Editorial

EUROpa, eine Chimäre

| 19. Januar 2021
istock.com/AdrianHancu

Liebe Leserinnen und Leser,

es ist nicht das erste und das letzte Mal, dass EUropa in unseren Ausgaben einen exponierten Stellenwert genießt. Eine EU in dieser fragilen Ausgestaltung wird Themen, über die zu sprechen sind, nie versiegen lassen. Erinnert sei hier an unser empfehlenswertes Themenheft »Ach, Europa!«

Doch die Zeit steht nicht still, und in unserer aktuellen Ausgabe kommt ein ausgewiesener Kenner der EU-Politik einmal mehr zu Wort. Wolfgang Streeck dürfte einen neuralgischen Punkt treffen, wenn er konstatiert, der europäische Supranationalismus sei nicht mehr als ein Schleier, hinter dem sich das eigentliche Handeln – national wie international – abspielt.

Das zeigt sich nicht nur am Brexit. Die EU, so Streeck, versuche bisher erfolgreich, nichts aus ihm zu lernen. Gegenseitiges Unverständnis zwischen den maßgeblichen Akteuren – Deutschland, Frankreich, Großbritannien – habe diesen erst möglich gemacht. Auf dem Kontinent glaubte niemand, dass die Regierung Cameron ihre Referendums-Wette verlieren könnte. Und in Deutschland kümmerte es niemanden, wie sich Merkels offene Grenzen im Sommer 2015 auf das britische Votum auswirken würden.

Gleichzeitig musste Cameron erfahren, dass das mächtige Großbritannien Merkel und Sarkozy nicht einmal die winzigen Zugeständnisse zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Binnenmarkt entlocken konnte, die er zu brauchen glaubte, um das Referendum von 2016 zu gewinnen. Die aus Sicht der Eurozentristen fatale Entwicklung nahm ihren Lauf.

Ein anderes Beispiel dafür, dass es sich beim Supranationalismus um eine Chimäre handelt: der Streit um die europäische Impfstrategie. Die verrate viel darüber, was in der EU gerade schiefläuft, schreibt Eric Bonse. Ein europäischer Weg existiert nicht. Dabei sollte Europa geschlossen auftreten und gemeinsam handeln, das schworen sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Kanzlerin Angela Merkel im Sommer letzten Jahres. Deutschland hatte den Ratsvorsitz in der EU inne und konnte den Kurs vorgeben.

Doch nach etlichen Windungen und Wendungen habe sich doch das deutsche Interesse durchgesetzt, so Bonse weiter. Nicht in einem nationalen Alleingang, wie im Frühjahr 2020, sondern in europäischer Verpackung. Was wir erleben, sei ein Zweckbündnis der 27-EU-Staaten ohne klare Regeln. Am Ende setzt sich der Stärkste durch – wie jetzt Deutschland mit der Biontech-Order. Mit dem Unionsrecht habe das Ganze nichts zu tun, vielmehr handele es sich um ein intergouvernementales Vorgehen, nicht um eine echte Gemeinschaftsinitiative. Von der Leyen und die EU-Kommission dienen nur als Einkäufer für die 27 Mitgliedsstaaten, die eifersüchtig über ihre Interessen wachen. Das sei auch der Grund, warum es bei der Impfstrategie so intransparent zugehe, glaubt Bonse.

Ein Goodbye an das »Europa der Werte« richtet Lee Jones aus. Nur wenige Tage nachdem sich Großbritannien und die EU endlich auf ihre Post-Brexit-Beziehung geeinigt hatten, kündigte Brüssel ebenfalls den Abschluss eines umfassenden Investitionsabkommens mit der Volksrepublik China an. Ursula von der Leyen feiert das Abkommen als »Meilenstein für unsere wertbasierte Handelsagenda«.

Tatsächlich sei es ein Sieg für den deutschen Exportismus und Beleg für die Vorherrschaft Deutschlands in der EU, schreibt Jones. Während die EU es Großbritannien so schwer wie nur irgend möglich gemacht hat, die Union zu verlassen, und alles in Bewegung setzte, um sie im Regulierungsorbit der EU zu halten, habe sie weitgehend vor dem immer autoritärer werdenden chinesischen Regime kapituliert. Es sei offensichtlich, dass Peking in den siebenjährigen Verhandlungen Brüssel politisch schwindelig gespielt hat, um die für den Machterhalt der Partei so wichtigen Wirtschaftssektoren sorgfältig vor Konkurrenz zu schützen. Bei praktisch all ihren Hauptzielen sei die EU kläglich gescheitert.

Und wie steht es um die europäische Geldpolitik? Der digitale Euro, der ganz oben auf der Agenda der EZB und EU-Kommission gelistet ist, war bereits die in den letzten Wochen bei MAKROSKOP Thema. Doch hat die EZB für die Einführung eines digitalen Euro überhaupt ein demokratisch legitimiertes Mandat? Werde durch den digitalen Euro die Geldschöpfung bei Banken und Sparkassen massiv eingeschränkt, lässt der Spitzenverband der deutschen Kreditwirtschaft verlauten, »würde die EZB ihr eng abgegrenztes Mandat überschreiten«.

Paul Steinhardt sieht das anders. Es sei daran zu erinnern, dass allein die EZB das Mandat hat, das gesetzliche Zahlungsmittel zu emittieren – und das mit gutem Grund: Mit der Emittierung von Privatgeld durch Banken – damals noch Banknoten – war das Finanzsystem bis ins 19. Jahrhundert äußerst fragil. Sinn und Zweck der Etablierung eines gesetzlichen Zahlungsmittels war es, die Geldschöpfung der Banken massiv einzuschränken.

Doch wir seien Zeuge eines schleichenden Verdrängungsprozesses geworden, so Steinhardt: Das Privatgeld der Banken - heutzutage in digitaler Form und »Giralgeld« genannt - regiert die Welt. Und das gesetzliche Zahlungsmittel der EZB spielt nur noch in der Schattenwirtschaft eine zentrale Rolle.