Fiskalregeln

Schuldenbremse – gegen alle ökonomische Vernunft

| 05. September 2023

Die Skepsis gegenüber der Schuldenbremse nimmt zu. Nicht wenige fordern ihre erneute Aussetzung aufgrund notwendiger staatlicher Investitionen in krisenhaften Zeiten. Doch die Befürworter der Schuldenregel sind in der Mehrheit. Ihr Hauptargument: die Generationengerechtigkeit.

Laut Handelsblatt antwortete der frühere SPD-Finanzminister Peer Steinbrück auf die Frage, was von seiner Amtszeit im Gedächtnis bleiben werde: „Es wird die Schuldenbremse sein. Darauf bin ich stolz.“ Das klingt nach einer Erfolgsgeschichte. Tatsächlich aber war das Instrument der Schuldenbremse von Anfang an umstritten und steht jetzt wieder im Mittelpunkt einer kontroversen Debatte.

Zur Erinnerung: Die im Jahr 2009 eingeführte Schuldenbremse besagt, dass für den Bund und für die Länder die grundsätzliche Verpflichtung zu einem ausgeglichenen Haushalt unter Berücksichtigung der konjunkturellen Gegebenheiten besteht. Für den Bund gilt die Regel eines strukturell ausgeglichenen Haushalts als erfüllt, wenn das strukturelle Defizit – also die um konjunkturelle Schwankungen bereinigte Neuverschuldung – nicht mehr als 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beträgt.

Anders als die „Schwarze Null“, die ein allgemeines Verschuldungsverbot für den Staat ganz unabhängig von der jeweiligen Konjunkturlage beinhaltet, gibt die Schuldenbremse in Rezessionsperioden einen gewissen Spielraum für eine staatliche Kreditaufnahme, wobei dann die Verschuldung in der nachfolgenden Aufschwungsphase wieder getilgt werden soll. Letztendlich impliziert dies ein mittelfristiges Verschuldungsverbot über den Konjunkturzyklus hinweg.

Konträre Positionen, ungewohnte Allianzen

Nach einer dreijährigen Pause wegen der Corona-Pandemie und der Folgen des Ukraine-Krieges soll die Schuldenbremse nun wieder eingehalten werden. Doch es gibt Widerstand.

Zwar hat sich die Ampel im Koalitionsvertrag verpflichtet, an der Verschuldungsregel festzuhalten, aber diese kann bei Naturkatastrophen oder anderen außergewöhnlichen Notsituationen, „die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“, ausgesetzt werden.

Darauf berufen sich jetzt Gegner der Rückkehr zur Schuldenbremse. Etwa der Berliner Regierungschef Kai Wegner (CDU), der vorschlug, die Regel für (weitere) fünf Jahre auf Eis zu legen, um notwendige Investitionen vornehmen zu können – etwa in neue Schulen, die Wohnungsbauförderung und in Hilfen für eine bezahlbare Energieversorgung. Unterstützung erhält Wegner unter anderem von Michael Hüther, dem Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). In einem Spiegel-Interview argumentiert Hüther, dass „zusätzliche staatliche Investitionen nötig (sind), für die wir zielgenau neue Kredite aufnehmen sollten.“

Wie schon Malte Kornfeld auf MAKROSKOP feststellte, sind das ungewohnte Töne, denn in der Vergangenheit hatten sich CDU’ler und arbeitgebernahe Ökonomen praktisch immer für Sparen und gegen „Geld ausgeben auf Pump“ ausgesprochen. Die Neuausrichtung ist umso erstaunlicher, als sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erst kürzlich klar hinter die Schuldenbremse im Haushalt stellte (wie zum Beispiel die Welt berichtet). Die im Etatentwurf vorgesehene Beschränkung der Neuverschuldung sei „ein richtiger Schritt“. Und: „Wir sind bei dem Haushalt wieder auf der richtigen Umlaufbahn, und das finde ich ein gutes Zeichen.“ Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erteilte jüngst in einem Interview Forderungen nach einer Aussetzung der Schuldenbremse eine Absage. Er gehe von einem Einhalten der Schuldenbremse bis zum Ende der Legislaturperiode aus, "vorausgesetzt, es passiert nichts Unvorhergesehenes". Ein erneutes Aussetzen „geben die wirtschaftlichen Daten nicht her, und der Koalitionsvertrag tut es auch nicht.“

