EU

Der Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit in Polen – 2

| 27. Oktober 2021
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Vertragsverletzungsverfahren und finanzieller Druck werden den Konflikt um die Rechtstaatlichkeit in Polen und um die legitimen Befugnisse der EU nicht lösen. Nur die Politik kann verhindern, dass die Konflikte eskalieren.

Im ersten Teil dieses Zweiteilers wurde deutlich, warum das europäische Primärrecht den Mitgliedstaaten keine Vorgaben zur Ausgestaltung ihrer Judikativen macht. Es gibt lediglich eine von allen Seiten akzeptierte politische Eingriffsmöglichkeit, das so genannte Artikel-7-Verfahren. Weil dieses Verfahren aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses aber blockiert ist, hat die Kommission gleichwohl begonnen, Polen wegen seiner Justizreformen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu verklagen.

Der EuGH ist der Kommission gefolgt. Das polnische Verfassungsgericht bestreitet die Befugnis des EuGHs, Urteile über die Rechtmäßigkeit der polnischen Justizreformen zu erlassen. In diesem Teil blicken wir eingehender auf das umstrittene Urteil des polnischen Verfassungstribunals vom 7. Oktober 2021. Vorher aber geht es um die Hoffnung, Polen über den Einbehalt von EU-Geldern zum Einlenken bewegen zu können.

Der Weg über das Portemonnaie

Das Artikel-7-Verfahren entfaltet politischen Druck, die Vertragsverletzungsverfahren üben Druck über rechtliche Vorgaben aus. Beides soll in naher Zukunft durch finanziellen Druck ergänzt werden können. Zwar haben schon jetzt auch Vertragsverletzungsverfahren eine finanzielle Komponente, können Vertragsverletzungen doch durch Zwangsgelder sanktioniert werden. Im September 2021 hat die Kommission beim EuGH die Verhängung finanzieller Sanktionen gegen Polen beantragt, wegen Nichtumsetzung einer einstweiligen Anordnung des EuGH zur Disziplinarkammer.

Die Wirkung dieses Hebels ist aber überschaubar. Am 27. Oktober 2021 hat der EuGH dem Antrag der Kommission stattgegeben und gegen Polen ein Zwangsgeld in Höhe von einer Million Euro für jeden weiteren Tag verhängt, an dem die Disziplinarkammer fortexistiert. Pro Jahr wären das 365 Millionen Euro. Das klingt viel. Im Vergleich zu den Summen, die über die Strukturfonds und den Aufbaufonds bewegt werden, ist es aber wenig. Aus dem Aufbaufonds stehen Polen – wenn die Kommission die Mittel auf Grundlage des polnischen Aufbau- und Resilienzplans freigibt, wovon ich ausgehe (vgl. unten) – rund 24 Milliarden Euro an Zuschüssen (plus Kredite) zu. Der von den Zwangsgeldern ausgehende Druck dürfte dem polnischen Finanzminister daher keine schlaflose Nächte bereiten.

Das soll sich bald ändern. Verstöße gegen Rechtsstaatsprinzipien sollen dann nämlich auch durch Einbehalt von EU-Mitteln geahndet werden können. Die Rede ist vom neuen Rechtsstaatsmechanismus, aufs Gleis gebracht durch die EU-Verordnung 2020/2092. Er ist das Ergebnis zäher Verhandlungen zwischen unterschiedlichen im Rat vertretenen Ländergruppen, der Kommission und dem Europäischen Parlament (EP), die zwischen Mai 2018 und Dezember 2019 stattfanden.

Der Mechanismus sieht vor, dass Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit auf Antrag der Kommission durch qualifizierten Mehrheitsbeschluss des Rats zum Anlass genommen werden können, Mittel aus den EU-Fonds – inklusive des Aufbaufonds – einzubehalten. Die Verordnung ist seit Januar 2021 in Kraft. Ein Bestandteil der Einigung war im Dezember 2020 aber eine Zusicherung der Kommission, den Mechanismus nicht auszulösen, bevor auf Antrag Polens und Ungarns eine Klärung der Primärrechtskonformität durch den EuGH vorliegt.

