Demokratie im Standortwettbewerb
Wer eine ökologische und soziale Umgestaltung der Gesellschaft will und einen Staat, der seine wachsende Aufgaben erfüllen kann, kommt an der Infragestellung des ‚Standortwettbewerbs’ nicht vorbei.
Der Begriff des internationalen Standortwettbewerbs ist schillernd. Als Kampfbegriff in Politik und Medien wirkt er dafür umso dominanter. Regelmäßig kommt er ins Spiel, wenn es um die großen Fragen der Gesellschaft geht. Und er suggeriert, dass nicht nur Unternehmen Konkurrenten sind, sondern auch Staaten und Volkswirtschaften, die sich im Wettkampf um Wohlstand miteinander messen müssen.
Mit dem Standortwettbewerb sind Drohungen verbunden. Sie haben erreicht, dass die Unternehmenssteuern spürbar gesunken sind und die Gewerkschaften an Einfluss verloren haben. Standortwettbewerb sorgt für eine Gesetzgebung, die vor allem großen Unternehmen nützt. Wenn wir wissen wollen, warum öffentliche Aufgaben oft unterfinanziert und Löhne und Gehälter, trotz verschärfter Arbeitsbedingungen, hinter der Wirtschaftsentwicklung zurückgeblieben sind, die Alterssicherung abgemagert und die Ungleichheit gewachsen ist, treffen wir auf Begründungen, die auf der Vorstellung vom internationalen Wettbewerb beruhen. Nicht zuletzt ist so das Paradoxon zu erklären, dass Deutschland im Laufe der Jahrzehnte zwar immer reicher geworden ist, wir aber trotzdem glauben, uns als Gesellschaft vieles Sinnvolle und Nötige nicht (mehr) leisten zu können.
Staaten müssen sich dem globalen Wettbewerb stellen, so die fast einhellige Überzeugung von rechts bis links, wenn sie nicht gravierende Wohlstandsverluste riskieren wollen. Das Wettbewerbsdenken ist tief in uns verankert, nicht erst seit den massiven Standort-Deutschland-Kampagnen der 1980er und 1990er Jahre. Wenn alle miteinander konkurrieren, auch wir Einzelnen – um Lehrstellen, Studienplätze, berufliche Positionen, um Wohnungen, Hotelzimmer und Liegen am Pool – ja, warum sollte es den Staaten da anders gehen?
Aber so „naturwüchsig“ ist der Wettbewerb zwischen Volkswirtschaften nicht. Im Gegenteil: Handel ist in erster Linie kein Gegeneinander, sondern eine Form von Zusammenarbeit, und der internationale Standortwettbewerb ist auf vielen Feldern politisch inszeniert. Viele Kräfte haben über Jahrzehnte daran mitgewirkt. Die Aufhebung von Beschränkungen der Kapitalmobilität wurde bewusst auch zur Befreiung des Kapitals von politischer Bevormundung betrieben. Wirtschaftsliberale Vordenker wie Friedrich August von Hayek haben den inszenierten Standortwettbewerb als Schutz gegen die befürchtete Ausbeutung der reichen Minderheit durch eine ärmere Mehrheit in der Demokratie gefordert. Unternehmerverbände haben ihn geschürt und gezielt genutzt. Internationaler Wettbewerb wurde und wird als Damm gegen zu große Forderungen der Bürger an die Politik verstanden, teilweise sogar von Politikern der Linken.[i]
Demgegenüber hat der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman das staatliche Wettbewerbsdenken als gefährliche Obsession gebrandmarkt.[ii] Durchgedrungen ist er damit nicht. Und so umgibt das Standortdenken die Politik wie eine gläserne Wand.
Die Auseinandersetzung mit dem Wettbewerb Land gegen Land ist vielschichtig und wird im Rahmen von sozialen und ökologischen Zukunftsentwürfen gerne übergangen oder mit Hoffnungen auf weltweite Abkommen überspielt. Sich dem Problem zu stellen, kann aber zu spannenden Einsichten führen und mittelfristig auch die Grundlage für Strategien bilden. Das lässt sich nachfolgend freilich nur andeuten. Teilweise muss es bei Behauptungen bleiben, wo eine eingehendere Begründung nötig wäre. Insoweit ist auf das Buch zu verweisen, das diesem ausschnittsweisen Überblick zugrunde liegt.
