Deindustrialisierung und Dienstleistungskapitalismus
Deindustrialisierung ist ein normales Phänomen der modernen Wirtschaft. Der Weg zur Dienstleistungsgesellschaft wird längst beschritten – ist aber ein Irrweg, wenn er als Privatisierung von gemeinwirtschaftlichen Aufgaben daherkommt.
Eine Politik der Deindustrialisierung hat in Deutschland mit seinem relativ hohen Anteil der verarbeitenden Betriebe an der Wertschöpfung und der exportorientierten Ausrichtung der Wirtschaft ein hohes Konfliktpotenzial. Martin Höpner und Andreas Nölke sehen darin aber kein unüberwindbares Problem.
Martin Höpner spricht sich für eine „behutsame Deindustrialisierung“ aus, und weist darauf hin, dass wir diese bereits seit Jahrzehnten mit einem wachsenden Dienstleistungssektor und einer sinkenden Zahl der Erwerbstätigen in der Industrie erleben.
Andreas Nölke setzt einen anderen Akzent. Er fordert eine „Ausbalancierung statt Deindustrialisierung“, indem die Exportorientierung der deutschen Wirtschaft durch Investitionen in die Infrastruktur, den Bildungs- und den Sozialbereich abgelöst und damit zugleich die Binnennachfrage gestärkt wird.
Diese Orientierungen widersprechen sich nicht, können aber die mit dem ökologischen Umbau der Wirtschaft verbundenen politischen Probleme nicht per se lösen.
Deindustrialisierung und Entwicklung des Kapitalismus
Die Deindustrialisierung ist keine wirklich neue Entwicklung. In den 1990er und 2000er Jahren haben Jeremy Rifkin oder William Baumol den Bedeutungsverlust der Güter produzierenden Industrie analysiert. Ihre Ideen werden als Paradigmenwechsel interpretiert, sind aber nur eine modifizierte Aktivierung von in Vergessenheit geratenen Postulaten:
- Hinter der relativ sinkenden Beschäftigung in der Industrie steht der dem Kapitalismus innewohnenden Zwang zur permanenten Rationalisierung, aus dem Karl Marx in Anlehnung an David Ricardo vor 150 Jahren den tendenziellen Fall der Profitrate als ökonomische Limitierung des Kapitalismus ableitete.
- Joseph Schumpeter verwandelte vor achtzig Jahren dieses Untergangsszenario in einen Weg zum „gemäßigten“ Sozialismus.
- Vor siebzig Jahren sah Jean Fourastié die Dienstleistungsgesellschaft als eine die Probleme der Industriegesellschaft überwindendende Zukunft.
Aber die Deindustrialisierung ist keine historische Mechanik hin zu einer gemeinwirtschaftlich und ökologisch ausgerichteten Ökonomie. Vielmehr stößt diese Orientierung auf massiven wirtschaftlich und kulturell motivierten Widerstand.
Karl Marx‘ Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate
Karl Marx wollte mit seinem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate die Grenzen der kapitalistischen Akkumulation belegen. Der zentrale Begriff dieses Postulats ist die organische Zusammensetzung des Kapitals aus konstantem und variablem Kapital mit der Lohnarbeit als mehrwertschaffender Potenz. In dem Maß wie das konstante Kapital im Zuge der Produktivitätssteigerungen wachse, falle das Verhältnis des erwirtschafteten Mehrwerts zum vorgeschossenen Kapital und damit die Profitrate als treibende Kraft des Kapitalismus.
Marx sah im Fall der Profitrate einen zentralen Indikator für den transitorischen Charakter des Kapitalismus, hob aber auch den Charakter sozialwissenschaftlicher Gesetze hervor, „durch mannigfache Umstände modifiziert zu werden“. Der Fall der Profitrate habe eine „very long run nature“.
