THEORIE DER GELDORDNUNG

Der Kommunismus ist schon da

| 06. September 2023

Ohne Macht über Arbeit und Produktion gibt es keine Macht über das Geld, sagt der Soziologe und Kommunist Bernard Friot. Das kapitalistische Monopol auf die Begriffe will er brechen.

Er will nicht weniger, als die Menschenrechtserklärung der französischen Revolution von 1789 zu vervollständigen. Wenn in Artikel 17 von dem unverletzlichen und heiligen Recht auf Privateigentum die Rede ist, dann ist für den Soziologen und Ökonom Friot damit das Privateigentum der "Bourgeoisie" an Produktionsmitteln gemeint – ein "Bereicherungseigentum", wie er es nennt. Die Ergänzung der politischen Staatsbürgerschaft durch eine gesetzlich garantierte Wirtschaftsbürgerschaft stehe noch aus. Mündigkeit und Entscheidungssouveränität in der Arbeitswelt und Produktion werde allen Volljährigen bis auf den heutigen Tag verwehrt. Die Demokratie endet an den Werktoren.

Friot, seit über 50 Jahren Mitglied der französischen kommunistischen Partei, verabscheut jede Form staatlicher Autokratie. Die utopische Vorstellung vom kommunistischen Paradies nach der revolutionären Apokalypse belustigt ihn genauso wie Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ von 1875. Marx war kein Visionär sondern Realist. Auch Friot setzt auf einen Kommunismus als lange emanzipatorische, konfliktreiche Bewegung „von unten“ – und wie viele Marxisten: grundsätzlich ohne Staat.

Genau das klingt nicht realistisch, sondern erst einmal utopisch. Doch wer sich auf Bernard Friots Argumentation einlassen möchte, muss bereit sein, jenseits kapitalistischer Logik zu denken, und sich speziell von der Kredit- und Investitionslogik lösen. Dorn im Auge sind ihm zwei Monopole der Bourgeoisie: das Geldschöpfungsmonopol und das Arbeits- bzw. Produktionsmonopol. Das Produktionsmonopol ist für ihn eine automatische Folge des Arbeitsmonopols, denn durch den Arbeitsvertrag unterwerfen die Unternehmenseigentümer „ihre“ Arbeiter (Friot gebraucht das Wort "travailleurs") ihren Produktionsbedingungen. Die Arbeiter sind für Friot die tatsächlichen Produzenten. Ihre Unterwerfung erfolgt gezwungenermaßen mangels realistischer Alternativen.

„Ohne Macht über Arbeit und Produktion keine Macht über das Geld.“ (Bernard Friot)

Das Definitionsmonopol von 'Arbeit' und 'Geld'

Das historisch längst überfällige Alleinstellungsmerkmal seiner Argumentation besteht in der Zusammenschau beider Monopole. Das eine funktioniert nicht ohne das andere, es sei denn, man träumt von einer paradiesischen geldlosen Gesellschaft. Die "wahren Marxisten" blenden das Geld(schöpfungs)monopol gerne aus. Geldlose Zeiten aber hat es nie gegeben. Geld – gleich welcher rudimentärer Form – dagegen schon immer, und zwar als Rechnungseinheit. Auch Steine oder eingeritzte Striche in Steinen konnten diese Funktion erfüllen. Die verbindende theoretische Klammer zwischen Arbeitsmenge und Geldmenge ist die Äquivalenzherstellung. Obwohl hiermit keine einfache Problematik verbunden ist, kann in einer wirtschaftenden Gesellschaft auf diese Klammer nicht verzichtet werden.

Das kommunistischen Modell Friots beruht auf dem Gemeinwohl verpflichtete und verhandelnde Menschen. Sie sind sich bewusst, dass eine gemeinwohlverträgliche Preisbildung nicht das magische Werk einer "unsichtbaren Hand" ist, das sich abstrakt-mathematisch durch angebliche Gleichgewichtmechanismen als alternativlos rechtfertigen ließe. Es ist eine Lüge, die einem "Dauerkrisenzustand" und dem willfährigen Staat Vorschub leistet.

Im Kampf der gesellschaftlichen Interessengruppen um die Hegemonie spielt das Definitionsmonopol grundsätzlich eine entscheidende Rolle. So auch in dem zwischen kapitalistischen Bewahrern und kommunistischen Überwindern der Monopolmacht. Wer das Arbeitsmonopol und das Geldmonopol besitzt, besitzt auch das Definitionsmonopol darüber, was ‚Arbeit‘ ist und was ‚Geld‘ ist oder wozu beide dienen. In der gegenwärtigen historischen Phase wirken sich diese Monopole so aus, dass der Geldschöpfer Kredit-geber und der Arbeitsschöpfer Arbeit-geber sind.