Die Überlegungen zum Standortwettbewerb betreffen einerseits die Frage, ob bestimmte politische Maßnahmen – zum Beispiel mit sozialer oder ökologischer Zielrichtung – die Produkte eines Landes nicht international zu teuer machen. Zum anderen betreffen sie den befürchteten Abzug von mobilem Kapital, das andernorts womöglich bessere Bedingungen geboten bekommt. In wissenschaftlichen Debatten wird Standortwettbewerb manchmal nur als Konkurrenz der immobilen Produktionsfaktoren (Boden und überwiegend Arbeit) um die mobilen (das mobile Kapital) verstanden. Im wirtschaftspolitischen Diskurs geht es aber stets um beides.
Wettbewerb nur auf Basis von verfälschten Wechselkursen
Zum internationalen Absatz von Waren und Dienstleistungen liefert die Wirtschaftstheorie – ausnahmsweise lagerübergreifend – eine Grundeinsicht, die zunächst einmal vor allem Staaten außerhalb des Euro-Raums betrifft, aber doch erhellend ist: Würden sich die Wechselkurse allein auf der Grundlage von Handel bilden, fände zwischen Volkswirtschaften als Ganzes ein Wettbewerb nicht statt. Es wäre sinnlos, in allgemeine Unterbietungswettbewerbe einzutreten. Das Korrektiv der Wechselkurse würde jede Dumpingstrategie alsbald konterkarieren. Erfolg haben könnten lediglich nationale Strategien, die einzelne Branchen fördern, von denen man sich eine dynamische Entwicklung der Produktivität oder eine besondere Krisensicherheit verspricht – gefördert allerdings um den Preis des Niedergangs anderer heimischer Industrien.
Sobald jedoch Kostensenkungsstrategien auf die Wirtschaft als Ganzes gerichtet werden, heben sie sich auf. Das hat etwas mit der – manchem suspekten – Logik der komparativen Vorteile zu tun, die David Ricardo 1817 formuliert hat. Sie unterliegt zwar vielfältigen Einschränkungen und wird politisch häufig fragwürdig instrumentalisiert, hat nichtsdestotrotz aber einen harten Kern.[iii] Es mag überraschen, aber Staaten mit eigener Währung können in einen allgemeinen Wettbewerb nur auf der Basis von Wechselkursen geraten, die verfälscht sind oder jedenfalls nicht durch grenzüberschreitende Geschäfte der Realwirtschaft bestimmt werden.
Ein Land, das „teurer“ ist als andere, vielleicht, weil es gerade die Steuern oder Sozialabgaben erhöht hat, ist jenseits gewisser Toleranzbereiche darauf angewiesen, dass seine Währung abwertet. Das wird sie allerdings nicht tun, wenn dem Einflüsse des Kapitalmarkts zuwiderlaufen. Trotz vielleicht in andere Richtung weisender Fundamentaldaten wertet eine Währung auf oder verharrt bei einem unter Handelsgesichtspunkten überhöhten Kurs, wenn sie permanent stark nachgefragt wird.
Dass Anleger sich in sie einkaufen, kann unterschiedliche Motive haben. Möglicherweise werden höhere Zinsen geboten als im Ausland. Oder das Land gilt politisch als besonders stabil oder als verschwiegenes Steuerschlupfloch. Allerdings ist es nicht unbedingt naheliegend, dass Investoren in ein Land drängen, das gerade die Steuerschraube anzieht. Anderes gilt nur, wenn das Land gleichzeitig internationales Kapital mit hohen Zinsen anlocken will oder muss. Ein Land, das innerhalb seiner Grenzen selbst genug Kapital bildet, hat dagegen viel bessere Möglichkeiten zu einer selbstbestimmten Politik. Insbesondere wenn Regierung und Notenbank an einem Strang ziehen, hat es gute Chancen, eine vom Kapitalmarkt getriebene Überteuerung seiner Währung zu verhindern.
Abzuwerten ist auch nicht immer anrüchig. Folgt eine Kette von Abwertungen daraus, dass ein Land in seiner Produktivität mehr und mehr zurückfällt, ist das bedenklich. Beruht eine Abwertung dagegen auf sozialpolitischen Entscheidungen, die vom Kurs anderer Länder abweichen, gilt das nicht. Wolfgang Streeck hat die Abwertung sogar als „institutionellen Ausdruck des Respekts vor den Nationen als eigen-artigen (sic) Wirtschafts- und Schicksalsgemeinschaften bezeichnet.[iv]
Währungsmanipulationen: Wie Mehltau über der Wirtschaft
Ein erhebliches Problem sind staatliche Manipulationen mit dem Ziel, die Währung billiger zu machen, als es den Handelsverhältnissen entspricht, also Währungsdumping zu betreiben. Bedauerlicherweise haben gerade in Deutschland Wechselkursmanipulationen und das Ausnützen von Wechselkursvorteilen Tradition.
