Wahlbarometer

Zwischen Globalismus und Nationalstaat

| 27. August 2021
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Liebe +Leserinnen und +Leser,

die Frage im Titel dieses Wahlbarometers wäre bereits beantwortet, ginge es nach den im Bundestag vertretenen Parteien – mit Ausnahme der AfD. Nationalstaatliche Souveränität als Kernbedingung der Demokratie spielt in den Wahlprogrammen keine Rolle mehr, nein – sie wird negiert.

Die SPD spricht nur noch über ein „souveränes Europa“, man will „Europa stärken“ und „die EU zur modernsten Demokratie der Welt machen.“ Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands präsentiert sich ganz als Europa-Partei und positioniert sich gegen „nationalistischen Hass und populistische Hetze“. Das Programm liest sich in großen Teilen so, als wolle und könne man allein Politik auf der europäischen Ebene machen.

Nur semantisch unterscheidet sich davon der Eurozentrismus der Grünen, die „in Europas Zukunft investieren“ wollen. Man stehe „für ein vereintes Europa ohne Schlagbäume“, ist zu lesen, „denn die Freizügigkeit“ sei „eine der größten Errungenschaften des europäischen Projekts.“ Den Herausforderungen der Globalisierung will man mit einer „globalen Strukturpolitik“ begegnen, um „den Schutz und die Bereitstellung globaler Gemeingüter, eine gerechte Verteilung von Ressourcen und Wohlstand“ zu gewährleisten. Dazu wollen die Grünen „eine europäische Politik der globalen Vernetzung und Konnektivität vorantreiben“. Ausgangspunkt ihrer Politik sei „eine gestärkte, krisenfeste und handlungsfähige Europäische Union.“

Das Wahlprogramm der CDU/CSU beruft sich zwar noch auf Deutschland, das Wort „national“ kommt dort allerdings kein einziges Mal vor. Dafür ist auch das „Unions-Versprechen“ ein „modernes Europa, das weltpolitikfähig ist, um die globalen Herausforderungen gemeinsam zu meistern.“ Man ist sich in der Union sicher, „nur wenn es Europa gut geht, geht es auch Deutschland gut.“ Dagegen würden „Nationalismus und Eigeninteressen“ nur „gemeinsame europäische Lösungen“ oder „ein Auftreten der EU mit einer Stimme“ verhindern. Die Globalisierung wird als Segen begriffen, leider nur seien „freier Welthandel mit offenen Märkten, der uns Wohlstand gebracht hat, (…) keine Selbstverständlichkeit mehr.“ Die Antwort der Union auf diese Herausforderung lautet so wie die aller anderen Parteien: „Mehr Europa!“.

Beenden wir die Aneinanderreihung von Worthülsen und Phrasen. Eine kritische Würdigung der angerissenen Parteiprogramme finden sie in unseren vergangenen Ausgaben und Spotlights. Heute nimmt unser dafür zuständige Chefredakteur Paul Steinhardt Die Linke unter die Lupe – und auch hier das gleiche Bild, allerdings mehr als bei jeder anderen Partei unter dem Vorzeichen eines idealistischen Fehlschlusses: Einerseits vertritt sie das Konzept der sozialen Demokratie, will dieses aber auf einer globalen und keinesfalls einer nationalen Ebene realisiert sehen. Da soziale Demokratie jedoch nur im Rahmen eines Nationalstaats zu haben ist, so Steinhardt, verteidigt man den Neoliberalismus in Form der EU als Fortschritt und setzt auf das Prinzip Hoffnung. Diese Hoffnung aber verhindert, dass politische Energien für Projekte freigesetzt werden, die der Sache der sozialen Demokratie wirklich dienlich sind.