Prämissen der Argumentation Friots

Folgende kapitalistische Definitionselemente von Arbeit und Geld identifiziert Friot:

  • die Kapitalisten sind die Eigentümer der Produktionsmittel
  • was als Arbeit gilt, bestimmen die Kapitalisten und deshalb sind sie Arbeit Was als Arbeit von uns bestimmt wird, wird entlohnt und den Lohn erhalten die Arbeitnehmer
  • durch die Unterzeichnung eines Arbeitsvertrags müssen die Arbeitnehmer die von den Kapitalisten bestimmten Arbeits- und Produktionsbedingungen befolgen
  • da Arbeit „mühsam“ ist, gewähren die Kapitalisten den Arbeitnehmern Erholungszeiten zur Stärkung ihrer Arbeitskraft. Wer in der Erholungszeit (Urlaub) Geld haben möchte, muss es in der Arbeitsperiode zurückgelegt haben. Auch für die arbeitsfreie Zeit der Rente gilt, dass das dafür notwendige Geld in der Arbeitsperiode angespart wurde
  • der Lohn wird jeweils am Ende von vielen kleinen Produktionsstufen nach erbrachter Arbeitsleistung gezahlt
  • die Reduzierung der Lohnkosten ist der entscheidende Hebel zur Sicherung des unternehmerischen Mehrwerts
  • bei nicht überwindbarer Zahlungsunfähigkeit wird das Unternehmen geschlossen ohne Möglichkeit einer Gegenwehr durch die Arbeitnehmer
  • die gesamte ökonomische Wertschöpfung (BIP) wird durch die Summe der durch den „Markt“ regulierten Preise aller hergestellten Waren und Dienstleistungen quantifiziert
  • soziale und ökologische Probleme werden durch Tauschwerte, also durch Preise geregelt
  • Eine Zahl ist eine neutrale Maß- oder Recheneinheit. Geld ist eine solche Recheneinheit. Sie ist nicht verhandelbar.
  • Geld ist ein Tauschgut mit einem Warenwert und somit ein Vermögenswert
  • Geld ist als Kapital neben Boden und Arbeit ein Produktionsfaktor
  • Rohstoffe haben einen Wert "an sich"
  • Investoren verwenden Geld als Finanzierungsmittel, um aus Geld mehr Geld zu machen
  • Konsumenten wird das „Recht“ zugestanden, Geld zu verwenden, also ihren Nettogeldvermögensbesitz zu verringern
  • Geld wird von den Geldgebern in Form von erzeugtem Kreditgeld, intermediärem Kreditgeld oder Eigenkapital + gehebeltes Kreditgeld als Kapital für die Realisierung des Produktionsprozess vor Vorgeschossenes Kapital erzeugt Verschuldung und ermöglicht so Geldvermehrung.
  • der Gebrauchswert von Arbeit und erzeugtem Produkt ist grundsätzlich indifferent gegenüber der Realisierung der Rendite
  • Faktoren, die die BIP-adäquate Ermittlung der Geldmenge erschweren (Zinsgenerierung, Geldblasen durch Spekulationsgewinne), ergeben sich zwingend durch Marktmechanismen

Gänzlich anders lesen sich die kommunistischen Definitionselemente von Arbeit und Geld:

  • Arbeitende haben als tatsächliche Wertschöpfer und Produzenten einen gesetzlich anerkannten Status als Wirtschaftsbürger und sind die Nutzungseigentümer der Produktionsmittel. Diese sind „patrimoniales Vermögen“ und nicht veräußerbar
  • was als Arbeit gilt, bestimmen die Arbeitenden. Sie sind nicht auf Personen angewiesen, die ihnen Arbeit geben
  • sie sind permanent Arbeitende von der Volljährigkeit bis zum Tod, ob innerhalb oder außerhalb einer speziellen Produktionsstätte (Unternehmen)
  • es existiert eine große Gestaltungsfreiheit in der Bestimmung der Arbeitsbedingungen, da man sich keinem Arbeitsvertrag unterwirft. Arbeit muss deshalb nicht mühsam Arbeit und Erholung sind nicht streng voneinander abgegrenzt
  • es bedarf keines Ansparens von Geld für Phasen des Nichtarbeitens, da jeder von der Volljährigkeit bis zum Tod einen Lohn erhält. Dieser ist an die Qualifikation einer Person gebunden, wie das schon bei Beamten der Fall ist. Die Löhne bewegen sich je nach Qualifikationsniveau zwischen 1500 und 6000 Euro pro Monat. Die Niveaus werden durch eine Jury validiert
  • Löhne werden vor der Arbeit bezahlt. Sie sind Bedingung, um den Wertschöpfungsprozess physisch und mental in Gang zu setzen
  • der Wert der gesamten ökonomischen Produktion wird durch den Durchschnitt aller Löhne quantifiziert. Diese fallen in der Zeit für die Herstellung der verkaufbaren Waren und der nicht verkaufbaren Produkte an. Zu letzteren zählen Halbfertigfabrikate und öffentliche Verkehrsmittel, Krankenhäuser oder Schulen
  • die Produktionsströme werden durch "ökonomische Komitees", besetzt mit einem Querschnitt der Gesellschaft, gesteuert und koordiniert
  • ökologischen, anthropologischen und sozialen Anforderungen kann durch Gebrauchswerte entsprochen werden, die dem Gemeinwohl zugutekommen.
  • Eine Zahl ist eine neutrale Recheneinheit. Aber: In einer arbeitsteiligen Gesellschaft verliert sie in Verbindung mit etwas, zum Beispiel mit Geld, ihre Neutralität. Sie drückt dann eine soziale Beziehung aus – und zwar eine Schuldbeziehung in Form eines zinsbelasteten Kredits. Soziale Beziehungen sind verhandelbar
  • Rohstoffe erhalten einen Nutzwert durch Arbeit
  • Geld ist kein Rendite ermöglichendes Finanzierungsmittel
  • Beseitigung der Instrumentalisierung des Geldes durch die Geldbesitzer als Disziplinierungs- und Kommandoinstrument. Stattdessen wird Geld von den Arbeitenden selbst durch eine zentrale Kasse erzeugt und der Lohnkasse zugeführt
  • da die erzeugte Geldmenge durch die Wertschöpfung durch Arbeit bestimmt wird, sind geldmengenaufblähende Faktoren durch Spekulationsgewinne ausgeschaltet
  • innerhalb der Produktionskette – Rohstoffverarbeitung, Halbfabrikate, Endprodukte – fließt kein Geld, sondern nur Arbeitskraft. Die entsprechende ökonomische Wertschöpfung wird in die Preise der verkaufbaren Produktion eingerechnet
  • da die Gesamtsumme der Löhne der Gesamtsumme der Preise der verkaufbaren Produktion entspricht, werden auch die Arbeitenden außerhalb von Produktionsstätten (Unternehmen) mit Kaufkraft ausgestattet
  • Geld hat zwar eine Wertaufbewahrungs- aber keine Kapitalfunktion. Deshalb wird es nicht akkumuliert. Geld wird vielmehr primär zum Kauf von Produkten verteilt, was individuelle Ersparnisse – ohne Kapitalfunktion – nicht ausschließt
  • nicht verausgabtes Geld, das in Haushalten anfällt, die keine großen Ausgaben für langlebige Güter haben, kann anderen Haushalten kostenlos zur Verfügung gestellt werden, die größeren Geldbedarf für den Kauf langlebiger Güter haben. Die Zuteilung und die Einziehung von Vorschüssen fällt in den Aufgabenbereich der Lohnkasse
  • nach der Verwendung des Geldes im Kaufakt wird dieses Geld wieder der Lohnkasse zugeführt und von dieser der zentralen Kasse, wo es „vernichtet“ wird
  • Außenhandel wird in Devisen abgewickelt. Diese werden in Lohnsummen eingetauscht (Exporte) oder Lohnsummen werden in Devisen umgetauscht (Importe). Die Balance dieser Summen ist zwingend.

Der lange Weg zum kommunistischen Lohn

Friot argumentiert historisch. Der kommunistische Lohn wird über einen langen Zeitverlauf verwirklicht. Als Beispiel dient ihm die Bourgeoisie. Diese begann seit der Ausdehnung des Handels und dem Aufkommen von Banken im mittelalterlichen Italien am Niedergang der Feudalmacht – der Aristokratie und dem hohen Klerus – zu arbeiten. 1789 war das Werk vollendet: Arbeits-, Produktions- und Geldschöpfungsmonopol befanden sich in ihren Händen. 1789 war so gesehen kein Anfang, sondern Endpunkt eines mehrere Jahrhunderte langen Machtkampfes.

