Editorial

Schwächeanfälle

| 24. August 2021

Liebe Leserinnen und Leser,

dass Afghanistan als Friedhof der Imperien galt, noch bevor 2001 die „Operation Enduring Freedom“ begann, ist allgemein bekannt. Im Lauf der Geschichte scheiterten auf dem trockenen Boden des rauen und gebirgigen zentralasiatischen Landes immer wieder alle Invasionsversuche fremder Mächte. Bereits 334 vor Christus war Alexander der Große mit fast 40.000 Soldaten aufgebrochen, um das Ende der Welt zu finden. Im heutigen Afghanistan aber wurde der Welteroberer jäh zum Halten gebracht. Fast drei Jahre rieb sich seine Armee in den verschneiten Bergen und Wüsten auf. Der König des damals größten Imperiums verrannte sich in einen Krieg aus Terror und Gegenterror.

Gut zwei Jahrtausende später versuchte sich auch das britische Empire. Im August 1832 marschierte die britisch-indische Armee ohne große Schwierigkeiten in Kabul ein. Die Briten installierten einen Schah, der ihnen gehorchte. Doch zehn Jahre später, im Januar 1842, erlebten die Rotröcke ihr eigenes Waterloo: Die Armee der britischen Großmacht wurde inmitten von Bergen und bei eisiger Kälte von Stammeskriegern eine historische Niederlage beigebracht.

1878 dann der zweite Versuch. Und wieder erlebte das Empire eine legendäre Schmach: Knapp tausend britische und indische Soldaten wurden 1880 in der Schlacht von Maiwand eingekesselt, getötet und verwundet. Wieder war Afghanistan zum Friedhof einer Weltmacht geworden. In der Folgezeit ging der britische Einfluss stark zurück, nach einem erneuten Krieg 1919 wurde das Protektorat ein unabhängiger Staat.

Die vorletzte Episode des Lehrstücks beginnt am Heiligabend 1979. Die Sowjets marschieren in Afghanistan ein, um einen ideologischen Keil in die Front der islamischen Staaten an der Südgrenze der Sowjetunion zu treiben. Der kalte Krieg zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion wurde auf afghanischem Boden ein heißer Krieg. Der zermürbende Kampf gegen die von den USA unterstützten Taliban dauerte für die Sowjets doppelt so lange wie der Zweite Weltkrieg, kostete sie rund 85 Milliarden Dollar und offiziell 15.000 Menschenleben. Seitdem ist Afghanistan für Russland das, was der Vietnamkrieg für die USA bedeutete.

Und im August 2021? Die Bilder des hektischen Abzugs der westlichen Allianz auf dem Flughafen in Kabul, dem letzten noch von US-Streitkräften kontrollierten Flecken in einem von den Taliban binnen Tagen überrannten Land, gleichen jenen aus Saigon 1975. Von einem „Friedhof des liberalen Interventionismus“ spricht Lee Jones in dieser Ausgabe, der seinen ideologischen Höhepunkt 2001 im „War on Terror“ erreichte. Doch nach einer Kette von schwerwiegenden Fehlschlägen ist offenbar geworden: Funktionierende Staatswesen können nicht von außen aufgebaut werden. Der Demokratie-Export ist gescheitert.

Doch für die späte Erkenntnis und den ideologischen Scherbenhaufen muss der Westen und insbesondere die EU einen hohen Preis bezahlen, schreibt Eric Bonse. Schon jetzt werden Zweifel an der EU-Mission in Mali laut. Auch das „Nation Building“ in Libyen hat an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Sogar auf dem Balkan, dem zum EU-Beitritt verdammten Vorhof Europas, hat man kaum noch Vertrauen in die Politik aus Brüssel. Doch das, so Bonse, ist nicht der einzige Preis für das geopolitische Versagen. Auf Europa rollt eine Flut von Problemen zu.

Das Scheitern in Afghanistan hat uns die Götterdämmerung der westlichen Hegemonie unter der Führung der USA vor Augen geführt. Die Welt ist multipolar geworden und auch wirtschaftlich verliert insbesondere Europa an Einfluss, wie auch unsere Konjunkturberichte andeuten. Das Modell der liberalen Demokratie unter dem Leitstern der freien Marktwirtschaft – lange als das Ende der Geschichte gepriesen – verliert global an Strahlkraft. Es wird in Zukunft bestenfalls nur noch eine unter vielen Ordnungsmodellen sein. Und ob es das beste Modell aller Welten ist, steht ohnehin mehr denn je in Frage.