Makroskop
Kreislauf, Klima, Kapital

Für mehr Offenheit – aber mit klarem Ziel!

| 09. Oktober 2025

Politiker fordern sie, Unternehmer beschwören sie – doch „Technologieoffenheit“ dient oft als Vorwand, um industriepolitische Verantwortung zu vermeiden. Der ökologische Umbau braucht klare Prioritäten, Investitionen und Mut zu neuen Ideen.

Nachhaltigkeit ist kein Schlagwort, sondern eine Systemfrage. In seiner Kolumne „Kreislauf, Klima, Kapital“ beleuchtet Lukas Poths die Schlüsselindustrien der ökologischen Transformation – von der Energiebranche über Mobilität und Landwirtschaft bis zu den Finanzmärkten.

Wir brauchen „Technologieoffenheit“! Das war die liebste Worthülse der Freidemokraten, wenn es um den ökologischen Systemwechsel der deutschen Wirtschaft geht. So gut und richtig eine vorurteilsfreie, nutzenorientierte Haltung zu neuer Technologie prinzipiell ist: Es scheint immer noch so, als pflegten verschiedene politische Lager diese Rhetorik nur, um auf Industriepolitik und öffentliche Investitionen verzichten zu können. Nach dem Credo, dass mehr Markt automatisch zu den richtigen Innovationssprüngen führe.

Dabei liegt es sehr wohl in der Verantwortung des Staates, Pfade für Forschung, Entwicklung und Vermarktung derjenigen Technologien aufzuzeigen, mit denen er gesellschaftliche Ziele erreichen kann. Ein klares Bekenntnis (das sich – wie auch sonst – vor allem finanziell ausdrückt) sorgt für die unabdingbare Investitionssicherheit. In der Rolle eines Risikokapitalgebers kann die öffentliche Hand auch neue, extrem skalierbare Tech-Start-Ups fördern. In der Grundlagenforschung sind ohnehin öffentliche Mittel gefragt.

Tatsächlich plant die Bundesregierung ambitionierte Innovationen vor allem im Deep-Tech-Bereich, also in Technologien die komplex, forschungsintensiv und nicht am einzelnen Endverbraucher ausgerichtet sind. Ein Beispiel: Die Kernfusion. Forschungsministerin Dorothee Bär will den weltweit ersten Fusionsreaktor in Deutschland ermöglichen. Forschung, Fachkräfte, Zulieferer – es soll ein Industrie-Cluster entstehen. Denn die Fusionstechnik ist für die Hightech-Agenda des Bundesministeriums für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) einer der Schlüsselsektoren.

Kernfusion kann klimaneutral und ohne nuklearen Müll riesige Energiemengen erzeugen. Dennoch bleibt eine industrielle Großserienreife von Fusionsreaktoren Zukunftsmusik. Mittelfristig muss der Übergang zu erneuerbaren Energien und elektrischen Industrieprozessen mit vorhandener Technologie weitergeführt werden, ohne dabei die Möglichkeit von Sprunginnovationen auszuschließen. Was Mut macht: Es gibt immer neue Ideen für das Energiesystem der Zukunft, die auf den ersten Blick überraschen, bei genauerer Betrachtung aber ungeahntes Potenzial entfalten.    

Verkalkt

So hat eine 2022er Studie des Journals Sustainable Development of Energy, Water and Environment Systems Kalk als günstigen Energiespeicher ausgemacht. Was auf den ersten Blick paradox erscheint, lässt sich mit Thermochemie erklären: Calciumoxid, auch als Ätzkalk bekannt, reagiert unter starker Wärmeentwicklung mit Wasser zu Löschkalk (Calciumhydroxid). Beide Stoffe werden industriell genutzt, es existieren geläufige Herstellungsverfahren.

Der besondere Nutzen dieser Reaktion ergibt sich daraus, dass sie reversibel ist. Anders gesagt: Gibt man Wasser zum Ätzkalk, entsteht Wärme und Löschkalk. Mit überschüssiger Energie aus fluktuierender Erzeugung kann später Prozesswärme bereitgestellt werden, die dem Löschkalk Wasser entzieht. Er wird wieder zum reaktiven Ätzkalk.

Beide Stoffe gehören neben Calciumcarbonat zum technischen Kalkkreislauf. Dieser Kreislauf ist als Wärmespeicher intensiv in industriell relevanter Umgebung erprobt. Der Schritt Calciumcarbonat kann übersprungen werden, um die Reaktion noch praktikabler für Haushaltswärme zu machen. Entsprechende Prototypen werden am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) bereits erprobt.