Die historische Entwicklung zum kommunistischen Lohn betrachtet Friot als einen Prozess zunehmender Abstrahierung des Arbeitsbegriffs. Er gündet darauf, dass Arbeit zunehmend als wertschöpfende Tätigkeit begriffen wird und bestimmter Qualifikationen bedarf. Qualifikationen fassen unterschiedliche konkrete Arbeitstätigkeiten auf abstraktem Niveau innerhalb einer Branche in einem gleichen Lohnniveau zusammen. Durch diese Abstraktion findet eine Ablösung von einer direkten Validierung der Tätigkeiten durch den "Markt" statt. Nach der Machtübernahme durch die Bourgeoisie 1789 konnte allerdings von einer Abstrahierung der Arbeit keine Rede sein

Verbreitet war der Werkvertrag. Er entspricht der konkretesten, gegenständlichsten und anwendungsbezogensten Form von Arbeit: Der "selbstständige" Unternehmer und Auftragnehmer verpflichtet sich, ein Arbeitsresultat (Werk) für seinen Auftraggeber herzustellen. Dieser Vertrag stellt für Friot die extremste Form der Ausbeutung dar. Der scheinselbstständige Auftragnehmer befindet sich in völliger Abhängigkeit vom Auftraggeber. So wie die Webstuhlbesitzer von Lyon im 19. Jahrhundert von den Seidengarnfabrikanten ihren Auftrag zur Herstellung von Seidenstoffen erhielten, so erteilt die UBER-Zentrale als Besitzer der zentralen App ihre Aufträge an die Flottenbesitzer. So wie sich die Webstuhlbesitzer hoch verschulden mussten für ihre Webstühle, so tun es auch die Flottenbesitzer für ihre Autos. Die Fahrer, die der Flottenbesitzer anheuert, halten den Vergleich mit den völlig rechtlosen Tagelöhnern, die für die Webstuhlbesitzer arbeiteten, sehr gut aus. Das Konstrukt des Generalunternehmers und des Subunternehmertums feiert bis heute und wieder verstärkt fröhliche Urständ. Das Vertragsverhältnis unterliegt nicht dem Arbeitsrecht, da es als kommerzielle Beziehung betrachtet wird.

Die erste Abstraktionsstufe des Arbeitsbegriffs musste hart erkämpft werden. Sie ist eine Folge der sich Ende des 19. Jahrhunderts formierenden Arbeiterbewegung. In Frankreich erzielte die kommunistische Gewerkschaft CGT, gegründet 1895, mit der Einführung des Arbeitsgesetzbuchs (Code du Travail) 1910 und dem Verbot des Werkvertrags einen großen Erfolg. Der zentrale Begriff der „Beschäftigung“ (emploi) stellte klar, dass sich das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und von diesen beschäftigten Arbeitnehmern nicht mehr als unternehmerische Tätigkeit maskieren ließ, sondern ein Beschäftigungsverhältnis darstellte, das im Arbeitsgesetzbuch geregelt ist. Bisherige Auftragnehmer und von diesen angeheuerte Tagelöhner wurden zusammengefasst zu Beschäftigten. Ab 1919 unterlag die obligatorische Lohnzahlung kollektivvertraglichen Vereinbarungen. Fortan ist von der "beruflichen Qualifikation" die Rede, die arbeitsvertraglich an eine konkrete Arbeitsstelle gebunden ist. Ebenso wurden Bestimmungen zur Kündigung, zum Gesundheitsschutz, zur Arbeitszeit, zu Beitragszahlungen ins Sozialversicherungssystem usw. kodifiziert.

Bedingt durch die Kriegswirren der 30er und 40er Jahre kam es jedoch erst zwischen 1955 und 1975 zu einem beeindruckenden Ausbau des Sozialversicherungssystems (sécurité sociale). Die Voraussetzungen dafür wurden im Jahre 1946 geschaffen. Auf Millionen von Beschäftigten wurde ein Arbeitsbegriff angewandt, der im Hinblick auf Arbeitsplatzsicherheit und sozialer Absicherung dem des staatlichen Beamten (fonctionnaires) ähnlich war.

Der Beamte ist nicht den Unwägbarkeiten eines Marktes ausgesetzt. Der Eid tritt an die Stelle des Arbeitsvertrags. Arbeitslosigkeit existiert für ihn nicht. Diese Sicherheiten beruhen darauf, dass seine Qualifikation über die enge Anbindung an eine konkrete Arbeitsstelle hinausgeht. Er wird als eine Person betrachtet, die mit dem politischen Recht ausgestattet ist, Träger und Besitzer einer nach  Diensträngen abgestuften Qualifikation mit lebenslanger Gültigkeit zu sein.

