Fachkräfteeinwanderungsgesetz

Fachkräfte rein – Arbeitsstandards raus  

| 02. Mai 2023
istock.com/Aleksei Savin

Innenministerin Nancy Faser stellt eine stärkere Fachkräftezuwanderung als alternativlos dar. Für Entsende- und Empfängerländer birgt das große Risiken. Dabei ist der Fachkräftemangel nicht flächendeckend – und könnte auch durch nationale Anstrengungen bekämpft werden.

Wenn es nach der Bundesinnenministerin Nancy Faeser geht, ist die Sache eindeutig:

„Wir brauchen mehr Zuwanderung von Fachkräften aus anderen Ländern, um unseren Fachkräftebedarf zu decken. Ohne diese Zuwanderung wird es nicht gehen.“

Mit diesen Worten warb Faeser bei einer ersten Lesung des Gesetzesentwurfs für das Fachkräfteeinwanderungsgesetz für ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild, das auf die deutschen Verhältnisse zugeschnitten sein soll.

Doch absolute Formulierungen wie die der Innenministerin machen hellhörig. Daher: Inwieweit ist der Fachkräftemangel zutreffend? Und ist die verstärkte Zuwanderung von Fachkräften wirklich alternativlos?

Corona hat den Fachkräftemangel noch verschärft

Zunächst lohnt ein Blick auf die Arbeitsmarktstatistiken, um das Ausmaß des Problems zu bestimmen. Im April 2023 waren laut der Bundesagentur für Arbeit fast 773.000 offene Arbeitsstellen gemeldet. Ein Großteil der gemeldeten Arbeitsstellen entfällt auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Lediglich 2 % der offenen Stellen sind nicht-sozialversicherungspflichtig. Laut dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) haben besonders Arbeitgeber im sozialen Bereich bzw. im Gesundheitssektor Probleme, ihre Stellen zu besetzen:

„Namentlich handelt es sich um Pflege, Sozialarbeit und Erziehung. Unter den zehn Berufen mit den größten Fachkräftelücken sind fünf dem sozialen beziehungsweise dem Gesundheitssektor zuzuordnen.“

Insbesondere die soziale Arbeit sticht hier heraus: Im Jahresdurchschnitt 2021 / 2022 konnten mehr als dreiviertel der Stellen für sozialpädagogische Experten nicht besetzt werden. Diese Mangellage bezeichnet das IW als einen „traurigen Rekord“. Genauso wie bei den Erziehern war der Arbeitskräftemangel in diesem Sektor noch nie zuvor so groß wie im Untersuchungszeitraum. Unter den ‚Flop-Ten‘ der Berufe mit Stellenbesetzungsproblemen sind auch andere nicht-soziale Berufe vertreten, wenn auch nicht in einem solchen Umfang. Dazu gehören Bauelektrik, Informatik, Kraftfahrzeugtechnik, Berufskraftfahrer sowie Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik.

Das heißt aber auch: Es gibt keinen flächendeckenden Fachkräftemangel, sondern Stellenbesetzungsprobleme in einigen wenigen Branchen. Gleichzeitig sind dies vor allem jene Branchen, die sich vielerorts durch schlechte Arbeitsbedingungen und eine vergleichsweise geringe Entlohnung auszeichnen.

Wie durch ein Brennglas hat die Coronakrise die Probleme offengelegt und den mangelnden politischen Willen, sie zu bearbeiten: Insbesondere die Labilität des Gesundheitssystems wurde durch die steigenden Belastung der immer weniger werdenden Fachkräfte offensichtlich. Selbst während der Pandemie wurden noch weitere Betten abgebaut. Forderungen nach Entlastungen für das Gesundheits- und Krankenpflegepersonal wurden mit Klatschen goutiert – staatliche Hilfen verkamen zu Einmalzahlungen, die in der Inflation verpuffen.