Die Prüfung durch den EuGH ist in Gang. Die zweitägigen Anhörungen fanden am 11. und 12. Oktober 2021 statt (äußerst lesenswert ist dieser auf dem Verfassungsblog erschienene Augenzeugenbericht). Das Votum des Generalanwalts ist für den 2. Dezember 2021 angekündigt, mit dem Urteil ist daher im späten ersten oder im zweiten Quartal 2022 zu rechnen.

Auslösung vor Klärung durch den EuGH?

Bis vor kurzem galt als ausgemacht, dass der Mechanismus bis dahin tatsächlich unangewendet bleibt. Das erregte den Unmut des EP, das die Kommission mit Entschließungen vom März, Juni und Juli 2021 aufgefordert hat, die Zusicherung an Polen und Ungarn zu ignorieren und den Mechanismus schon jetzt, im Kontext der Entscheidungen über die Aufbaupläne zur Vergabe der Mittel aus dem Aufbaufonds, anzuwenden. Mehr noch: Am 20. Oktober haben sich die Fraktionsvorsitzenden darauf verständigt, die Kommission wegen Untätigkeit vor dem EuGH zu verklagen. Gewiss, das ist rechtlich möglich (Art. 265 AEUV). Die politische Klugheit steht auf einem anderen Blatt. Ein Bruch der politischen Absprache würde kaum dazu beitragen, den europäischen Einwänden in Polen mehr Gehör zu verschaffen.

So oder so, die EP-Parlamentarier scheinen von dem Mechanismus zu viel zu erwarten. Denn es ist alles andere als klar, ob er auf die polnische Konstellation überhaupt passt. Auch wenn es elendig oft anders suggeriert wird: Der neue Rechtsstaatsmechanismus ist kein Artikel-7-Verfahren zum Quadrat, soll heißen: kein Verfahren, das den Artikel-7-Mechanismus aus seiner Vetoanfälligkeit herauslöst, ihn stattdessen einem Mehrheitsentscheid im Rat unterstellt und die Sanktionsmöglichkeiten zudem auf die Einbehaltung von Finanzmitteln erweitert. Es muss nämlich eine tatsächliche – nicht lediglich hypothetische – Auswirkung der beanstandeten Defizite auf den EU-Haushalt geben, um Mittel einbehalten zu können. Das steht in Artikel 5(1) der Verordnung (sehen Sie selbst).

Solche Auswirkungen sind denkbar, wenn EU-Mittel in Korruptionssümpfen zu versickern drohen, die sich mangels Rechtsstaatlichkeit nicht ahnden lassen. Andreas Nölke hat auf MAKROSKOP bereits darauf aufmerksam gemacht, dass in Polen nichts dergleichen in Sicht ist. Nach Angaben der EU-Antikorruptionsbehörde OLAF ist Polen hinsichtlich beanstandeter Verwendungen von EU-Mitteln ein absolut unauffälliges Land (vergleichen Sie im aktuellen Report insbesondere die Tabellen 5 und 6). Zahlreiche andere Länder müssten sanktioniert werden, bevor Polen an der Reihe wäre. Der Mechanismus wird im polnischen Fall also wohl nicht zuschnappen.

In der Kommission weiß man das (während die OLAF-Berichte im EP offenbar nicht gelesen werden). Laut FAZ vom 22. Oktober 2021 erwägt die Kommission nun tatsächlich, den Mechanismus entgegen der früheren Zusicherung vorzeitig auszulösen – gegen Ungarn, nicht aber gegen Polen, weil es für letzteres keine Hinweise auf Korruption gibt.

Das merkwürdige Urteil des polnischen Verfassungsgerichts

Wenden wir uns nun dem Elefanten im Raum zu, dem Urteil K 3/21 des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2021. Wir erinnern uns: Das Urteil bestreitet die Rechtmäßigkeit der gegen Polen ergangenen Rechtsstaatlichkeitsurteile des EuGH. In Deutschland stieß die Entscheidung auf Unverständnis. Es sei als verfassungsrechtliche Äußerung nicht ernst zu nehmen, es verneine den Vorrang des EU-Rechts in Gänze und sei auch aus anderen Gründen mit dem PSPP-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts nicht zu vergleichen (anstelle vieler: hier). Ausnahmslos allen inländischen Kommentatoren zufolge steht Polen bereits mit einem Bein außerhalb der EU.

