Drinnen draußen, draußen drinnen?
Seit einigen Jahren wird in Brüssel entschlossen versucht, nichts aus dem Brexit zu lernen, und so wie die Dinge liegen, könnte dies durchaus gelingen.
Was man hätte lernen können? Nichts geringeres als wie man die technokratische, merkatokratische antidemokratische Schimäre eines zentralisierten europäischen neoliberalen Imperiums aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert abschütteln und die Europäische Union in eine friedliche Gemeinschaft souveräner Nachbarstaaten verwandeln könnte, verbunden durch ein Netz nicht-hierarchischer, freiwilliger, gleichberechtigter Beziehungen wechselseitiger Kooperation.
Supranationalismus ist ein Schleier
Das Innenleben der Europäischen Union ist unendlich kompliziert und ausgesprochen undurchsichtig, aber ein Prinzip gilt überall. Um es zu verstehen, muss man die Innenpolitik der drei wichtigsten Mitgliedsstaaten, Deutschland, Frankreich und Italien, und ihre komplexen trilateralen Beziehungen verstehen. Supranationalismus ist nicht mehr als ein Schleier, hinter dem sich das eigentliche Handeln, national wie international, abspielt.
Frankreich sieht Europa als ein erweitertes Spielfeld für seine globalen Ambitionen; Deutschland braucht die Europäische Union, um sich Produktionsstandorte für seine Industrien, Märkte für seine Produkte und Niedriglohnarbeiter für seine heimischen Dienstleistungssektoren zu sichern, sowie um seine Beziehungen zu Frankreich und den Vereinigten Staaten auszubalancieren; und Italien braucht »Europa«, insbesondere Deutschland, für sein Fortbestehen als Nationalstaat mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung.
Die Briten haben das nie wirklich verstanden. Selbst der britische diplomatische Dienst empfand das Brüsseler Gestrüpp als undurchdringlich. Während Thatcher die EU hasste – zu fremdländisch für ihren Geschmack – glaubte Blair, dass er ihr Napoleon werden könnte, indem er sie zusammen mit Chirac und Schröder in eine neoliberale Umstrukturierungsmaschine verwandelte: als der Große Kontinentale Vereiniger, diesmal von außen. Aber von wegen: Frankreich und Deutschland ließen ihn als Adjutanten seines amerikanischen Freundes allein in den Irak-Krieg und anschließend in seinen Untergang ziehen.
2015 musste dann Cameron erfahren, dass selbst das mächtige Großbritannien, gewöhnt, über die Wogen der Weltmeere zu herrschen, Merkozy nicht einmal die winzigen Zugeständnisse zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Binnenmarkt entlocken konnte, die er zu brauchen glaubte, um das Referendum von 2016 zu gewinnen – welches ja die britische EU-Mitgliedschaft in Stein meißeln sollte.
Gegenseitiges Unverständnis führt zum Brexit
Und in Deutschland kümmerte es niemanden, wie Merkels offene Grenzen im Sommer 2015, als sie eine Million Flüchtlinge ins Land ließ, sich auf das britische Votum auswirken würden. Die meisten Geflüchteten kamen aus Syrien, von wo sie durch einen Bürgerkrieg vertrieben worden waren, den Deutschlands amerikanischer Freund am Köcheln hielt, ohne ihn beenden zu können. Für Merkel war dies eine Gelegenheit, ihr im Frühjahr desselben Jahres erworbenes Image als »Eiskönigin« zu korrigieren, als sie hatte verlauten lassen, »wir können nicht alle aufnehmen«.
Das Unverständnis beruhte auf Gegenseitigkeit. Auf dem Kontinent glaubte niemand, dass die Regierung Cameron ihre Referendums-Wette verlieren könnte. Die einzigen Briten, mit denen die gebildeten Schichten des Kontinents sprechen, gehören zur gebildeten Schicht der britischen Inseln und waren aus unterschiedlichen, oft miteinander unvereinbaren Gründen vorbehaltlos in die EU verliebt. Für die Euro-Idealisten der linken Mitte war die EU eine Vorschau auf eine politische Zukunft ohne den Makel einer politischen Vergangenheit, ein von vornherein tugendhafter Staat, allein schon deshalb, weil er noch gar keiner war – »Europa« als Gelegenheit für eine moralische Neugründung eines postimperialen Landes von oben.
