Internationale Politik - 6

Demokratie schafft Frieden – Der Liberalismus

| 18. Januar 2023
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Demokratien sind friedlich, unter ihnen gibt es keine Kriege – so die bekannte These des Liberalismus. Tatsächlich lassen sich weder der demokratische Friede, noch der demokratische Separatfriede nachweisen.

Im letzten Gespräch hat Sophie begonnen, mit Lukas über die Theorie der Internationalen Beziehungen zu sprechen. Die erste behandelte Theorie war der Realismus. Heute erklärt sie ihm den Liberalismus.

„Der Liberalismus gehört zu den idealistischen Theorien, das heißt, er macht uns Hoffnung auf eine friedlichere Welt.“

„Und worauf gründet sich diese Hoffnung?

„Unter anderem auf Demokratie. Im Jahre 1986 veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Michael Doyle eine aufsehenerregende Studie: Er stellte fest, dass Demokratien seit 1700 untereinander keinen Krieg geführt haben. Sind Demokratien also friedfertiger als autoritäre Staaten? Kann eine Demokratisierung die Welt friedlicher machen? Diese Fragen haben auch Philosophen der Aufklärung schon bejaht. Der bedeutendste Vordenker dieser Idee ist Immanuel Kant, der sie in der Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ entfaltet hat.“

„Über diese Schrift hatten wir beim Thema militärische Interventionen schon gesprochen, die Kant abgelehnt hat.“

„Weil er die Souveränität von Staaten als Basis von Demokratisierung angesehen hat. Demokratie ist für ihn aber wiederum Basis einer friedlicheren Welt.“

„Warum?“

Der demokratische Friede

„Sein zentrales Argument findet sich in folgender bekannten Stelle:

Wenn (wie es in dieser [republikanischen] Verfassung nicht anders sein kann) die Bestimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten (als da sind: selbst zu fechten, die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich lässt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen."

Das heißt also, Krieg ist nicht im Interesse des Volkes, weil es die gesamte Last des Krieges tragen muss.  Würde man das Volk darüber entscheiden lassen, ob Krieg geführt werden soll, wäre die Antwort offensichtlich Nein. Wie sieht das nach Kant in einem autokratischen Staat aus?“

„In einem autokratischen Staat ist Krieg die ‚unbedenklichste Sache von der Welt‘, weil das Oberhaupt während dem Krieg sein verschwenderisches Leben ohne Einbußen weiterführen kann. Es kann den Krieg wie eine ‚Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen‘ beschließen. Das Oberhaupt hat zudem seinen ‚allzeit dienstfertigen diplomatischen Korps‘, der die Rechtfertigung des Krieges übernimmt. Soviel zu Kant.

Es gibt im Liberalismus aber noch eine ganze Reihe weiterer Begründungen, warum Demokratien friedfertiger sind als andere Staatsformen:

  • Demokratie bedeutet ja, dass das Volk das Sagen hat. Je mehr Einfluss die breite Bevölkerung auf die Politik hat, desto mehr wird sie für eine gleichere Verteilung des Vermögens sorgen. Jeder bekommt einen größeren Anteil vom Kuchen ab als in einem autoritären Staat, wo eine Oligarchie in die eigene Tasche wirtschaftet. Das schafft eine größere Zufriedenheit und wirkt einer Spaltung der Gesellschaft entgegen. Auch die Möglichkeiten der Mitbestimmung sind für die Bevölkerung eine Form der Anerkennung und Grund größerer Zufriedenheit. Eine zufriedenere Bevölkerung wird aber weniger Interesse haben, Konflikte gewaltsam auszutragen.
  • Da sich das Volk selbst regiert, ist die Regierung nicht mehr auf einen Unterdrückungsapparat angewiesen. Das Militär beruht auf dem ‚Staatsbürger in Uniform‘. Das reduziert die Gefahr, dass der Militärapparat im eigenen Interesse agiert und den Militarismus fö Wenn es einen Konflikt mit einem anderen Staat gibt, wird das Problem in einer demokratischen Öffentlichkeit breit diskutiert. An der politischen Entscheidung für oder gegen einen Krieg sind verschiedene Gremien beteiligt, in denen bestimmte Verfahren eingehalten werden müssen. Die Demokratien manchmal vorgeworfene Langsamkeit hat eine zivilisierende Wirkung. Bei einem Diktator könnte die Entscheidung für oder gegen den Krieg lediglich von seinem Bauchgefühl abhängen.
  • In einer demokratischen Öffentlichkeit werden Konflikte durch bestimmte Regeln ausgetragen, die gewaltfrei sind. Dies hat eine erzieherische Wirkung. Die Lösung von Konflikten durch Diskussion und Abstimmung festigt die Haltung, dass Gewalt keine Lösung ist. Das wirkt sich auch auf den Umgang mit anderen Staaten positiv aus.