Nun sind wir laut Keynes langfristig alle tot. Schon deshalb taugt dieses Paradigma nicht für Modelle vom finalen Zusammenbruch des Kapitalismus, wie sie marxistische Ökonomen in den 1920er und 1930er Jahren entwarfen. Dieser Prognose wirken vor allem zwei Sachverhalte entgegen.
Eine durchschnittliche Profitrate kann nur auf einer nationalen Ebene begrifflich gefasst werden. Die Globalisierung des Kapitals bietet profitable Fluchtwege aus den regionalen Akkumulationsschranken. Zudem bezieht sich Marx auf die industrielle Güterproduktion. Dass sich der tertiäre Sektor, der sich zu seiner Zeit auf den noch kleinen Staatsapparat und Dienstleistungen für den Adel und das gehobene Bürgertum beschränkte, zu einem großen profitträchtigen Anlagefeld entwickeln würde, konnte er sich kaum vorstellen.
Joseph Schumpeters „gemäßigter Sozialismus“
Joseph Schumpeter wird mit dem Paradigma der schöpferischen Zerstörung[1] gerne als Kronzeuge für die ökonomische Kreativität und Überlegenheit des Kapitalismus aufgerufen. Dabei wird übersehen, dass er mit diesem Paradigma die Überwindung des Kapitalismus ankündigte. Er werde sozusagen an seinen eigenen Erfolgen zugrunde gehen.
Sein immanenter Zwang zur permanenten Innovation führe zu enormen Effizienzsteigerungen in der industriellen Produktion, die jedoch zum Untergang des klassischen Kapitalismus führten. Schumpeter bezieht sich auf Marx und tauft dessen Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate um in die Theorie der schwindenden Investitionschance.[2]
Die kapitalistischen Produktionsmethoden strebten einen Zustand der Vollkommenheit an. Daraus ergäbe sich letztlich ein mehr oder weniger stationärer Zustand, und der Kapitalismus verkümmere langsam aber sicher. „Für die Unternehmer würde nichts mehr zu tun übrigbleiben. (…) Die Profite und mit ihnen der Zinsfuß würden sich dem Nullpunkt nähern.“
Schumpeter schildert damit aber nicht den Niedergang des Kapitalismus an sich, sondern das Ende seiner von genialen Unternehmern und Erfindern geprägten Gründerepoche. Die kreativen Entrepeneurs würden nach und nach durch ein Heer von Technokraten ersetzt:
„Der technische Fortschritt wird in zunehmendem Maße zur Sache von geschulten Spezialistengruppen, die das, was man ihnen verlangt, liefern und dafür sorgen, daß es auf vorausgesagte Weise funktioniert. Die frühere Romantik des geschäftlichen Abenteuers schwindet rasch dahin, weil vieles nun genau berechnet werden kann, was in alten Zeiten durch geniale Erleuchtung erfasst werden kann.“
So werde sich „die wirtschaftliche Grundlage der industriellen Bourgeoisie letzten Endes auf Gehälter reduzieren“ und es entstehe „ein Sozialismus eines sehr gemäßigten Typs“.
Schumpeters moderater Sozialismus wird schon mit der politischen Kontrolle der Märkte realisiert. Deren Prozesse sind viel zu komplex, um ohne rechtliche und damit politische Regulierungen sachgerecht funktionieren zu können. In diesem Sinn hat sogar der Ordoliberalismus sozialistische Züge, indem er eine vom Staat regulierte Wettbewerbsordnung fordert.
Dienstleistungsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat
In den frühen 1950er Jahren beschrieb Jean Fourastié den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft als „große Hoffnung“.[3] Im primären und sekundären Sektor (Rohstoffgewinnung und -verarbeitung) gingen zunehmend Arbeitsplätze verloren, während zugleich der Bedarf an Arbeitskräften in der Organisation und Planung sowie für personenbezogene Dienste steige. So, wie die Industrie die überzähligen Landarbeiter aufgefangen habe, werde der tertiäre Sektor die durch den technischen Fortschritt im sekundären Sektor entfallenden Arbeitsplätze ersetzen. Der Angst vor einer durch die Rationalisierung in der Industrie verursachten Massenarbeitslosigkeit sei daher gegenstandlos.