Andere, die wussten, wie Brüssel funktioniert, müssen sich dabei ins Fäustchen gelacht haben – insbesondere eine politische Klasse, die schon lange die Möglichkeit schätzen gelernt hatte, schwierige Themen direkt in die Eingeweide des undurchschaubaren Brüsseler Leviathans zu verfrachten, um sie dort bis zur Unkenntlichkeit zerstückeln zu lassen.
Zu letzteren gehörten auch die Post-Blair-Blairisten der Labour Party. Nachdem sie die Macht verloren hatten und sich einer Arbeiterklasse gegenübersahen, die sie in gut britischer Tradition als rückständig empfanden, waren sie froh, einen Rest von Sozial- und Regionalpolitik aus Brüssel importieren zu können. Dabei kann ihnen nicht entgangen sein, dass Brüssel nicht in der Lage war, irgendetwas von Bedeutung zu liefern, nicht zuletzt, weil britische Regierungen, einschließlich New Labour, der »sozialen Dimension« des »Binnenmarktes« die Zähne gezogen hatten, indem sie sie den heiligen Imperativen der wirtschaftlichen »Wettbewerbsfähigkeit« unterwarfen. Dies musste in dem Moment nach hinten losgehen, als die Wähler sich zu fragen begannen, warum ihre nationale Regierung sie in der sozialen Wüste der globalen Märkte schutzlos zurückgelassen und die Verantwortung für ihre Bürger an eine fremde Macht und ein fremdes Gericht abgegeben hatte.
Die Scheidungsverhandlungen hinter verschlossenen Türen
Als Cameron, von Merkel und Co. im Stich gelassen, verlor, saß der Schock tief, doch dann nahm die EU-Politik wieder ihre gewohnte Gangart auf. Frankreich sah eine Gelegenheit, sein ursprüngliches Konzept eines integrierten Europas wieder auszugraben: als Erweiterung des französischen Staates, mit dem besonderen Ziel, Deutschland in ein französisch dominiertes Bündnis einzubinden. Für den Fall, dass Großbritannien seine Meinung änderte und die Remainer sich doch noch durchsetzten, musste die Rückkehr in die Herde demütigend genug sein, um jede Möglichkeit einer zukünftigen britischen Führungsrolle auszuschließen.
Die Scheidungsverhandlungen wurden auf EU-Seite von dem französischen Diplomaten Michel Barnier geleitet, einem der herausragenden Technokraten der Brüsseler Szene. Er spielte von Anfang an mit harten Bandagen und lies die Referendumsrevisionisten auf britischer Seite, wie man sagt, am ausgestreckten Arm verhungern. Das hieß nicht, dass den Briten der Austritt leichtgemacht werden sollte. Hier kam Deutschland ins Spiel, mit seinem ausgeprägten Interesse an der Aufrechterhaltung der Disziplin unter den EU-Mitgliedsstaaten. Macron und Merkel bestanden darauf, dass die Scheidungsvereinbarung für Großbritannien teuer sein müsse, vorzugsweise mit der Verpflichtung, die Regeln des Binnenmarkts und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für immer zu akzeptieren, auch nach dem Austritt. Für Deutschland ging es darum, den anderen Mitgliedsstaaten zu zeigen, dass jeder Versuch, die Beziehungen mit Brüssel neu zu verhandeln, aussichtslos wäre, und dass Sonderrechte innerhalb oder außerhalb der Union überhaupt nicht in Frage kämen.
Es wird die Aufgabe von Historikern sein, aufzudecken, was wirklich zwischen Frankreich und Deutschland während der Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien geschah. Es gibt kein demokratisches, oder vorgeblich demokratisches, politisches System auf der Welt, das so sehr hinter verschlossenen Türen funktioniert wie die Europäische Union. Ungeachtet des deutschen staatlichen Interesses an europäischer Disziplin muss die deutsche Exportindustrie zugleich an einer einvernehmlichen wirtschaftlichen Beziehung mit dem Post-Brexit-Britannien interessiert gewesen sein, und sie muss dies der deutschen Regierung unmissverständlich mitgeteilt haben.