Dies heißt nun nicht, dass sich die Verhältnisse umgekehrt haben, also alle früheren Befürworter der Schuldenbremse zu Gegnern mutiert sind und umgekehrt. So gibt es auch in der SPD Stimmen, die sich für ein (befristetes) Aussetzen der Schul­den­brem­se aussprechen (etwa die Berliner SPD-Chefin Franziska Giffey oder der Bundestagsabgeordnete Sebastian Roloff). Auf der anderen Seite wenden sich zahlreiche CDU-Politiker gegen jede Aufweichung der Schuldenbremse (zum Beispiel CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, Unions-Geschäftsführer Thorsten Frei oder der JU-Bundesvorsitzende Johannes Winkel, hier).

Aber – wie Malte Kornfeld zu Recht anmerkt – die alten Trennlinien zwischen Konservativen, die traditionell für eine „strenge Haushaltsdisziplin“ eintreten, und der gesellschaftlichen Linken, die eine kreditfinanzierte Ausgabentätigkeit des Staates für oft notwendig und sinnvoll hält, verwischen etwas. Allein die FDP scheint sich geschlossen und ohne Wenn und Aber zur Schuldenbremse zu bekennen. Grünen-Chefin Ricarda Lang hingegen tritt zwar nicht für eine Abschaffung, aber für eine Umgehung der Schuldenbremse ein.[1]

Immerhin hebt sie sich damit deutlich von einer früheren grünen Expertenkommission um Anja Hajduk (jetzt Staatssekretärin von Wirtschaftsminister Habeck) ab, die in der Vergangenheit noch eine Verschärfung der Schuldenbremse und dauerhafte Haushaltsüberschüsse „in der Größenordnung von mindestens 1 Prozent des BIP jährlich“[2] gefordert hatte.

Generationengerechtigkeit durch die Schuldenbremse?

Die Befürworter einer kompromisslosen Beibehaltung der Schuldenbremse aus der FDP begründen ihre Position zumeist mit der „Generationengerechtigkeit“. Die FDP Bayern formuliert das folgendermaßen: „Letztlich bedeutet eine nachhaltige Haushaltspolitik auch Generationengerechtigkeit. Deshalb fordern wir die Einhaltung der Schuldenbremse – denn die Schulden von heute sind die Steuern von morgen.“

So wird es auch vom ZDF wahrgenommen: „Mit der Schuldenbremse will die FDP eine solide Haushaltspolitik gewährleisten und das Land vor übermäßiger Verschuldung schützen. Sie zahlt auch auf die Generationengerechtigkeit ein – immerhin müssen jetzt aufgenommene Schulden von den zukünftigen Steuerzahlern zurückgezahlt werden.“

Ganz ähnlich klingt es bei der CDU, beispielsweise bei Thorsten Frei: „Die Einhaltung der Schuldenbremse ist für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gesetzt.“ Denn: „Wir können nicht immer mehr Schulden zu Lasten künftiger Generationen machen.“ So auch Christian Haase, der Bundesvorsitzende der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU und CSU: „Schulden auf dem Rücken zukünftiger Generationen, um die jetzige vor unbequemen Entscheidungen zu bewahren, ist nicht verantwortungsgerecht.“ Da ist beiden die Unterstützung der (angeblich) am meisten Betroffenen, nämlich der Jüngeren, sicher: „In der sich nun verändernden Zinslage die Schuldenbremse aufzuweichen, wäre ein katastrophales Signal für die junge Generation“, erklärt Junge-Unions-Chef Johannes Winkel.