Deutschland hat – insbesondere unter der Geltung fester Wechselkurse im Bretton-Woods-System – stets versucht, Aufwertungen so lange wie möglich hinauszuzögern und sich die Duldung seiner Unterbewertungspolitik gegebenenfalls durch anderweitige Zugeständnisse an seine Partner zu erkaufen. In der Währungsunion nutzt Deutschland heute die Chance, diese Tradition in veränderter Form fortzusetzen und unter dem Schirm eines Euro zu agieren, der für deutsche Verhältnisse zu billig ist. Für andere Mitglieder des Euroraums ist er dagegen so teuer, dass dieses Missverhältnis sich wie Mehltau über ihre Wirtschaft legt.
Die deutsche Strategie ist die innere Abwertung. Davon spricht man, wenn in einem Land die Löhne und Preise nicht unbedingt nominal, aber im Verhältnis zum Preisniveau anderer Länder sinken, ohne dass dies von einer Aufwertung der Währung neutralisiert wird. Wie eine klassische Abwertung verbessert auch die innere Abwertung die Chancen der heimischen Exporteure, weil sie die Waren im Ausland nun günstiger anbieten können. Sie kann damit im Inland zu mehr Beschäftigung führen. Zugleich verschlechtert sie aber volkswirtschaftlich den Ertrag der Exporte.
Die innere Abwertung, solange sie außerhalb des Währungskorsetts des Euro betrieben wird, ist spekulativ. Sie setzt darauf, die Fundamentaldaten der Volkswirtschaft ändern zu können, ohne dass der Wechselkurs alsbald reagiert. Sie nimmt dafür in Kauf, dass die früher oder später erfolgende Korrektur am Devisenmarkt womöglich mit spekulativen Übertreibungen geschieht, wodurch der Effekt gegebenenfalls in sein Gegenteil verkehrt wird. Sie muss politisch und tarifpolitisch eingeleitet werden. Denn die Kostensenkungen betreffen in der Regel Steuern, Lohnkosten und Lohnnebenkosten. Sie beschneidet die Daseinsvorsorge, die Infrastruktur, die Alterssicherung und das Gesundheitssystem mit dem Ziel, die inländischen Unternehmen zu entlasten. Eine innere Abwertung führt so zu problematischen Verteilungswirkungen. Demgegenüber wirkt eine klassische Abwertung sozial wesentlich neutraler.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die dieses Spiel teils mitspielen, teils in ihm gefangen sind, spielen mit höchst unterschiedlichem Einsatz. Die Arbeitnehmer opfern Teile ihres möglichen Einkommens in der Hoffnung, damit ihre Arbeitsplätze zu sichern. Wenn das nicht aufgeht, weil der Wechselkurs „zurückschlägt“, haben sie mehrfach verloren: beim Lohn, bei den Sozialleistungen und bei ihren Arbeitsplätzen. Die Arbeitgeberseite dagegen hat selbst bei einem Fehlschlag einiges gewonnen. Sie kann eine Reduzierung von Lohn-, Lohnnebenkosten und Steuern verbuchen. Die beste Fortsetzung besteht für sie darin, den Versuch der inneren Abwertung einfach in einer nächsten Runde zu wiederholen.
Für eine nachhaltige Politik sollte es sich verbieten, die Verhältnisse eines Landes darauf auszurichten, temporäre, vom Verlust bedrohte Wechselkursvorteile zu erlangen. Erst diese Manipulationen sind es, die die Länder in einen dem Grundprinzip des internationalen Handels fremden Wettbewerb verwickeln. Ein starkes Land mit eigener Währung wehrt sich gegen eine solche, von anderen betriebene Politik am besten, indem es sie nicht kopiert, sondern erforderlichenfalls mit einer klassischen Abwertung reagiert und gleichzeitig versucht, mit Unterstützung weiterer Länder internationalen Druck aufzubauen, der das Dumping-Land von seinem Kurs abbringt.[v] Entwickelten Staaten drohen Souveränitätseinbußen nicht durch den Handel, sondern durch die Verfälschung von Wechselkursen und durch eine manipulative Politik von Ländern, zu denen Deutschland traditionell gehört. Innerhalb des Euroraums herrscht durch die Abschaffung der nationalen Währungen freilich eine Sondersituation, auf die noch einzugehen ist.