Nur eines sucht man in den Kommentaren vergeblich: Den Hinweis, dass die Befugnis des EuGH, unter Umgehung des dafür eigentlich vorgesehenen, aber politisch blockierten Artikel-7-Verfahrens direkt in die Justizordnungen der Mitgliedstaaten einzugreifen, doch in der Tat unklar ist. Hier kommt es auf den Anknüpfungspunkt an. Im ersten Teil habe ich herausgestellt, dass die Funktionsfähigkeit des europäischen Rechtsverbunds wohl in der Tat verletzt wird, wenn die am Obersten Gericht angesiedelte polnische Disziplinarkammer Vorlagefragen unterer Gerichte an den EuGH sanktioniert. Eine Generalermächtigung zu Eingriffen in das Justizwesen erwächst hieraus aber doch wohl nicht.  

Am diskutabelsten erscheint mir unter den kritischen Reaktionen noch die Sicht, es handle sich bei der Entscheidung um eine im Kern politische Äußerung, weil das polnische Verfassungsgericht politisch kontrolliert sei. Diese Perspektive hat immerhin den Vorzug, dass sie einen Konflikt, der rechtlich nicht lösbar erscheint, zurück in die politische Sphäre verweist. Gleichwohl halte ich den Einwand angesichts der innereuropäischen Heterogenität der Modalitäten der Auswahl von Verfassungsrichtern für, wie man so schön sagt, nicht hilfreich: Wollen wir bei Entscheidungen der Höchstgerichte unserer Nachbarn künftig wirklich nachrechnen, wie viele der Richter von den derzeit die Regierung stellenden Parteien ausgewählt wurden, bevor wir bereit sind, die Urteile als Äußerungen im rechtlichen Code ernst zu nehmen?

Das polnische Verfassungstribunal, so wurde berichtet, habe die vorrangige Anwendung von EU-Recht in Polen nicht punktuell (in einem konkreten Konfliktfall), sondern umfassend abgelehnt. Diesen Eindruck erweckt der merkwürdige erste Teil (römisch I) des Urteils in der Tat. Denn jene Bestandteile des EUV, auf deren Grundlage die Rechtsstaatsurteile gegen Polen ergingen, werden als unvereinbar mit der polnischen Verfassung bezeichnet. Dabei handelt es sich um die Artikel 1, 4 und 19 EUV (bzw. um einzelne Absätze aus diesen). Drei Unterpunkte scheinen diese Unvereinbarkeit untermauern zu sollen. Leserinnen und Leser, die sich für die Einzelheiten interessieren, seien an dieser Stelle ermuntert, das Urteil hier einmal aufzurufen. Auch ich war nach erster Lektüre äußerst irritiert. Ich twitterte verdutzt: Was machen die da?

Was wollte uns Warschau sagen?

Meines Erachtens lässt sich das Urteil auch mit mehr Empathie lesen. Das Ergebnis hängt davon ab, wie man die drei in die Ziffer I eingefügten Unterpunkte versteht. Handelt es sich um Tatsachenbehauptungen, die die vermeintlich umfassende Ablehnung des europarechtlichen Vorrangs begründen sollen? Oder handelt es sich vielmehr um Qualifizierungen, die angeben sollen, wann die vom polnischen Höchstgericht entschiedene Unvereinbarkeit mit dem polnischen Verfassungsrecht eintritt, nämlich: wenn die europäischen Organe (1) außerhalb ihrer Befugnisse handeln, wenn sie (2) die Geltung elementarer polnischer Verfassungsprinzipien aushebeln oder (3) die Souveränität des Landes unterminieren?

Legt man die zweite Lesart an, dann erscheint die Botschaft jedenfalls nicht meilenweit weg von den Kontrollvorbehalten, die das Bundesverfassungsgericht gegenüber europäischen Rechtsakten, inklusive EuGH-Urteilen, für sich reklamiert. Karlsruhe hat in folgender Sprache argumentiert: Ja, es gibt einen Anwendungsvorrang des europäischen Rechts vor innerstaatlichem Recht. Den gibt es, anders als der EuGH uns weismachen will, aber nicht aus sich selbst heraus, sondern qua staatlicher Anordnung einer entsprechenden Rechtsanwendung. Die Grenzen der Anordnung verbleiben unter unserer – also Karlsruher – Kontrolle. Sie werden überschritten, wenn die europäischen Organe außerhalb der an sie delegierten Befugnisse („ultra vires“) handeln oder wenn Kernbestandteile der deutschen Verfassungsidentität berührt werden. Ungefähr so dürfte es wohl auch von polnischer Seite gemeint gewesen sein, in andere Terminologie verpackt: als Kontrollvorbehalt. Für die Einzelheiten bleibt die noch ausstehende Urteilsbegründung abzuwarten.