Es ist in höchstem Maße verwunderlich, dass das Argument, die Erwachsenengeneration von heute lebe mit schuldenfinanzierten Leistungen auf Kosten ihrer Kinder und Enkel, seit vielen Jahrzehnten unermüdlich vorgetragen wird, obwohl es nicht einmal einer Theorie bedarf, um diese Behauptung ad absurdum zu führen. Ein kurzer Blick in die Empirie reicht aus.

Nehmen wir die USA als Beispiel, das Land, für das die vielleicht umfassendsten und verlässlichsten langen Zeitreihen zur Verfügung stehen. Die USA verzeichneten aufgrund der erforderlichen Staatsausgaben während des Zweiten Weltkrieges immense Budgetdefizite von zum Teil deutlich über 20 Prozent des BIP, woraus nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) eine Verdreifachung der Staatsverschuldung von 38,6 Prozent des BIP im Jahr 1941 auf 116 Prozent im Jahr 1945 resultierte. In der oben dargestellten Logik hätte ein so massiver Anstieg der staatlichen Schuldenquote zu einer enormen Belastung für die „künftige Generation“ führen müssen, die auf die Kriegsgeneration folgte.

Das Gegenteil war der Fall: Weder die „Babyboomer“, die zwischen 1946 und 1964 geboren wurden, noch ihre Eltern wurden von den enormen Staatsschulden erdrückt, die sich während des Zweiten Weltkrieges angehäuft hatten und die nun (angeblich) zurückgezahlt werden mussten. Stattdessen erlebten sie zwischen 1950 und 1973 das später so bezeichnete "Goldene Zeitalter des Kapitalismus" mit hohem Wachstum, steigenden Einkommen, einer niedrigen Arbeitslosigkeit und einer geringen Inflation.

Roll-over von Staatsschulden

Möglich war dies deshalb, weil die Staatsschulden eben nicht zurückgezahlt werden und eine höhere Staatsverschuldung nicht zu höheren Steuersätzen führt, die die privaten Einkommen schmälern. Wir wurden nicht mit höheren Steuersätzen belastet, um die zur Zeit unserer Großeltern entstandenen Staatsschulden zurückzuzahlen; umgekehrt werden unsere Kinder und Enkel nicht mit höheren Steuersätzen belastet werden, um die heute entstandenen Staatsschulden zurückzuzahlen.

Staaten tilgen ihre Schulden bei Fälligkeit, indem sie auslaufende Staatsanleihen durch neue ablösen (das heißt, diejenigen Staatsanleihen, deren Laufzeit zu Ende ist, durch Neuemissionen ersetzen, wobei die Einnahmen aus den neuen Anleihen zur Rückzahlung der alten Anleihen verwendet werden). Aber sie reduzieren fast nie die Gesamthöhe ihrer ausstehenden Verbindlichkeiten, die mehr oder weniger mit dem Umfang der Volkswirtschaft wachsen. Ein solches fortwährendes Roll-over von Staatsschulden, also der Ersatz alter Anleihen durch neue, ist seit sehr langer Zeit nicht nur in den USA, sondern in allen entwickelten Ländern gang und gäbe.

Aber müssen nicht trotzdem all die angehäuften Staatsschulden irgendwann final zurückgezahlt werden, wenn auch vielleicht erst in ferner Zukunft? Hier ist wiederum ein Blick in die USA hilfreich[3]: Dort war die US-Bundesregierung seit 1776 in nahezu jedem Jahr verschuldet. Nur ein einziges Mal in der US-Geschichte, nämlich zu Beginn des Jahres 1835, wurde die Staatsschuld vollständig getilgt und für zwei Jahre ein Budgetüberschuss aufrechterhalten. Im Jahr 1837 stürzte dann die Volkswirtschaft in eine tiefe Depression, die den Haushalt ins Defizit trieb. Die US-Bundesregierung ist seither – also seit dem Jahr 1837 – ununterbrochen verschuldet, hat mithin bereits 185 Jahre lang ihre Schulden nicht zurückgezahlt, ohne dass daraus irgendwelche Probleme entstanden wären. Und man kann mit Sicherheit annehmen, dass sich daran in den nächsten 185 Jahren nichts ändern wird.