Durch die Lockdownpolitik und den damit verbundenen psychosozialen Schäden – insbesondere für Schüler und Studenten – werden heute verstärkt Angebote aus dem sozialpädagogischen und erzieherischen Feld nachgefragt. Laut einer Umfrage der Hochschule Fulda und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) ist die Belastung der sozialen Berufe nach der Coronapandemie erheblich angestiegen. Mehr als 50 Prozent der Beschäftigten schaffen ihr Arbeitspensum nicht; mehr als ein Drittel der Befragten arbeiten regelmäßig drei oder mehr Stunden zusätzlich wöchentlich. Die Coronapandemie und ihre Folgen haben also die Mangellage im Gesundheitssektor und sozialen Bereich weiter verschärft.

Austerität verhindert Nutzung großer Beschäftigungspotentiale

Gleichzeitig birgt der deutsche Arbeitsmarkt immense Beschäftigungspotentiale. Denn die Zahl der Arbeitssuchenden ist um ein Vielfaches größer als die der unbesetzten Stellen. Den knapp 773.000 offenen Stellen standen laut Bundesagentur für Arbeit im April 2023 rund 2,6 Millionen Arbeitslose gegenüber. Diese Statistik ist jedoch verkürzt: Die Bundesarbeitsagentur rechnet verschiedene Arbeitslose heraus. Dazu gehören Personen, die im weiteren Sinne arbeitslos sind (Teilnehmer in Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung oder Arbeitslose, die älter als 58 sind) sowie Unterbeschäftigte (Teilnehmer an Qualifizierungsmaßnahmen, Beschäftigte im zweiten Arbeitsmarkt, vorruhestandsähnliche Regelungen, kurzfristige Arbeitsunfähigkeit sowie Personen in Kurzarbeit, Altersteilzeit und geförderter Selbstständigkeit). Zählt man diese Gruppen hinzu, käme man auf insgesamt 3,4 Millionen Arbeitslose – gut 800.000 Personen mehr im Vergleich zur konservativen Zählung. Die Arbeitslosenquote läge demnach im April nicht bei den ausgewiesenen 5,7 sondern bei 7,4 Prozent.

Ob nun die geschönten oder die realistischen Arbeitslosenzahlen herangezogen werden – Fakt ist: Der Arbeitsmarkt weist nicht die Kapazitäten auf, um alle Arbeitslosen aufzunehmen. Selbst wenn es möglich wäre, jede der offenen Stellen zu besetzen, blieben noch etwa 1,8 Millionen bis 2,5 Millionen Menschen arbeitslos.

Was den Fachkräftemangel betrifft, wäre eine naheliegende Schlussfolgerung, vorhandene Potentiale des heimischen Arbeitsmarkts zu nutzen, indem Anreize durch Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie bessere Lohnstandards und Arbeitsbedingungen bei offenen Stellen gesetzt werden.  Einer solchen Gangart hat Faeser jedoch in ihrer Position als Vertreterin des Bundes bei den Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes (ÖD) weitestgehend entgegengearbeitet.

Obwohl im ÖD viele Berufe vertreten sind, in denen Fachkräftemangel vorherrscht – zum Beispiel Erzieher in kommunalen Kindertagesstätten oder Sozialarbeiter an öffentlichen Grund- und weiterbildenden Schulen – stemmte sich die Innenministerin gegen die Forderungen der Gewerkschaften. Der gewerkschaftliche Vorschlag von 10,5 % mehr Lohn und mindestens 500 Euro mehr für eine Laufzeit von 12 Monaten hätten mindestens einen Inflationsausgleich bedeutet, bei den unteren Gehaltsgruppen sogar eine Reallohnsteigerung von bis zu 18 Prozent. Beim – vielleicht nicht ganz unabsichtlich – kompliziert gestalteten Tarifabschluss im ÖD belaufen sich die Reallohnverluste laut Marcel Fratzscher, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), perspektivisch auf 6 %. Dafür ist insbesondere die lange Laufzeit von 24 Monaten verantwortlich.

Faeser hingegen verkauft es als Erfolg, dass es mit dem Tarifabschluss gelungen sei, die „angespannte Haushaltslage“ im Griff zu behalten. Heißt: ‚Haushaltskonsolidierung‘ ist wichtiger als Reallohnsteigerungen. Damit wird gleichsam der soziale Sektor des ÖD – der vom Fachkräftemangel stark betroffen ist – kaum attraktiver.