Öffentlich war davon jedoch nichts zu merken: weder in der Verhandlungsstrategie von Barnier noch in den Verlautbarungen von Merkel. Sehr wahrscheinlich lag das daran, dass Deutschland zu diesem Zeitpunkt unter dem Druck von Macron stand, den britischen Austritt als Gelegenheit für mehr und striktere Zentralisierung zu nutzen, vor allem in fiskalischer Hinsicht – ein Thema, bei dem Deutschlands Widerstreben, Vereinbarungen zuzustimmen, die es in Zukunft teuer zu stehen kommen könnten, auf die stillschweigende Unterstützung der Briten gestoßen war, auch wenn das Vereinigte Königreich kein Mitglied der Eurozone war.
Als der »Deal-or-No-Deal«-Tag näher rückte und das übliche Ritual des Verhandelns bis zur letzten Minute einsetzte, scheint Merkel dann doch ihr Gewicht hinter die Forderungen der deutschen Exportwirtschaft geworfen zu haben. Das Vereinigte Königreich war nun ausreichend gedemütigt worden. Während der letzten Verhandlungssitzungen sprach Barnier, obwohl noch anwesend, nicht mehr für die EU; sein Platz wurde von einer engen Mitarbeiterin von der Leyens eingenommen. Zum guten Schluss nutzte Frankreich den neuen »britischen« Coronavirus-Stamm, um den Verkehr von Großbritannien zum Kontinent für zwei Tage zu blockieren, aber das konnte nicht mehr verhindern, dass der Deal abgeschlossen wurde. Johnsons Hochrisiko-Verhandlungsstrategie wurde mit einem Vertrag belohnt, von dem er mit Recht behaupten konnte, dass er die britische Souveränität wiederherstellt. Er bezahlte dafür mit einer Menge Fisch, was aber durch die weitere Entwicklung der Pandemie gnädig vertuscht wurde.
Was sind die Folgen von all dem?
Frankreich hat 1300 zusätzliche Zollbeamte eingestellt, die eingesetzt werden können, um die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und dem Kontinent, einschließlich Deutschland, jedes Mal zu unterbrechen, wenn die französische Regierung das Gefühl hat, dass die »gleichberechtigten Wettbewerbsbedingungen« des Abkommens nicht mehr gewahrt werden. Frankreich und Deutschland ist es gelungen, andere EU-Länder, vor allem im Osten, davon abzuschrecken, die Einigung mit Großbritannien als Präzedenzfall für ihre Bestrebungen nach mehr nationaler Autonomie zu beanspruchen. Druck innerhalb der EU für ein kooperativeres und weniger hierarchisches Bündnis kam nicht zustande. Und Merkels Nachfolger werden eine noch komplexere Beziehung zu Frankreich als in der Vergangenheit zu bewältigen haben, da sie nun französischen Umarmungen ohne britische Unterstützung und vor dem Hintergrund der Ungewissheiten der Biden-Administration widerstehen müssen.
Was das Vereinigte Königreich betrifft, so regiert für die Lexit-Fraktion nun wieder das Parlament, unabhängig von den Europäischen Verträgen und dem Europäischen Gerichtshof, und die britischen Bürger haben nur noch ihre eigene Regierung zur Verantwortung zu ziehen, wenn etwas schief geht. Außerdem scheinen Euro-Revisionisten, von ihren Gegnern Remoaners genannt, ihren Widerstand aufgegeben zu haben, zumindest vorläufig, obwohl sie vermutlich weiterhin nach Schutzmechanismen gegen den strikt majoritären Parlamentarismus des britischen Staates suchen.
Möglich ist, dass sich Schottland vom Vereinigten Königreich abspaltet, wenn die Scottish National Party sich die pro-europäische Stimmung mit dem Versprechen zunutze macht, sich um den leeren britischen Sitz an der dann 27-köpfigen Tafelrunde von König Emmanuel zu bewerben. Dies würde darauf hinauslaufen, die schottische nationale Souveränität an Brüssel abzugeben, unmittelbar nachdem man sie von London zurückgewonnen hat, und dabei die zwiespältigen historischen Erfahrungen Schottlands mit französischen Verbündeten und Herrschern zu vergessen.
Solange es eine Aussicht auf einen schottischen EU-Beitritt gibt, kann man ausschließen, dass Brüssel aus dem Brexit lernt. Andererseits, da Lernen in Brüssel so oder so unüblich ist, kann man die Angelegenheit genauso gut dem gesunden Menschenverstand der Schotten überlassen.