Sparwille reicht nicht

Unabhängig davon gehen Finanzminister Christian Lindner und mit ihm die Mehrheit der Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP, die nun wieder auf die Einhaltung der Schuldenbremse pochen, offenkundig von der falschen Vorstellung aus, dass das Budgetergebnis allein – oder jedenfalls primär – vom „Sparwillen“ der Regierung bestimmt wird. Tatsächlich aber ist die Budgetposition nicht diskretionär, da sie von der Wirtschaftsentwicklung und den anderen sektoralen Finanzierungssalden[4] abhängt.

Die Abhängigkeit von der Wirtschaftsentwicklung zeigt sich daran, dass die politischen Entscheidungsträger zwar einen Teil der Ausgaben festlegen, die Steuersätze bestimmen und einige Vorhersagen zu den Gesamtausgaben und Steuereinnahmen am Jahresende machen können, aber keine Kontrolle über die Haushaltsdynamik während des Jahres besitzen. Wie die private Gesamtersparnis ist auch der Haushaltssaldo (Überschuss, ausgeglichen oder Defizit) ein Residualergebnis des Wirtschaftsprozesses. Jeder Versuch der Regierung, den Saldo proaktiv zu beeinflussen, hat wenig Erfolgsaussichten.

Wenn aber der Budgetsaldo gar nicht unter der Kontrolle der politischen Entscheidungsträger steht, sondern sich vielmehr weitgehend an die Erfordernisse des Wirtschaftssystems anpasst, lässt er sich nicht einfach vorab als Ziel festlegen. Das heißt, die Verwendung willkürlicher und rigider fiskalischer Regeln (also irgendwelcher Defizitobergrenzen) ist unsinnig. Reduziert der Bund etwa in einem wirtschaftlichen Abschwung seine Ausgaben – wie es der Haushaltsentwurf von Finanzminister Lindner für 2024 vorsieht –, um die Überschreitung irgendeiner vorher festgelegten Budgetdefizit-Grenze zu vermeiden, führt dies wegen der Rückkoppelungseffekte zu einer Verschärfung und Verlängerung der Rezession. Es entsteht die Gefahr eines ökonomischen Teufelskreises von Ausgabenkürzungen des Bundes, abnehmendem Wachstum, zunehmender Arbeitslosigkeit, sinkenden Steuereinnahmen, wachsenden Sozialausgaben, damit steigenden Budgetdefiziten und neuen Kürzungsprogrammen.

Die Bedeutung der sektoralen Finanzierungssalden

Zudem müssen diejenigen, die einen ausgeglichenen Haushalt (oder eine bestimmte Defizitgrenze) anstreben, die daraus resultierenden Veränderungen in den anderen sektoralen Finanzierungssalden berücksichtigen, da eine Abhängigkeit zwischen den sektoralen Salden besteht. Wie an anderer Stelle ausführlich dargestellt, müssen sich die Finanzierungssalden der volkswirtschaftlichen Sektoren immer zu Null addieren.

Auch wenn vielleicht alle Sektoren einen Finanzierungsüberschuss anstreben, ist dies also nicht allen Sektoren gleichzeitig möglich. Üblicherweise möchte der Nicht-Bundessektor – zu dem der inländische Privatsektor (Haushalte und Unternehmen inklusive Geschäftsbanken), die Länder und Gemeinden sowie der ausländische Sektor gehören – einen Überschuss erzielen, was bedeutet, dass der Bundessektor[5] ein gleich hohes Finanzierungsdefizit aufweisen muss. Diese Annahme eines gewünschten Überschusses des Nicht-Bundessektors spiegelt das – in den Daten für viele Länder beobachtbare – Faktum wider, dass der inländische Privatsektor (und hier insbesondere der Sektor der privaten Haushalte) in der Regel eine positive Nettogeldvermögensbildung verzeichnet.[6]

Wenn der Bund einen Finanzierungssaldo anstrebt, der nicht mit dem gewünschten Finanzierungssaldo des Nicht-Bundessektors vereinbar ist, passt sich das Volkseinkommen nach oben oder unten an, indem Teilbereiche des Nicht-Bundessektors ihre Ausgabenhöhe ändern. Die automatischen Stabilisatoren bringen dabei den Haushaltssaldo in Richtung des vom Nicht-Bundessektor gewünschten Niveaus.