Die aus deutscher Perspektive rätselhafte Terminologie dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass das polnische Verfassungsgericht aus den Artikeln 9 und 90 der polnischen Verfassung den Auftrag ableitet, völkerrechtliche Verträge auf ihre Verfassungskonformität zu überprüfen, aber nicht – oder allenfalls abgeleitet – Urteile internationaler Gerichte. Warschau sah sich daher wohl herausgefordert, Vertragsartikel anzugeben, die es den europäischen Organen erlauben, jenseits ihrer Befugnisse (oder gegen die Verfassungsidentität Polens) zu handeln. Keine Frage, verquast bleibt die Sache trotzdem. Denn eine Ermächtigung, gegen Verträge zu verstoßen, steht in Verträgen ja naturgemäß gerade nicht.

Auch in einer anderen Hinsicht identifizierten Kommentatoren große Unterschiede zwischen den Urteilen beider Verfassungsgerichte: Warschau moniere eine unzulässige Einmischung des EuGH, also zu viel Kontrolle, während Karlsruhe eine zu schwache Kontrolle des EuGH gerügt habe. Für den PSPP-Fall stimmt das. Das BVerfG befasste sich umfänglich mit der Handhabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch den EuGH und beanstandete, dass der EuGH gegen europäische Organe – in scharfem Kontrast zum Vorgehen gegen mitgliedstaatliche Maßnahmen – lediglich weiche Missbrauchskontrollen durchführe, keine strengen Verhältnismäßigkeitstests. Falls Sie Interesse an den Details haben: In Ausführlichkeit diskutiere ich diese (meiner Ansicht nach stimmige) Beschwerde Karlsruhes hier.

Aber man mache sich nichts vor: Die Karlsruher Kontrollvorbehalte richten sich keineswegs nur auf zu schwache Prüfungen europäischer Maßnahmen. Es ist reiner Zufall, dass die erste Rechtssache, in der das BVerfG dem EuGH offensiv widersprach, so gelagert war. Es hätte genauso gut um ein nach Ansicht Karlsruhes übergriffiges Verbot eines deutschen Gesetzes im Namen der europäischen Grundfreiheiten, des Wettbewerbsrechts, des Antidiskriminierungsrechts oder der Unionsbürgerschaft gehen können. Wenn sich das Bundesverfassungsgericht beispielsweise bald mit den EuGH-Entscheidungen gegen das deutsche Kirchenarbeitsrecht befassen wird (der Fall Egenberger, C-414/16), wird der vermeintlich große Unterschied zwischen Karlsruhe und Warschau ganz schnell zusammenschmelzen. Kurz, es gibt Unterschiede zwischen den umstrittenen Urteilen beider Verfassungsgerichte – aber der Kontrast wird von deutscher Seite in zu grellen Farben gemalt.

Verständigung statt Daumenschrauben und Eskalation

Die Berechtigung der EU, den polnischen Justizreformen mit Vertragsverletzungsverfahren und dem Einbehalt von EU-Mitteln zu begegnen, steht auf dünnem Eis. Zahlreiche Beobachter ermuntern die Kommission und den EuGH gleichwohl, die Daumenschrauben fester zu drehen (etwa hier). Gewiss, das geht. Niemand kann den EuGH daran hindern, Vorgaben zu den mitgliedstaatlichen Justizordnungen proaktiv in das europäische Primärrecht hineinzulesen. Und niemand kann die EU daran hindern, sich die rechtliche Rückendeckung für den Einbehalt von Polen zustehenden EU-Mitteln gegen Wortlaut und Sinn des neuen Rechtsstaatsmechanismus beim EuGH zu beschaffen. Es geht, weil laut EuGH niemand befugt ist, dem EuGH zu widersprechen.

