Game Changer
Liebe Leserinnen und Leser,
ein Game Changer ist ein Akteur, der einen so starken Einfluss auf ein Spiel, eine Branche oder einen Markt hat, dass sich die Regeln, denen diese unterworfen sind, bisweilen radikal ändern. Game Changer können Technologien, Persönlichkeiten, Unternehmen, Produkte oder – Krisen sein.
Im Jahr 2001, an einem September, dem elften Tag des Monats, war es ein Anschlag – oder personalisierter, eine Gruppe von Flugzeugentführern um Mohammed Atta – der sich als Game Changer für die geopolitische Ordnung der Welt erwies.
1994, 1998, 2004 wurden in dieser Reihenfolge Amazon, Google und Facebook gegründet, die Unternehmen erwiesen sich nicht nur als Game Changer für das, was wir seitdem unter Konsum, Information, Öffentlichkeit, Freundschaft und Kommunikation verstehen, sondern stehen auch für eine neue Art der kapitalistischen Verwertung und Ausbeutung unter dem unaufhaltsam aufsteigenden Stern der Digitalisierung: Dem Plattformkapitalismus.
2007/2008 war es die Investmentbank Lehmann Brothers, allgemeiner gesprochen, die Finanzkrise, die ein Game Changer war: Anders als erwartet änderten sich die Regeln des Spiels aber nicht auf den Finanzmärkten, sondern in der Eurozone – hin zu einer radikalen neoliberalen Verrechtlichung. Nicht die Banken, sondern die Staaten wurden an die Kette gelegt.
Das Virus Covid-19 ist im noch jungen 21. Jahrhundert wohl der erste große Game Changer dieser Art, der all dies überschatten könnte. Nicht zuletzt scheinen wir trotz aller Beharrungskräfte Zeuge zu werden, wie das ungeschriebene Gesetz von TINA – dass es keine Alternativen gibt zum Sachzwang, zur Haushaltskonsolidierung, zur marktkonformen Demokratie, zum Freihandel, zur Globalisierung und zum Ende der Geschichte mit dem Triumph des liberalen Kapitalismus – pulverisiert wird.
Doch wer sind die Superhelden, die Komplizen des Makro-Game-Changers, die Zahnräder der Neuordnung, die im Chaos der Krise die Regeln des Spiels neu zu bestimmen versuchen? Wir stellen einige der weißen und dunklen Helden – Mikro-Game-Changer auf ihren Feldern – vor.
1 Joe Biden
Ein US-Präsident hat immer das Potential, ein Game Changer zu sein – doch Joe Biden meint es offenbar ernst: Nicht nur leitet er die größten Konjunkturpakete in der Geschichte der Vereinigten Staaten in die Wege, auch erleben wir mit ihm die fulminante Renaissance des Staates, die Rückkehr von Big Government. Diese Agenda manifestiert sich in plakativen Aussagen wie „Go Big“ oder „Shots In Arms And Money In Pockets“. Reaganomics ist tot, Bidenomics lebt. Statt Trickle Down jetzt Middle-Out. Ganz in diesem Sinne plant die Biden-Administration eine Steuerreform, die all das, was wir in den letzten 40 Jahren in der westlichen Welt an Steuerpolitik erlebt haben, auf den Kopf stellt.
2 EU-Kommission
Die EU-Kommission versucht zumindest (verzweifelt) ein Game Changer zu sein – ohne dabei die Kompetenzen und Durchschlagskraft eines US-Präsidenten zu haben. Aber, man wirft zumindest halbherzig die eigenen Dogmen über Bord, nicht ohne weiter die Suada des Freihandels oder der „Schuldentragfähigkeit“ fortzuführen. Doch Worten folgen selten Taten. Und da der Einfluss Chinas langsam bedrohlich wird, will man ein bisschen eigene Industriestrategie und – siehe da – Protektionismus und Autonomie.
3 Weltwirtschaft
Kommt der Umschwung? Die konjunkturelle Lage hellt sich auf – auch in den wichtigen Industrienationen wie den USA und Deutschland. Die Corona-Krise scheint zumindest ökonomisch überwunden, auch wenn viele Fragen offenbleiben. Dass wir kein zweites 1930 erlebt haben, ist bei allen Unzulänglichkeiten den staatlichen Stabilisatoren, der Fiskalpolitik und umfangreichen Hilfspaketen zu verdanken. Alles Argumente, denen der Wirtschaftsliberalismus vorerst wenig entgegenzusetzen hat (siehe 1, Biden).
4 Brexit
Die Auflösungserscheinungen von 40 Jahren Neoliberalismus, Sparpolitik und Deindustrialisierung – in der britischen Variante auch Thatcherismus genannt – macht sich auf der Insel durch partei- und innenpolitische Erosionserscheinungen bemerkbar, sprich: in einer identitätspolitischen Fragmentierung, die – verstärkt durch die Dynamik des Brexits – nun zu Separationsbestrebungen in Schottland führt. Wir erinnern uns: "There is no such a thing as society." Der Thatcherismus zeitigt seine Spätfolgen, das britische Empire scheint die zweite Phase seiner Auflösung zu erleben.
5 Influencer
Sie sind das jüngste Produkt des Plattformkapitalismus und zugleich die letzten Agitatoren des im Neoliberalismus längst verblassten Aufstiegsversprechens, des American Dreams. Die altbekannte Botschaft wird neu aufgewärmt: Jeder kann es schaffen, auch heute noch kann der Tellerwäscher zum Millionär werden – vorausgesetzt, er besitzt ein Handy und einen eigenen Social Media Kanal, suggerieren zumindest die Influencer. Um sie hat sich abermals eine neue Form der Ökonomie und des Marketings gebildet, es ist die vorläufige Vollendung der Ich-AGs und Selbstvermarktung. Ihnen auf den Zahn gefühlt haben Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt in ihrem Bestseller „Influencer“.