Mit anderen Worten: Die grundlegende Triebkraft hinter der Entwicklung und Größe des Haushaltssaldos und damit dem Wachstum der Staatsverschuldung ist der Wunsch des Nicht-Bundessektors, Nettogeldvermögen zu bilden. Defizite der Regierung fließen dem inländischen Privatsektor, den Ländern und Gemeinden sowie dem Auslandssektor als Einnahmen zu. In der Regel wollen diese Sektoren (vor allem – wie gesagt – die privaten Haushalte) einen Teil dieser zusätzlichen Einnahmen netto sparen, beispielsweise, weil dies ihnen finanzielle Unabhängigkeit und Flexibilität verschafft, zur Vorbereitung auf Notfälle (Arbeitslosigkeit, Krankheit etc.) oder als private Altersvorsorge.

Positive Effekte von Budgetdefiziten

Eine wachsende Staatsverschuldung wird oft als gefährlich angesehen, weil sie angeblich die Zinssätze in die Höhe treibt, das Wirtschaftswachstum bremst und die Inflation anheizt. Diese Einschätzung ist nicht nur unzutreffend, sondern sie unterschlägt auch die Vorteile, die Haushaltsdefizite und Staatsverschuldung für die übrige Volkswirtschaft haben.[7]

Erstens stützen Budgetdefizite die private Einkommen, indem sie der Volkswirtschaft mehr Geld zuführen, als sie ihr durch Steuern entziehen. Defizite stärken ebenso die privaten Investitionen, indem sie die erwarteten Umsätze und die Kapazitätsauslastung – die Haupttriebkräfte der Unternehmensinvestitionen – stabilisieren.

Zweitens schlagen sich Haushaltsdefizite in der Staatsverschuldung nieder. Die Schulden wachsen, wenn der Bundeshaushalt ein Defizit aufweist. Staatsanleihen aber sind risikofreie, hochliquide Finanzinstrumente[8], die ein zentrales Element des Finanzsystems darstellen. Sie verschaffen nicht nur dem Nicht-Bundessektor die Möglichkeit, sein Geldvermögen auf sichere Weise anzulegen, sondern können zum Beispiel auch von Banken und anderen Finanzinstitutionen (etwa Rentenfonds) als Sicherheiten verwandt werden.

Haushaltsdefizite führen nicht notwendig zu steigenden Zinsen und Inflation

Drittens gibt es keinen Zusammenhang zwischen dem Haushaltssaldo der Regierung und den Zinssätzen. Haushaltsdefizite erhöhen die Zinssätze nicht, Haushaltsüberschüsse senken sie nicht. Die Zinssätze werden nicht durch die Fiskalpolitik der Regierung bestimmt, sondern durch die Geldpolitik der Zentralbank, wobei die nominalen Leitzinsen das primäre geldpolitische Instrument darstellen.