Kapitalmobilität: Regulierung schadet nicht
Bei der Analyse der Kapitalmobilität geht es primär um das produzierende Sachkapital. Es kann nicht nur verlagert werden, indem Industrieanlagen an einer Stelle kostenträchtig abgebaut und im Ausland wiederaufgebaut werden. Das spielt nur eine geringe Rolle. Viel bedeutender ist es, wenn Investitionen an bestehenden Standorten unterlassen werden, um neue Kapazitäten andernorts zu schaffen. Mit dem Sachkapital ist das Finanzkapital jedoch kaum trennbar verwoben, weil sich mit ihm Sachkapital erwerben lässt, weil ohne Berücksichtigung des Finanzkapitals steuerliche Überlegungen ins Leere laufen und Turbulenzen auf den Kapitalmärkten Sachkapital entwerten können. Es geht deshalb um das Kapital insgesamt.
Auch hier bietet die Wirtschaftstheorie eine Einsicht, die die Bedeutung der Kapitalmobilität für das Gemeinwohl beträchtlich reduziert. Und damit auch Folgen für die Einschätzung von Standortwettbewerben hat, die aus Liberalisierungen entstanden sind. Auch der ökonomische Mainstream anerkennt, dass bei freiem Handel die allgemeine Wohlfahrt durch die Mobilität des Kapitals nicht mehr spürbar gesteigert wird. Denn Wohlfahrtsgewinne beruhen auf einer (manchmal augenfälligen, oft aber auch subtilen und nicht leicht zu erkennenden) Arbeitsteilung, die durch freien Handel schon weitgehend verwirklicht ist.
Dass bei freiem Handel eine Regulierung der Kapitalmobilität nicht schaden muss, zeigt bereits die Zeit zwischen 1950 und 1970, die Zeit des „Wirtschaftswunders“. Das jene Epoche prägende Abkommen von Bretton Woods regelte nicht nur die Verhältnisse der Währungen. Er reglementierte auch stark den internationalen Kapitalverkehr – gerade zugunsten des Freihandels, der als prioritäres Ziel gesehen wurde und vor Kapitalmarktspekulationen geschützt werden sollte. Freihandel und freier Kapitalverkehr wurden zurecht nicht als Einheit, sondern als konkurrierende Elemente angesehen. Und Konsens bestand ferner darin, dass der nationale Wohlfahrtsstaat davor geschützt werden müsse, Ressourcen zu verlieren.
Der einzelne Investor wünscht sich natürlich freien Kapitalverkehr. Er kann so international unter einer großen Zahl von Anlagemöglichkeiten wählen, im Ausland auf höhere Renditen hoffen und durch eine Streuung seines Kapitals Risiken verteilen. Die Bilanz der deutschen Kapitalexporte sollte allerdings zu denken geben. Deutschland exportiert in manchen Jahren mehr Kapital als jede andere Nation. Nur steigt das Auslandsvermögen nicht in entsprechendem Umfang. Große Summen gehen verloren durch Fehlinvestitionen, Finanzkrisen und Wechselkursänderungen. Die durchschnittliche Rendite der deutschen Auslandsinvestitionen bleibt regelmäßig hinter der Rendite heimischer Investitionen zurück.
Das Auslandsvermögen besteht zu erheblichen Teilen aus Krediten, die die Schuldner irgendwann zurückzahlen müssten, aber womöglich nicht können oder wollen. „Wie fühlt es sich für die Deutschen an, dass sie Hunderte von Milliarden bei ihren Ersparnissen verlieren?“ fragte das Wall Street Journal bereits im November 2013. Seither hat Deutschland seinen Weg forciert; es exportiert Kapital mit hohem Risiko, während zugleich im Inland zu wenig investiert wird.
Ein starker Kapitalabfluss schwächt die Position der Arbeitnehmer. Ihnen wird die Möglichkeit genommen, mit kapitalintensiven Werkzeugen ihre Produktivität zu steigern und damit die Grundlage für hohe Löhne zu schaffen. Womöglich fallen sogar Arbeitsplätze weg. Hinzu kommt: Wenn Teile der Bevölkerung durch Umwälzungen beim freien Handel Einbußen erleiden, ist es zumindest denkbar, sie aus den insgesamt erzielten Gewinnen zu entschädigen. Bei unbeschränkter Kapitalmobilität dagegen ist das nicht mehr möglich. Denn die Belastung des Kapitals mit sozialen Ausgleichsmaßnahmen würde die Tendenz zur Verlagerung verstärken.