Das alles hat aber Kosten, zu begleichen in Legitimität. Mit den Zweifeln, dass es im Europarecht mit rechten Dingen zugeht, wachsen die Widerstände. Dass die europäischen Organe ihre eigene Rechtstaatlichkeit beim vermeintlichen Schutz von Rechtstaatlichkeit hintanzustellen drohen, scheint kaum einen Beobachter zu stören – solange es andere trifft. Glaubt eigentlich irgendwer, Deutschland würde sich europäische Eingriffe in seine umstrittenen Modalitäten der Bestellung von Bundesrichtern unter Verweis auf Art. 2 und 19 AEUV unhinterfragt gefallen lassen?

Die Aufmerksamkeit sollte nun darauf gerichtet werden, nicht noch tiefer in den Schlamassel hineinzugeraten. Verhängung von Zwangsgeldern, Verbote von deren Begleichung durch das polnische Verfassungsgericht, Einbehalt von Fondsmitteln (mit der Absehbaren Folge der Erosion der derzeit noch überwältigenden öffentlichen Zustimmung zur europäischen Integration), polnische Vetos bei den nächsten Gelegenheiten, bei denen Einstimmigkeit im Rat dringend gebraucht wird – verhalten sich beide Seiten nur engstirnig genug, könnte am Ende des beschrittenen Weges tatsächlich ein Abschied Polens aus der EU stehen. Den Brexit hielt schließlich auch niemand für möglich, bis er dann kam. Der Keil, den das zudem zwischen Polen und Deutschland treiben würde, käme angesichts der deutsch-polnischen Geschichte einer Katastrophe gleich.

Für einige Beobachter lässt sich der Konflikt offenbar gar nicht genug eskalieren. Auf dem Verfassungsblog riet beispielsweise der Europarechtler Herwig Hoffmann der EU, das polnische Urteil K 3/21 als Austrittsschreiben zu handhaben und eine Rücknahme des Austrittsgesuchs erst zu akzeptieren, wenn Polen die Auflagen des EuGH erfüllt hat. Solches Spiel mit dem Feuer ist verantwortungslos.

Ebenso unverantwortlich ist leider die Geschichtsvergessenheit, mit der deutsche Politiker derzeit über unsere polnischen Nachbarn sprechen. Erinnert sei nur an die Ansage Katarina Barleys (SPD), man werde Polen und Ungarn finanziell „aushungern“, oder an die Feststellung von Heiko Maas (selbe Partei), man habe mit dem neuen Rechtsstaatsmechanismus nun ein Instrument, das für Polen und Ungarn „sehr schmerzhaft“ sei. Niemand in der deutschen Sozialdemokratie widerspricht. Man kann nur hoffen, dass unsere Nachbarn wissen, dass Barley und Maas nicht für die deutsche Bevölkerung sprechen. Was ist nur aus der Partei Willy Brandts geworden?

Eine Besinnung ist dringend notwendig. Das Medium „Recht“ ist im europäischen Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit in Polen am Ende der Fahnenstange. Die Höchstgerichte beider Seiten haben gesagt, was sie zu sagen hatten. Kanzlerin Merkel ist vollumfänglich zuzustimmen: Eine weitere Kaskade an Gerichtsurteilen trägt zur Problemlösung nichts bei (FAZ vom 22.10.2021, S. 2). Nur ein vertrauensvoller politischer Dialog kann die festgefahrene Situation bereinigen.

Eine Garantie für Erfolg gibt es dabei nicht. Die mehrmalige Ankündigung von polnischer Seite, die Disziplinarkammer werde ihre Arbeit einstellen (was freilich bisher nicht erfolgt ist), zeugt zumindest von einer gewissen Beweglichkeit. Wir wollen hoffen, dass die künftige Bundesregierung ihre Verantwortung für die deutsch-polnische Freundschaft erkennt.

Im Hintergrund steht aber ein noch größeres Problem, das die Politik nicht länger ignorieren kann: die gewachsene Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Vorstellungen über Sinn, Ziel und Grenzen – die Finalität – der europäischen Integration. Das beinhaltet auch die Grenzen der stillschweigenden Akzeptanz von competence drift, also der schleichenden Usurpation mitgliedstaatlicher Befugnisse durch die europäischen Organe.