Das war eine sehr optimistische Einschätzung. Aber richtig ist, dass es seit Jahrzehnten im tertiären Sektor ein großes Beschäftigungswachstum gibt. Allein im Gesundheitswesen ist zwischen 2010 und 2022 die Zahl der Beschäftigten von 4,2 auf 6,0 Millionen gewachsen, bei einer weiter steigenden Tendenz.
Mit dem Wohlfahrtsstaat ist ein neuer Typ der politischen Steuerung entstanden, der über Reparatur- und Kontrollaufgaben hinausgeht und direkte Eingriffe in das Wirtschaftssystem vornimmt. Der Soziologe Niklas Luhmann, von Hause aus Verwaltungsjurist, hat auf den expansiven Charakter dieser Entwicklung hingewiesen, sich aber auf die soziologischen Aspekte der bürokratischen Institutionen beschränkt.[4]
Die Steuerung des ordnungspolitischen Rahmens der Wirtschaft ist trotz IT mit einem wachsenden Personalbedarf verbunden, wie schon der Ausbau von Fachbehörden auf europäischer und nationaler Ebene zeigt. Die Unternehmen unterhalten Scharen von Unternehmens- und Steuerberatern, Anwälten und Interessenverbänden, um ihre Geschäfte zu flankieren. Sie sind keine „höheren Arbeiter der Bourgeoise“ (Marx) mehr, sondern notwendiges Funktionspersonal zur Gewährleistung wirtschaftlicher Abläufe.
Es ist eine Ironie des Ordoliberalismus, dass die von ihm postulierte politische Regulierung der Marktwirtschaft genau die wachsende Bürokratie hervorbringt, die er dem planwirtschaftlichen Sozialismus zuordnet. Das Marktprozesse steuernde System von Kontroll- und Verwaltungsinstitutionen ist weit personalintensiver als die hierarchischen, aber ineffektiven Strukturen einer zentralen Planwirtschaft.
Ineffizienter Dienstleistungskapitalismus
Der moderne Wohlfahrtsstaat umfasst nicht nur das Sozialbudget, sondern auch andere öffentliche Dienste, die zusammen eine Staatsquote des BIP von fünfzig Prozent ergeben. Damit werden zur Aufrechterhaltung der gesamtwirtschaftlichen Reproduktion unverzichtbare Aufgaben finanziert, die man nicht dem Markt überlassen kann, ohne schwere Verwerfungen zu provozieren. Hier liegt nicht nur ein großes Beschäftigungspotenzial, sondern auch ein wachsendes Feld für Kapitalanlagen.
Die BIP-Quote der Gesundheitsausgaben zum Beispiel ist in den vergangenen zwanzig Jahren um vierzig Prozent gestiegen, der Anteil der Jobs im Gesundheitswesen an den Erwerbstätigen um dreißig Prozent. Hier wächst der Bedarf, aber es fehlen qualifizierte Arbeitskräfte, um ihn angemessen zu decken. Dazu sind weitere personalintensive Ressourcen in der beruflichen Bildung erforderlich. Das Beschäftigungspotenzial des tertiären Sektors kann nur mit Investitionen in das Bildungswesen geweckt werden.
Das ist auch privaten Investoren klar, deren politische und publizistische Lobby ständig betont, dass die in das Sozialbudget fließenden Ressourcen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung besser aufgehoben seien. Sie stoßen in Bereiche vor, die bislang für die Kapitalverwertung weitgehend uninteressant waren und öffentlich-gemeinnützigen Trägern vorbehalten blieben. Dazu gehören neben den gesundheitlichen und sozialen Diensten die Verkehrsinfrastruktur und die Wohnungswirtschaft. Sogar das Militär und die öffentliche Sicherheit sind, vor allem in den USA, zum ertragreichen privaten Geschäftsmodell geworden.
