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Utopien der Entgrenzung

| 04. Dezember 2020
istock.com/SingerGM

Liebe Abonnentinnen und Abonnenten,

die Globalisierung hat an Glanz verloren. Die große Erzählung, dass die ganze Welt von ihr profitieren und freier Handel innerhalb eines gemeinsamen Weltmarkts allen zu Wohlstand verhelfen werde, wird angesichts zahlloser Krisen, Verwerfungen und Verlierer Lügen gestraft. Freiheit scheint doch nicht grenzenlos zu sein. Ideologisch wie politisch ist die Zeit des Washington Consensus unter der Schirmherrschaft des Westens und Organisationen wie der Weltbank, der WTO und des IWF abgelaufen. Die gute alte liberale internationale Ordnung und deren Regeln werden von aufstrebenden Wirtschaftsmächten zunehmend in Frage gestellt.

Doch welche Ordnung der Welt folgt ihr nach? Noch wollen nicht wenige Protagonisten an der alten Welt festhalten. In der Hoffnung, dass die guten alten Tage der Hyperglobalisierung zurückkehren und der Populismus im Dunkeln verschwindet, schwelgen europäische Politiker nach wie vor in glücklichen »Narrativen« von einer regelgebundenen multilateralen Weltpolitik (Global Governance). Der Geist des Kosmopolitismus ist im liberalen Establishment und erlauchten Kreisen der Gesellschaft nach wie vor quicklebendig.

Der ehemalige Chefökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank Branko Milanovic etwa glaubt nach wie vor, dass es die Globalisierung war, die für eine breitere Verteilung des Wohlstands gesorgt und die »Entstehung einer globalen Mittelklasse« ermöglicht hätte. Den empirischen Beleg dazu liefert sein sogenannter »Elefanten-Chart«. Der Graph soll zeigen, dass so gut wie alle Menschen, mit Ausnahme derer, die sich um das Jahr 1980 herum um das 80-zigste Perzentil in der Einkommensskala bewegten, von 1988-2008 hohe Einkommenszuwächse hatten. Zeigt diese »neue Bourgeoisie von 2,5 Milliarden Menschen« (Economist) nicht doch den Erfolg der Globalisierung?

Das Problem: ein solcher Erklärungsansatz verschleiere die absoluten Zahlen, um die es eigentlich geht, entgegnet Patrick Kaczmarczyk. Denn die Arbeit mit relativen Zahlen zeige nicht, welche enormen Ungleichheiten entstanden sind. Zur globalen Mittelklasse wird jeder gerechnet, der mit mehr als 10 Dollar Kaufkraftparität pro Tag auskommt. Arbeiter bei Foxconn, die mit 3 Dollar pro Stunde bezahlt werden und zahlreich vom Dach ihres Arbeitgebers in den Tod springen, sind demnach die Gewinner der Globalisierung und Träger der globalen Bourgeoisie.

Um solche »negativen Begleiterscheinungen« abzuschwächen, sollten nach Milanovic »Internationalismus und Kosmopolitismus mit einer starken Umverteilung im Lande kombiniert [werden]«. Gleichwohl hält er Protektionismus jeglicher Art für einen reaktionären Schritt in »eine vergangene Welt, die mit moderner Lebensweise und moderner Wirtschaft völlig unvereinbar ist«, wie Sebastian Müller weiß. Er sieht in der Konzeption Milanovics einen einzigen Widerspruch. Wie sollen Staaten die Verwerfungen der Globalisierung abschwächen, wenn sie dafür ihrer Instrumente beraubt werden?

In der Tat sieht die Realität anders aus. Versuche, den neoliberalen Geist wieder in die Flasche zurückzuholen, nehmen zu. Im Schlamassel der Krisen ist der Staat »the only game in town«. Von Banken bis zur Lufthansa werden Unternehmen gerettet. Die Verschuldung der öffentlichen Hand, bisher als Teufelszeug stigmatisiert, explodiert.

Der Problemdruck ist also so hoch und der Bankrott der neoliberalen Rezepte zu offensichtlich, schreibt Peter Wahl, als dass man einfach wieder zum alten Zustand zurückkehren könnte. Allerdings folgt daraus noch nicht, dass sich automatisch eine progressive, sozial-ökologische Alternative durchsetzen würde. Vielmehr werden unilateral Sanktionen verhängt und Handelskriege angezettelt, die einer ganz anderen, nämlich machtpolitischen Logik entspringen. Wahl sieht eine selektive De-Globalisierung am Firmament, mit Fragmentierungen und politischen Spaltungslinien ‒ und einer ungewissen Zukunft für uns alle.

In den Unterricht der Schulen hat die De-Globalisierung und der Widerspruch der Freihandelsdoktrin jedenfalls noch nicht Einzug erhalten. Im Gegenteil, die Geschichte Ricardos als Geistiger Urvater der längst widerlegten Freihandelstheorie wird Schülern und Schülerinnen in »PoWi« auch heute noch als unumstößliche Wahrheit präsentiert. Die Lehrer müssen sich die Unterrichtsstunden zum Thema »Welthandel« nicht einmal selbst erarbeiten, wie Chefredakteur Paul Steinhardts anhand des Unterrichts seines eigenen Sohnes erfahren durfte: Auf der Website Teach Economy werden den Lehrern »passend zu Ihrem Lehrplan« übersichtlich »kostenfreie Materialien für Ihren Wirtschaftsunterricht« angeboten. Ein Preis dafür sei allerdings in Form einer Manipulation der Meinung der Schüler zu bezahlen.

Eine Brücke für die tief gespaltene Gesellschaft, in der sich das liberale, globalisierungsfreundliche Milieu und von der Globalisierung tief enttäuschte Protektionisten gegenüberstehen, will Christoph Stein schlagen. Denn Demokratie müsse alle Flügel der Gesellschaft umfassen. Stein sucht einen neuen Konsens der Republik, einen Konsens, der Globalisierung und Protektionismus vereint. Doch wie soll das gehen? Sind Globalisierung und Protektionismus nicht unversöhnliche Gegensätze?

Das stimme nur dann, glaubt Stein, wenn man totalitär denkt. Betrachte man die Sache differenzierter, können beide Konzepte friedlich nebeneinander koexistieren. Nur eine Bedingung gebe es: alle Seiten müssen sich vom Neoliberalismus verabschieden.