Verantwortlich für diese gewaltige Veränderung waren kommunistische Minister (Croizat, Thorez) in der französischen Nachkriegsregierung unter Charles de Gaulle. Beamtenähnlichen Status bekamen insgesamt viele Millionen wie Beschäftigte des öffentlichen Dienstes (service publique), mit Sonderstatut ausgestattete Angestellten und Arbeiter von Unternehmen der Eisenbahn (SNCF), Elektrizitäts- und Gasversorgung (EDF, GDF) oder der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP), Landwirte und selbständig oder in der Privatwirtschaft Arbeitende, deren Qualifikation bei einem Stellenwechsel innerhalb der Branche nicht mehr herabgestuft werden konnte.

In den 60er Jahren kam es zu massiven Lohnerhöhungen. Dabei handelte es sich – in der Terminologie Friots – um „kommunistische“ Bruttolohnerhöhungen. Sie flossen also nicht in die Geldbeutel, sondern in die Kassen von Kranken-, Renten-, Arbeitslosen-, Unfall-, Familienversicherung. Die gesetzlichen Renten orientierten sich, wie die Pensionen der Beamten, an einem hohen Referenzwert und konnten und können bis heute als fortlaufende Lohnzahlung und nicht als angesparte Leistungen aus der Beschäftigungsphase betrachtet werden.

Am anschaulichsten ließ sich der Ausbau des Sozialversicherungssystems zwischen 1955 und 1975 im Gesundheitsbereich beobachten. Durch Abschluss von Konventionen zwischen Sozialkassen und Berufsverbänden wurde die Zahlungsweise von Leistungen vereinbart. Bei alledem blieben Kredite, das heißt vorgeschossene, renditeträchtige "Finanzierungs"mittel außen vor. Die konventionierten Geldflüsse werden bis heute durch die elektronische Gesundheitskarte (carte vitale) gesteuert. Sie dienen zur Bezahlung von medizinischem Pflegepersonal in Krankenhäusern und konventionierten Ärzten und selbständigem Pflegepersonal. Eine enorme Anzahl neuer kommunaler Krankenhäuser wurde mit aus Bruttolohnerhöhungen entnommenem Geld errichtet.

Der Kommunismus ist schon da

Friot betont immer wieder, dass im heutigen französischen Lohn- und Sozialversicherungssystem der Kommunismus schon da ist (le communisme est déjà là). Damit meint er zum Beispiel das Drittel, also jene 17 Millionen der über Achtzehnjährigen, das Lohn/Gehalt aufgrund einer an die Person gebundenen Qualifikation erhält. Ebenso zielt seine Behauptung auf die jährlich 250 Milliarden von insgesamt 340 Milliarden Euro Rentenzahlungen, die ohne jeden Bezug zu Beitragszahlungen erfolgen. Sie werden von der Macron-Regierung und französischem Arbeitgeberverband schärfstens bekämpft. Mit undemokratischen Mitteln am Parlament vorbei (Art. 49.3) und durch teilweise brutale Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, wie die monatelangen Rentenstreiks deutlich machten.

Friot macht Gewerkschaften und französischen Linken den schweren Vorwurf, in ihrer Fixierung auf den Arbeitsvertrag, die Verteidigung – geschweige denn den Ausbau – dieser kommunistischen Errungenschaften sträflich zu vernachlässigen. Einer staatlichen Jobgarantie oder Forderungen nach einem universellen Grundeinkommen erteilt er eine schallende Absage. Sie belassen den Menschen in der Situation des abhängigen Bedürftigen. Dies sei unvereinbar mit einer Souveränität über die Arbeit.

Friot verlangt eine Ausweitung des Prinzips der elektronischen Karte auf die Bereiche der Ernährung, des Wohnens, der Kultur, des öffentlichen Verkehrs usw. Im Bereich der Nahrungsmittelproduktion und -distribution könnte so (in Form einer "sécurité sociale alimentaire") ein "Markt" für die unzähligen alternativen Initiativen geschaffen werden. Unbehelligt vom Agrobusiness.

Und seine Forderungen gehen noch weiter. Die Arbeitenden in diesen Bereichen müssen auch die Souveränität über die Produktion gewinnen. Die dazu notwendigen Produktionsmittel werden zum nicht veräußerbaren "patrimonialen" Eigentum erklärt. Den Arbeitenden steht lediglich ein Nutzungseigentum (propriété d'usage des moyens de production) zu.