Die Teilhabe der breiten Bevölkerung an der Politik führt also zu einer größeren Friedfertigkeit. Das haben beispielsweise liberale Politikwissenschaftler wie Ernst-Otto Czempiel oder Bruce Russett vertreten.“

Der demokratische Friede auf dem Prüfstand

„Das hört sich für mich nach einem erstrebenswerten Ziel an, nicht aber nach einer Beschreibung der Realität. Die meisten sogenannten Demokratien dürften diesem Bild weit hinterherhinken. Die Ungleichheit ist in vielen westlichen Demokratien erheblich angewachsen. Politische Mitbestimmung bedeutet für die meisten Bürger lediglich, alle vier Jahre wählen zu gehen und darauf zu hoffen, dass die Politiker ihre Wahlversprechen einhalten. Die meisten westlichen Demokratien haben eine Berufsarmee. Während des Kolonialismus haben westliche Demokratien im globalen Süden die wahre Hölle verbreitet. Das klingt für mich ganz und gar nicht friedfertig. Sind denn die Staaten, die gemeinhin als Demokratien bezeichnet werden, wirklich friedfertiger als autokratische Staaten?

„Darüber gibt es in der Wissenschaft eine breite Diskussion. Es ist nicht leicht, die These des ‚demokratischen Friedens‘ zu überprüfen. Die Untersuchung wäre einfacher, wenn alle Demokratien gleich organisiert und alle Konflikte sehr ähnlich wären. Das ist natürlich nicht der Fall. ‚Demokratie‘ wurde in der politischen Theorie zudem sehr unterschiedlich definiert. Mit dieser Frage hatten wir unser Gespräch begonnen. Und natürlich kann man mit Staaten keine Experimente machen. Man kann ihnen nicht einfach die Schweizer Demokratie ‚verordnen‘ und dann schauen, ob sie sich in den nächsten hundert Jahren aus allen Kriegen heraushalten. Hinzu kommen mathematisch-statistische Schwierigkeiten. Nicht zuletzt deshalb gibt es sehr unterschiedliche Antworten auf diese Frage.“

„Da würden mich verschiedene Einschätzungen interessieren und wie sie begründet werden.“

„Ich kann dir jetzt nur einen sehr knappen Überblick geben: Manche halten die größere Friedfertigkeit als belegt, andere bestreiten sie und stufen auch autokratische Staaten nicht einfach als kriegerischer ein. Zunächst muss man betonen, dass sich die genannte Studie von Doyle, übrigens einem Kantianer, lediglich auf Kriege zwischen Demokratien bezieht. Gegenüber Nichtdemokratien haben Demokratien viele Kriege geführt. Demokratien können deshalb keinesfalls als pazifistisch gelten. Deshalb spricht man auch vom demokratischen Separatfrieden.“

„Aber wie kann sich Doyle dann auf Kant berufen? Offenbar ist das Volk doch bereit die Last des Kriegs zu tragen, sofern es sich um eine Nichtdemokratie handelt.“

„Eine Erklärung ist, dass Demokratien einander sozusagen als verwandt ansehen und sich deshalb gegenseitig weniger wahrscheinlich als Bedrohung einordnen. Autokratien sind ihnen hingegen fremd und darum passiert es leichter, sich von ihnen bedroht zu fühlen. Dass man aber auf eine Bedrohung mit Krieg antwortet, widerspricht Kant zumindest nicht grundsätzlich. Denn dass das Volk bereit ist, einen Verteidigungskrieg zu führen, hat Kant nicht bestritten.“

„Müssten dann ihre Beziehungen nicht umso schlechter sein, je autokratischer ein Staat ist? Und kann man das auch beobachten?“