Mit diesem Austeritätskurs geht Faeser einer Konfrontation innerhalb der Ampel aus dem Weg, was insbesondere den noch ungeklärten Haushalt 2024 betrifft. In dieses Bild passt auch die Behauptung, zusätzliche Fachkräftezuwanderung sei alternativlos. Tatsächlich geht es vielmehr um eine Kosten-Nutzen-Kalkulation: Solange sich zur Sparpolitik bekannt wird, ist eine Förderung von mehr Migration bereits ausgebildeter Fachkräfte auf den ersten Blick günstiger als die verstärkte Ausbildung inländischer Arbeitskräfte, oder mehr öffentliche Gelder für die Entlohnung von (noch) unattraktiven Berufen.

Doch die Förderung der Fachkräfteeinwanderung ist sowohl aus nationaler als auch internationaler Perspektive kritikwürdig.

Weder für heimische noch für ausländische Beschäftigte vorteilhaft

Vorrangig spricht – je nach Perspektive, die man einnimmt – für oder gegen eine verstärkte Fachkräfteimmigration auf nationaler Ebene, dass sie Arbeitskämpfe einhegt. Werden vor allem im sozialen und Gesundheitssektor unbesetzte Stellen mit Arbeitsmigranten statt mit heimischen Arbeitskräften ‚aufgefüllt‘, nimmt das Arbeitgeber aus der Pflicht, die Attraktivität der Stellen zu verbessern. Schon Karl Marx und Michael Kalecki wussten, dass viele heimische Arbeitslose als „industrielle Reservearmee“ Druck auf die Lohnentwicklung ausüben und verbesserte Arbeitsbedingungen verhindern. Die irischstämmige Journalistin Angela Nagle attestiert in Anlehnung an mehrere Studien eine spaltende Tendenz von hoher Einwanderung: Es ist wahrscheinlich, dass sie sich „negativ für geringqaulifizierte und niedrigbezahlte einheimische Arbeitskräfte auswirkt und gleichzeitig wohlhabende einheimische Arbeitskräfte und den Unternehmenssektor begünstigt.“

So überrascht es kaum, dass das Fachkräfteeinwanderungsgesetz bei den Arbeitgebern auf Zuspruch stößt. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) fordert mehr „Tempo“ bei den Verwaltungsverfahren und sieht besonders bei der „Zuwanderung von jungen Menschen […] viele Chancen.“ Auch müsse es einige „Nachbesserungen“ im Entwurf geben, insbesondere was die Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsstandards eingewanderter Fachkräfte betrifft. Unter anderem plädiert die BDA dafür, das Beschäftigungsverbot in der Zeitarbeit zu streichen.

Eine verstärkte Fachkräfteeinwanderung hat einen weiteren Vorteil für die Arbeitgeber, wovon man jedoch kaum in öffentlichen Stellungnahmen lesen kann: Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte verstärkt den sogenannten Braindrain, also die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus ihren Herkunftsländern. Damit werden die Entwicklungschancen peripherer Volkswirtschaften geschwächt und die ohnehin schon führende Position der Volkswirtschaften aus den globalen Zentren weiter ausgebaut. Insbesondere das weltmarktorientierte Kapital kann von einer Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit gegenüber global Playern anderer Volkswirtschaften profitieren. Folglich nimmt nicht nur die ungleiche Entwicklung innerhalb der Nationen zu, sondern auch zwischen ihnen.

Die Abwerbung ausländischer Fachkräfte für prekäre Arbeitsverhältnisse vor Ort zeugt also von Wirtschaftsnationalismus unter dem Deckmantel der Willkommenskultur. Aus einer internationalen Perspektive müsste es vorrangig darum gehen, die Entwicklung peripherer Volkswirtschaften zu stärken, anstatt ihnen ihre Fachkräfte abzuwerben. In der Vergangenheit haben Gewerkschaften gezeigt, dass sie mit Kampagnen der internationalen Solidarität die Löhne von Millionen ausländischer Mitglieder erhöhen können. Zeitgemäß wäre es, daran anzuknüpfen, anstatt Faesers Weg des Braindrain zu gehen.