Die Privatisierung öffentlicher Dienste bewegt sich teilweise auf Schleichpfaden, etwa über den Umbau der Sozialversicherungssysteme vom Umlageverfahren auf die Kapitaldeckung. Dieses Projekt ist mit einer großen Ressourcenverschwendung verbunden:
- Das als Ersatz für die offenkundig gescheiterte Riester-Rente entwickelte Modell einer Deutschland-Rente orientiert sich am Betriebsrentensystem der Niederlande, das aber extrem hohe Overheadkosten hat, mit denen Kapitalfonds auf Kosten der Beitragszahler viel Geld verdienen. Die dieses Vermögen verwaltenden Anlagefonds wie Blackrock oder Vanguard kassieren mit jährlich neun Milliarden Euro als Provision fast ein Drittel der Rentensumme von dreißig Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das Umlagesystem der Deutschen Rentenversicherung hat eine Verwaltungskostenanteil von 1,2 Prozent der ausgezahlten Renten.
- Das trotz Obamacare in weiten Teilen privatwirtschaftlich gesteuerte Gesundheitswesen der USA ist mit einem BIP-Anteil von über 17 Prozent nicht nur das teuerste der Welt, sondern auch im Vergleich zu den öffentlichen europäischen Systemen ineffektiv und ineffizient. Nach wie vor haben etwa acht Prozent der Bevölkerung keine ausreichende Krankenversicherung, der Verwaltungsapparat ist mehr als doppelt so kostspielig wie in den europäischen Gesundheitssystemen.
- In Deutschland zeigt ein Ausgabenvergleich die deutlichen ökonomischen Vorteile der gesetzlichen Krankenversicherung, die für die gleichen Leistungen dreißig Prozent weniger ausgibt als die private Krankenversicherung und nur halb so hohe Verwaltungskosten hat.
- Hinzu kommt, dass die privaten Pensionsfonds ihr Geld gerne in der vermeintlich sicheren Immobilienwirtschaft investieren. Die explodierenden Mieten und Baukosten in den Großstädten haben hier eine ihrer Wurzeln.
Demagogisches Potenzial
Die gut belegbaren ökonomischen Vorteile der Gemeinwirtschaft gegenüber dem Dienstleistungskapitalismus werden in der Politik und den Medien nicht einmal ansatzweise wahrgenommen. Stattdessen wird über eine wachsende Bürokratie lamentiert, die aber – siehe oben – von der Marktwirtschaft selbst hervorgebracht wird. Es wird so getan, als werde mit der Privatisierung der Weg in eine bürokratiefreie Idylle bereitet, wo eher das Gegenteil der Fall ist. Insofern geht es bei dem „befremdlichen Überleben des Neoliberalismus“ (Colin Crouch) auch und vor allem um die Auseinandersetzung mit hartnäckigen Mythen und Ideologien.
Hinzu kommt, dass sich mit der Expansion des Dienstleistungssektors zwar die Arbeitsmarktprobleme der Deindustrialisierung mittel- bis langfristig lösen lassen, aber damit ist keine automatisch verbesserte Klimabilanz verbunden. Die mit diesem Wandel verbundene Digitalisierung ist ein großer Stromfresser. Allein das gigantische Servernetz des Internets verbraucht heute zwölf Prozent des Energiebedarfs.
Mit der wachsenden Zahl von Jobs im Dienstleistungsbereich ist das demagogische Potenzial des Umbaus der Industriegesellschaft nicht aus der Welt, das von den Kräften genutzt wird, die es aus ökonomischen und ideologischen Gründen torpedieren. Der Streit um das Heizungsgesetz hat das einmal mehr gezeigt. Dagegen hilft nur eines: das mühselige Geschäft der sachlichen Aufklärung und der Zerstörung von Mythen mit Daten und Fakten.
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