Südens“) sollte Gehör finden. Er gibt dem Globalen Süden den Rat, jene Ressourcen voll auszuschöpfen, über die jedes Land mit seiner Währung verfügen kann.
Ein Schritt vorwärts wäre auch eine eingehendere Reflexion des Ressourcenbegriffs. Nersisyan meint etwa „wenn die vorhandenen Ressourcen nicht ausreichen, müssen wir uns der wichtigen Aufgabe zuwenden, die notwendigen realen Ressourcen zu schaffen“. Ist das wirklich so einfach? Gilt das in gleichem Maße für alle Ressourcen? Da sind die Ressourcen Wasser, Sand, Holz, Energie, Maschinen oder menschliche Arbeitskraft. Wie deklinieren sich „Auslastungen“ oder „Knappheiten“ im Hinblick auf den einzelnen Ressourcentyp? Wie stellen sich Abhängigkeiten bzw. Überordnungs- und Unterordnungsverhältnisse der Ressourcen voneinander bzw. untereinander dar?
Dunkle Flecken in der MMT
Das Problem der Aggregierung etwa. Ein Geldsoziologe wie Josef Huber, dessen geldtheoretische Expertise unbestritten ist, hat zu Recht große Bedenken, dass die MMT Staat, Regierung und Zentralbank in einen Topf wirft. Und Heiner Flassbeck hat einen Punkt, wenn er auf eine notwendige Differenzierung zwischen privaten Haushalten und Unternehmen innerhalb des privaten Sektors hinweist. Dass sich zum Beispiel der Staat nur dann ohne Probleme schuldenfrei halten kann, wenn entweder die privaten Haushalte nicht sparen oder die privaten Unternehmen sich jederzeit so stark verschulden, dass sie die Ersparnisse der privaten Haushalte vollständig aufsaugen.
Es fehlt eine klare Positionierung zur Rolle des Giralgeldes und der Giralgeldschöpfung, wohl wissend, dass Giralgeld mittlerweile 90 Prozent der zwischen Banken und Nicht-Banken zirkulierenden Geldmenge ausmacht. Eines Geldes, das ohne den Schutzschirm des gesetzlichen Zahlungsmittels der Zentralbank nicht lebensfähig wäre. Da finden sich Positionen, die darauf vertrauen, dass die Eigenkapitalbestimmungen von Basel III, die auf eigene Risikogewichtungen der Geschäftsbanken vertrauen, ausreichen würden, um deren Geschäftsgebaren in Schach zu halten. Hier und da gibt es auch (zu zaghafte) Eingeständnisse bezüglich Immobilieninflation.
Der eingangs erwähnte ehemalige spanische Zentralbanker Miguel Ángel Fernández Ordóñez hat da keine Probleme. In seinem 300 Seiten dicken Buch stampft er Giralgeld und Basel III in Grund und Boden.
Man sollte meinen, dass der MMT an einer möglichst störungsfreien Zirkulation des Zentralbankgeldes gelegen sein müsste. Aber da ist Fernández Ordóñez, der nichts von der MMT wissen will. Und da ist vermutlich die MMT, die nichts von Fernández Ordóñez wissen will. Wie das eben oft so ist, wenn Geldökonomen oder -soziologen aneinander vorbeihören.
Werner Onken (2022): Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Von der Akkumulation und Konzentration in der Wirtschaft zu ihrer Dezentralisierung. 3 Bände