Editorial

Weimar, Wagenknecht und Bolsonaro

| 22. Juni 2021
istock.com/jackbab

Liebe Leserinnen und Leser,

die EZB kündigte unlägst an, auch in naher Zukunft nicht von ihrer expansiven Geldpolitik abrücken zu wollen. Die Zinsen bleiben weiter historisch niedrig. Gleichzeitig steigen die Rohstoff- und Energiepreise, genauso die Erzeugerpreise in der Industrie – ein Frühindikator für die Inflation. Im Euroraum gab es im April einen Anstieg um 7,6 % im Vergleich zum Vorjahresmonat.  

Entsprechend ziehen auch die Verbraucherpreise in der Eurozone an. Lag die Inflationsrate im Dezember 2020 noch bei minus 0,3 % im deflationären Bereich, hat sie im April zum Ende des Ersten Quartals 2021 mit 2 % die Zielinflationsrate der EZB erreicht.

Und die steigenden Preise haben alte Gespenster geweckt. Die ewigen Warnrufe vor der ausufernden Inflation wispern durch die Hallen der Institute. Schnell, viel zu schnell, werden die immer gleichen, wenn auch zusammenhangslosen Vergleiche mit Weimar bemüht. Dabei ist das wirtschaftshistorische Wissen bei Deutschlands Spitzenpolitikern und Top-Ökonomen dünn gesät. Der Blick auf die Inflation wird von einem kollektiven Trauma der 1920er Jahre getrübt: Menschen, die mit Schubkarren voll Geld durch die Gegend laufen, um sich davon ein Brot zu kaufen. Damit scheint der Fall abgeschlossen; die expansive Geldpolitik war schuld an der Hyperinflation.

Doch, wie Julien Niemann Revue passieren lässt, war es keineswegs allein die Ausweitung der Geldmenge im Stil einer EZB, die in der Weimarer Republik die Hyperinflation auslöste. Erst massive angebotsseitige Schocks brachten den Stein ins Rollen. Hätte den Staatsausgaben und der steigenden Kaufkraft der Wirtschaft eine entsprechende Ausweitung des Produktivitätsniveau gegenübergestanden, die Geschichte wäre anders verlaufen.

Ein wenig an Weimar erinnern auch die Verhältnisse in Brasilien. Die junge brasilianische Demokratie ist als soziales und wirtschaftliches Transformationsprojekt gescheitert, konstatiert Moisés Balestro. Überhaupt ist die gesamte Geschichte des Landes von einer politischen Instabilität durchzogen. Zwischen 1930 und 2020 gab es in Brasilien zwanzig Präsidenten, aber nur vier derjenigen, die gewählt wurden, schafften es, ihr Mandat zu beenden. Waren für diese politische Instabilität zwischen den 1930er und den 1960er Jahren vor allem Militärputsche verantwortlich, gibt es seit den 1990er Jahren andere Methoden des Putsches: Amtsenthebungsverfahren - mit zum Teil fragwürdigen Korruptionsvorwürfen.

Das ist das Feld für das Aufkeimen der gespenstischen antipolitischen Rhetorik, für die der amtierende Präsident Jair Bolsonaro wie kein anderer steht. Seine politische Stärke beruht auf einer Strategie der kriegerischen politischen Konfrontation. Er verfügt nicht nur über eine starke, basisdemokratische und informell vernetzte Massenbewegung. Auch die Propagandamaschine des Bolsonarismo ist hochprofessionell, gut organisiert und spielt eine zentrale Rolle darin, die Regierungspolitik erfolgreich zu überdecken, insbesondere die neoliberalen Reformen, Privatisierungen oder Steuerbefreiungen für Großunternehmen.

Eine gänzlich andere Rhetorik prägte und prägt die deutsche Linke. Für uns, die wir in Jugend-Austauschen die Jugend der Welt kennengelernt hatten, schreibt Ulrike Simon, wurde diese am besten in John Lennons Hymne ‚Imagine‘ ausgedrückt: Keine Nationen, keine Religion, keine Grenzen, keine Besitztümer – the world as one, give peace a chance.

Aber John Lennons Vorstellung, verbunden mit dem Anspruch, seinen persönlichen Lebensstil frei zu wählen und an allen uns betreffenden Entscheidungen demokratisch partizipieren zu können, dass alle Menschen auf der Welt ein Recht auf Emanzipation aus Ungleichheit aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe oder sexueller Orientierung haben, war die Grundlage des Selbstbildes, mit dem – so Simon – viele den Marsch durch die Institutionen angetreten haben. Man glaubte, ein progressives und universell gültiges linkes Konzept gefunden zu haben, dass man – moralisch und rational – auf der richtigen Seite der Geschichte stand.

Und nun kommt Sarah Wagenknecht, nimmt gnadenlos eine sogenannte Life-Style-Linke auseinander und behauptet: Diese „Linke“ habe die Seiten gewechselt, sie stehe nicht mehr auf Seiten der Benachteiligten dieser Gesellschaft, sondern drücke das Lebensgefühl einer gut situierten Akademikerschicht aus.

Doch wie sollen die Linken damit umgehen – Abwehrreflexe oder selbstkritische Reflexion? Eines zumindest ist sicher: Die Kontroverse Lennon-Wagenknecht wird uns noch eine Weile begleiten.