„Dafür gibt es leider keinen klaren Beleg. Hier kommen wir zu der Gegenthese: Nicht nur der demokratische Friede, sondern auch demokratische Separatfriede lässt sich nicht nachweisen. Denn tatsächlich haben die USA und der Westen häufig mit autokratischen Staaten wie Saudi-Arabien enge Beziehungen gepflegt, während sie gegen deutlich demokratischere Staaten militärisch oder geheimdienstlich vorgingen. Diese These wird besonders in der kapitalismuskritischen Theorie vertreten. Aus dieser Sicht ist die im Liberalismus verbreitete Bedeutung von ‚Demokratie‘ ohnehin zu eng gewählt. Denn auch in afrikanischen oder indianischen Kulturen existierten demokratische Strukturen, die man sogar als wesentlich direkter als im Westen einstufen kann. Und diese Kulturen wurden während des Kolonialismus und Imperialismus von westlichen Staaten, deren Verfassungen sich nur unwesentlich von ihrer heutigen Gestalt unterscheiden, brutal zerstört. Der Separatfriede erklärt sich aus dieser Sicht vor allem aus der US-amerikanischen Hegemonie und den Bündnissen der USA, zu denen neben Demokratien aber auch Autokratien gehören.“

„Dann ist die liberale Hoffnung also vergeblich?“

„Ernst-Otto Czempiel hat als Vertreter des Liberalismus hervorgehoben, dass die Friedfertigkeit eben von dem Grad der Demokratisierung abhängt und anerkannt, dass es hier gerade auch im Westen Defizite gibt. Seine Hoffnung auf eine friedfertigere Welt liegt also in einer tieferen Verankerung von Demokratie in der Gesellschaft. Wissenschaftlich ergibt dies natürlich das Problem, wie man das nachweisen kann. Eine solche These lässt sich empirisch sogar unangreifbar machen: Immer wenn ein noch demokratischeres Land doch einen Krieg führt, kann man sagen, dass es eben noch nicht demokratisch genug war.“

„Nehmen wir mal an, dass Demokratien tatsächlich friedfertiger sind, wie kann man dann bewirken, dass die Welt auch demokratischer und damit friedfertiger wird?“

„Darauf gibt es im Liberalismus eher defensive und eher offensive Antworten. Aber darüber hatten wir schon gesprochen. Für Kant war die staatliche Souveränität wie gesagt die Basis einer demokratischen Entwicklung, weshalb er entschieden dagegen war, Demokratie mit militärischen oder geheimdienstlichen Mitteln herbeizuführen. Anders der liberale Internationalismus wie er besonders in den USA vertreten wird: Die USA sind die Ausnahmenation, die als Demokratie nicht zuletzt auf Grund ihrer militärischen Stärke die Aufgabe haben, Demokratie in der Welt zu bewahren und zu fördern.“

„Gibt es im Liberalismus noch andere Ideen, wie sich der Friede fördern lässt?“

„Oh ja: Durch internationale Institutionen und den internationalen Handel. Die Theorie, dass Demokratie friedensförderlich ist, nennt man übrigens republikanischen Liberalismus, während die Theorie friedensfördernder Institutionen als regulatorischer Liberalismus bezeichnet wird. Der regulatorische Liberalismus wird aber oft auch dem Institutionalismus zugerechnet, der neben dem Realismus und Liberalismus als eigenständige Schule betrachtet wird. Wir kommen auf ihn zurück. Weiterhin gibt es den wirtschaftlichen Liberalismus, nach dem sich Freihandel positiv auf die internationalen Beziehungen auswirkt. Die klassisch liberalen Befürworter des Freihandels hast du schon kennen gelernt.“

„Die Ökonomen Adam Smith und David Ricardo. Aber warum sollte Freihandel zu Frieden führen?

Mit Freihandel zu einer friedlicheren Welt?

„Dafür werden unter anderem folgende Argumente angeführt: Freihandel soll nach Smith und Ricardo ja vorteilhaft für alle am Freihandel beteiligten Nationen sein. Diese Vorteile sind aber in gewisser Hinsicht davon abhängig, dass die Nationen untereinander Frieden wahren, denn Krieg würde die Handelsbeziehungen empfindlich stören. Neben den Regierungen treten internationale Unternehmen, aber auch NGOs als einflussreiche Akteure auf, die andere Interessen als Staaten haben. Die internationalen Beziehungen werden also pluralistischer. Durch die Ausbreitung des Kapitalismus auf der Welt gibt es international ein viel engeres Netz von Beziehungen. Dadurch werden Staaten weniger autonom und das Bild einer anarchischen Staatenwelt, wie es vom Realismus vertreten wird, entspricht immer weniger der Realität.

Gut, damit hast du einen ersten Einblick in den Liberalismus gewonnen. In der dritten Theorietradition steht der Kapitalismus im Mittelpunkt, im Unterschied zum wirtschaftlichen Liberalismus wird sein Einfluss auf die internationalen Beziehungen aber sehr kritisch gesehen.“

Der nächste Artikel behandelt die kapitalismuskritische Theorie.