Mit dem Leitzins setzt die Zentralbank das kurzfristige Zinsniveau und bestimmt den langfristigen Zins entscheidend mit. Selbst wenn die Zentralbank nicht an den Anleihemärkten interveniert, folgt unter normalen Umständen der langfristige Zins weitestgehend dem von ihr festgesetzten kurzfristigen Zins (aufgrund der Substitutionsmöglichkeiten, die zwischen kurz- und langfristigen Zinsen bestehen). Ist die Zentralbank dennoch der Ansicht, dass die langfristigen Zinsen zu hoch sind, kauft sie Staatsanleihen am Sekundärmarkt auf und senkt auf diese Weise das Zinsniveau. Das Umgekehrte gilt, wenn sie die langfristigen Zinsen für zu niedrig hält: In diesem Fall verkauft sie Staatsanleihen. Eine Regierung weist üblicherweise in Zeiten einer Rezession große Budgetdefizite auf, wenn die Steuereinnahmen einbrechen und die Sozialausgaben steigen. Während einer Rezession aber senkt auch die Zentralbank ihre Leitzinsen, um die Wirtschaft zu unterstützen, und alle anderen Zinssätze folgen.

Viertens ist die Verbindung, die häufig zwischen Budgetdefiziten und Inflation gezogen wird, nicht zutreffend. Dies zeigt exemplarisch eine mehr als 100-jährige Zeitreihe, die Eric Tymoigne für die USA zusammengetragen hat.

Quelle: Tymoigne, E: Modern Money Theory on Fiscal and Monetary Policies: Empirics, Theory and Policymaking, edi Working Paper 04, 2022, S. 7.

Hohe Haushaltsdefizite, wie die im Zweiten Weltkrieg oder während der COVID-19-Pandemie, sind nicht mit hoher Inflation verbunden. Und regelmäßige Budgetdefizite von unter 5 Prozent des BIP gehen mit sehr unterschiedlichen Preisentwicklungen einher, die von hoher Inflation bis hin zu Deflation reichen. Ein Haushaltsdefizit kann inflationär sein, aber nicht einfach, weil es ein Defizit ist. Vielmehr hängt alles davon ab, wie stark die realen Ressourcenbeschränkungen (Arbeitskräfte, Produktionskapazität, Technologie, Wissen, Rohstoffe) sind und auch davon, wie wirksam die Maßnahmen sind, die zur Eindämmung der Inflation ergriffen werden, wenn Vollbeschäftigung herrscht. Ebenso kann ein Budgetdefizit mit Inflation zusammenfallen, ohne dafür verantwortlich zu sein, wenn nämlich die Inflation andere Ursachen hat als eine überschüssige Nachfrage, die die Kapazitätsgrenzen – zumindest einiger Sektoren – überschreitet (also die Preissteigerungen zum Beispiel aus wachsenden Energiekosten, Lieferkettenproblemen oder erhöhten Gewinnspannen resultieren).

Unbegründete Ängste, aber kein Umdenken in Sicht

Die Ängste vor den Folgen hoher Budgetdefizite und einer wachsenden Staatsverschuldung sind mithin unbegründet. Statt mit einer „Schuldenbremse“ eine Defizitgrenze vorzugeben, sollte die Regierung versuchen, ihren Haushaltssaldo auf das Niveau zu bringen, das erforderlich ist, um die Nettosparwünsche des Nicht-Bundessektors zu unterstützen und gleichzeitig Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten. Wenn der Nicht-Bundessektor – wie dies üblicherweise geschieht – auch in Zeiten einer wirtschaftlichen Expansion einen Überschuss erzielen möchte, erfordert dies auch während einer Expansion ein Defizit der Regierung. Kontinuierliche Budgetdefizite stellen kein Problem dar: Sie können zeitlich unbegrenzt beibehalten werden, ohne einen Inflationsdruck auszulösen, solange das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage das Wachstum der Produktionskapazität nicht übersteigt.

Sinnvoll wäre die schnellstmögliche Abschaffung der Schuldenbremse. Doch dafür bedarf es einer Grundgesetzänderung, also einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag. Wenig deutet darauf hin, dass es in absehbarer Zeit dazu kommen könnte. Also dürfte die jetzige Diskussion in Zukunft weitergehen, begleitet von Schattenhaushalten an der Schuldenbremse vorbei. Schilda lässt grüßen: Zuerst wird ohne jede Not eine gänzlich überflüssige Schuldenbremse eingeführt, die – zumindest längerfristig – gar nicht funktionieren kann, um dann mit allen möglichen kreativen Tricks (etwa milliardenschweren Sonderfonds wie dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds, dem Klima- und Transformationsfonds, dem Sondervermögen Bundeswehr etc.) zu versuchen, diese selbst auferlegte Schuldenregel zu umgehen.