Tatsächlich gibt es genügend Beispiele, die die „Lösungen“ auf europäischer oder globaler Ebene als Utopie entlarven. Das zeigt zum einen die völlig dysfunktionale europäische Währungsunion, die ohne zentralstaatliche Elemente nicht funktionieren kann, wie Jörg Bibow darlegt. Vor allem die südeuropäischen Mitgliedsstaaten leiden unter dem extremen Handelsbilanzüberschuss Deutschlands, der nicht nur Güter, sondern auch Arbeitslosigkeit und Deindustrialisierung in die Peripherie exportiert. Zum anderen entpuppt sich auch außerhalb der Währungsunion die EU immer mehr als Zwangsjacke, die weit entfernt davon ist, die „modernste Demokratie der Welt“ zu sein, sondern verstärkt Fliehkräfte freisetzt. Der Brexit, der für den Konflikt zwischen nationaler Selbstbestimmung und Eurozentrismus steht, ist dafür das beste Beispiel.

Außen vor bleibt beim fast einhelligen Europa-Jubel wider aller Realitäten aber auch, dass maßgebliche Entscheidungen, die die Zukunft der Menschen in unserem Land und in Europa betreffen, nach wie vor auf nationalstaatlicher Ebene getroffen werden. Etwa wenn es um Rente, Löhne, Vollbeschäftigungspolitik oder den Sozialstaat insgesamt geht. Damit hängt auch zusammen, welche Handelspolitik Deutschland betreibt, ob man den Binnenmarkt stärkt oder seine europäischen Nachbarn niederkonkurriert und das auch noch als globale Wettbewerbsfähigkeit verkauft.

Bei diesen Themen wird in den Programmen große Zurückhaltung gezeigt. Unsere Autoren thematisieren sie entsprechend des Titels unseres neuen Themenhefts: "Wahlprogramm sucht Partei".

Andreas Nölke greift die Globalisierung in Form der deutschen Exportweltmeisterschaft auf, die nicht nur für den Rest der Welt, sondern auch für Deutschland nachteilig ist. Er plädiert für eine Ausbalancierung der deutschen Wirtschaft und sucht nach den politischen Potentialen für eine Abkehr vom Exportismus. Er entdeckt dabei viele Gewinner: Nicht nur die weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen, die von höheren Mindestlöhnen und Sozialleistungen profitieren würden, sondern auch alle Beschäftigten in den an der Binnennachfrage orientierten Branchen.

Manfred Nitsch erinnert hinsichtlich der Vorschläge, einen staatlich verwaltenden Aktienfonds einzuführen, an einen uralten Witz von professionellen Sopos (Sozialpolitiker und -wissenschaftler): "Wer auf einen sozialpolitischen Fonds vertraut, der von Politikern verwaltet wird, glaubt auch daran, dass ein Hund einen Vorrat an Wurst anlegen und verwalten kann". Die Gesetzliche Rentenversicherung sei dagegen ein ziemlich sicherer Ort, weil sie auf die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer und deren institutionelle Macht zur Verteidigung der Rentenansprüche ihrer Rentner und Beitragszahler rechnen könne.

Wolfgang Edelmüller schließlich stellt sich die Frage, ob man "Vollbeschäftigung" als wirtschaftspolitisches Ziel aufgeben und stattdessen auf ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) setzen sollte. Oder ob man dieses Ziel mithifle einer von MMT-Proponenten empfohlenen Jobgarantie (JG) erreichen kann. Das BGE sei leider ein liberalistisches Simplifikat. Ein JG eine taugliche Alternative, wenn es das Simplifikat seiner makroökonomischen Begründung im Kontext automatischer Stabilisatoren überwinde.

Ob Gesetzliche Rente, Mindestlöhne, Binnenmarkt oder Vollbeschäftigungspolitik: Bei all diesen Fragen zeigt sich, dass man weder in die Ferne einer supranationalen Ebene schweifen, noch das Rad neu erfinden muss. Viele Instrumente, die helfen, den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, befinden sich in einem gebrauchten Baukasten, der vor unserer Nase steht.