Ein günstiger, wiederverwendbarer und in großen Mengen verfügbarer Speicher also – der der Industrie bestens bekannt ist. Nicht jede Innovation muss Deep-Tech sein.

Verkürzt

Eine weitere Neuerung ist regulatorischer Art: Am deutschen Strommarkt gilt ab Oktober, dass Strompreise alle 15 Minuten an der Strombörse EPEX SPOT festgelegt werden – nicht wie bisher stündlich. Die Verkürzung des Takts war schon für Juni geplant, kam nun aber verspätet. Damit setzt der Spotmarkt eine EU-Richtlinie von 2017 um. Mehrere EU-Länder, inklusive Deutschland, hatten für diese Verzögerung eine Ausnahmegenehmigung.

Mit viertelstündlichen Preisen kann der Markt flexibler auf die fluktuierende Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen reagieren. „Ziel der Umstellung ist eine präzisere Abbildung von Erzeugungs- und Verbrauchsmustern sowie die Förderung der Integration erneuerbarer Energien“, so der Wirtschaftsprüfer PricewaterhouseCoopers. Indem Stromangebot und -nachfrage besser aufeinander eingestellt werden, sollen teure Redispatch-Maßnahmen verringert werden. Deutschland hat dieses Problem insbesondere in Nord-Süd-Richtung – wie ich an anderer Stelle erläutert habe. Genauere Preisprognosen können außerdem die Netzstabilität verbessern.

Doch es gibt auch Risiken, weil die digitale Steuerung ihrer Gebote für Unternehmen immer komplexer wird und die Anforderungen an die hauseigene IT und das Datenmanagement steigen. Für Endverbraucher macht sich die verkürzte Taktung vor allem dann bemerkbar, wenn sie dynamische Stromtarife nutzen und ihren Verbrauch flexibel steuern können – etwa beim Laden eines E-Autos. In solchen Fällen lassen sich kurzfristige Preisschwankungen gezielt ausnutzen, um besonders günstig Strom zu beziehen. Bei einer stündlichen Abrechnung hingegen verpufft dieser Effekt weitgehend.

Vernässt

Geht es nach dem Umweltministerium, soll der Klimaschutz wieder mehr in den Mittelpunkt rücken – insbesondere die für das Ökosystem wichtige Funktion von Wäldern und Mooren. Moore sind einer der wirksamsten natürlichen CO2-Speicher, weil sie hohe Mengen toter organischer Substanz im Boden versiegeln, das sonst über den Verrottungsprozess seine Kohlenstoffbestandteile auch an die Luft abgeben würde. Die zunehmende Trockenlegung hebt diese Versiegelung auf, wird aber praktiziert, um Agrarfläche zu generieren und Torf abzubauen.

Es ist ein klassischer Zielkonflikt zwischen Ökologie und Ökonomie: Sollte der Verlust von Agrarfläche in Kauf genommen werden, um Ökosysteme zu erhalten?

Im Fall der Moore könnte beides möglich sein: Schutz des Ökosystems und Nutzung landwirtschaftlicher Flächen. Das Umweltministerium schlägt vor, Moore wieder zu vernässen und betroffenen Landwirten einen finanziellen Rahmen zur Umstellung auf Paludikultur zu bieten. Diese besondere Form der Bewirtschaftung nutzt ganzjährig nasse Bedingungen, um Pflanzen wie Torfmoose oder Röhricht anzubauen, aber auch Nahrungsmittel. Selbst die Haltung von Wasserbüffeln als Alternative zur Rinderzucht ist denkbar. Die Palette möglicher Produkte reicht von Biomasse für Energie, Bau- und Dämmmaterial über Pflanzsubstrate und Verpackungen bis hin zu tierischem Protein aus Fleisch und Milch.

Der Vorschlag des Umweltministeriums mag ambitioniert klingen. Zumal ein stabiler Markt für Paludiprodukte fehlt, die Umstellung kostenintensiv ist und umfangreiche Praxisversuche sowie verlässliche Förderstrukturen benötigt. Doch das Konzept, 2007 vom Landschaftsökonomen Wendelin Wichtmann und dem Biologen Hans Joosten an der Uni Greifswald entwickelt, ist wissenschaftlich fundiert und könnte einen Weg aus dem Zielkonflikt bieten.