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[1] Lang plädiert für die Nutzung öffentlicher Investitionsgesellschaften, die der Bund mit Eigenkapital ausstatten solle, so dass sie dann über Kredite weiteres Kapital aufnehmen und investieren könnten. Eine solche Umgehung der Schuldenbremse per Schattenhaushalt wurde umgehend vor allem von der FDP abgelehnt.
[2] Finanzpolitische Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung: Nachhaltig aus der Schuldenkrise – für eine finanzpolitische Zeitenwende, 2014, S. 98.
[3] Vgl. Wray, R.: Godley Got It Right, in: Papadimitriou, D./Zezza, G. (eds.), Contributions to Stock-Flow Modeling – Essays in Honor of Wynne Godley, New York 2012, S. 36-62.
[4] In der Regel sind während eines bestimmten Zeitraums die Einnahmen eines volkswirtschaftlichen Sektors nicht gleich seinen Ausgaben. Wenn die Einnahmen überwiegen, liegt ein Einnahmenüberschuss (oder Finanzierungsüberschuss bzw. positiver Finanzierungssaldo) vor, der das Geldvermögen erhöht. Umgekehrt führt ein Ausgabenüberschuss (oder Finanzierungsdefizit bzw. negativer Finanzierungssaldo) zu einer Verringerung des Geldvermögens. Unter (Netto-) Geldvermögen ist hierbei die Differenz aus monetären Forderungen und monetären Verbindlichkeiten zu verstehen.
[5] Der „Bundessektor“ wird zumeist kurz als der „Bund“ bezeichnet und bildet zusammen mit den Ländern und den Gemeinden (und Gemeindeverbänden) die Gebietskörperschaften.
[6] Der Saldo des Nicht-Bundessektors wird auf komplexe Weise bestimmt (und hängt zum Teil auch von den Maßnahmen der Regierung ab), aber er lässt sich zu einem wesentlichen Teil als diskretionär ansehen. In dem Maße, in dem der Nicht-Bundessektor Entscheidungsfreiheit in Bezug auf sein Ausgabeverhalten besitzt (also einen Ermessensspielraum, ob er netto spart oder mehr ausgibt, als er einnimmt), bedeutet dies, dass die Regierung keinen Ermessensspielraum in Bezug auf ihr Budgetergebnis hat.
[7] Vgl. Tymoigne, E. (2019): Debunking the Public Debt and Deficit Rhetoric. In: Challenge, Vol. 62(5), S. 281-298.
[8] Hierzu erscheint eine Anmerkung sinnvoll: Ein souveräner Staat, der seine eigene Währung emittiert, kann stets seinen in dieser Währung denominierten Verbindlichkeiten nachkommen und deshalb nicht (unfreiwillig) pleitegehen. Etwas anders sieht es bei den einzelnen Euroländern (also auch Deutschland) aus, die mit dem Eintritt in die Eurozone ihre Währungssouveränität aufgegeben haben. Deren Finanzministerien haben damit die Fähigkeit verloren, nicht-ausfallgefährdete Schuldtitel zu emittieren. Die Euroländer sind folglich von der Bereitschaft der EZB abhängig, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen am Sekundärmarkt zu kaufen, wenn ein Insolvenzrisiko auftreten sollte. Sie sind also darauf angewiesen, dass die EZB wie eine „normale“ Zentralbank eines souveränen Staates agiert und die einzelnen Euroländer vor der Zahlungsunfähigkeit schützt. Genau dies hat die EZB zuletzt mit ihren diversen Ankaufprogrammen auch getan (wobei allerdings die Unsicherheit bleibt, ob sie auch in Zukunft immer so handeln wird).