Und es geht bei alldem nicht nur um die Arbeitnehmer, die unmittelbar betroffen sind. Denn von deren Einkommen und denen der lokalen Wirtschaft hängen die Staatsfinanzen und die Finanzen der sozialen Sicherungssysteme ab. Zusätzlich erzeugt mobiles Kapital Druck auf eine Verminderung der es betreffenden Steuersätze. Bei der Entwicklung der Unternehmensbesteuerung ist das deutlich ablesbar. Und auch verfassungsrechtlich sind gespaltene Steuersätze, die das mobile Kapital gegenüber Einkommen aus Arbeit und immobilem Kapital begünstigen, ein Problem.
Die Schlüsselstellung der Kapitalmobilität
Unbeschränkte Kapitalmobilität scheint Freiheit zu verheißen. Wirtschaftsliberale betonen, dass die Mobilität des Kapitals „den Bürgern“ eine zusätzliche und wirkungsvollere Einflussmöglichkeit auf den Staat und seine Politik eröffnet, als sie das allgemeine Wahlrecht bietet. Sie sprechen von der Exit-Option des Kapitals, die sowohl dessen Abzug ermöglicht als auch die Drohung damit. Oft geht es hier um einen unechten Exit, bei dem nicht der Bürger selbst samt seinem Vermögen das Land verlässt, sondern nur Teile seines Kapitals ins Ausland schickt und selbst zuhause bleibt. Investoren wollen in den Staaten, in denen sie sich engagieren, nicht unbedingt auch leben. Und wenn sie in mehreren Staaten investieren, ist das schlicht kaum möglich.
Politisch kann gerade diese unechte Exit-Option das Gewicht des allgemeinen Wahlrechts der Mehrheit der Bürger bedeutend reduzieren. Hier konkurrieren diejenigen, die die Exit-Option instrumentalisieren, mit der Mehrheit, die auf ihr Wahlrecht beschränkt ist. Denn über ausreichend Kapital, das zudem mobil sein muss, um Einfluss auszuüben (das Einfamilienhaus zählt also nicht) verfügt nur eine kleine Minderheit. So hat das DIW ermittelt, dass die reichsten 45 Familien in Deutschland über ebenso viel Kapital verfügen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung.[vi]
Ein wesentlicher Gehalt des Grundgesetzes, nicht zuletzt ausgedrückt im Prinzip der gleichen Wahl, ist, dass der politische Einfluss der Bürger so weit wie möglich nicht durch ihr Vermögen bestimmt sein soll. Kapitalmobilität, insbesondere in Form des unechten Exits, führt dagegen zu massiven Machtverschiebungen. Solche Verwerfungen benachteiligen die Mehrheit und führen zu Demokratieverdrossenheit.
Korrekturen sind möglich
Kapitalexporte sind beeinflussbar. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, hat sich der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2019 mit der Frage der notorischen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse beschäftigt.[vii] Als wirkungsvollste Maßnahme, um sie zu reduzieren, hat er eine erhöhte Besteuerung im Ausland erzielter Kapitalerträge im Vergleich zu inländischen identifiziert.[viii] Der Beirat hat die Maßnahme dann aber, wie alle anderen von ihm ebenfalls erwogenen, letztlich verworfen, weil er bei den Überschüssen – im Einklang mit der Bundesregierung – keinen Handlungsbedarf erkennt.
Eine Besteuerung von Kapitalexporten haben die Vereinigten Staaten über Jahre praktiziert. Die Interest Equalization Tax wurde von 1963 bis 1974 erhoben. Damit sollten der Ankauf ausländischer Wertpapiere durch Inländer und die Vergabe von Darlehen an ausländische Kreditnehmer gebremst werden, um die steigenden Kapitalabflüsse zu vermindern. Der gewünschte Erfolg stellte sich ein, auch wenn die Regelungen im Laufe der Zeit nachjustiert werden mussten. Und noch heute besteuern die USA das Kapital von Auswanderern bei der Aufgabe der Staatsbürgerschaft. US-Bürger können sich ihrer Steuerpflicht nicht dadurch entledigen, dass sie ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen. Der einzige Weg, ihre Steuerpflicht abzuschütteln, besteht in der Ausbürgerung, die irreversibel ist.
Lässt sich Kapitalmobilität also wirksam beeinflussen, ohne das Gemeinwohl zu schädigen? Kapitalbewegungen werden nicht durch Verlustangst und Panik ausgelöst, sondern durch die Hoffnung auf bessere Nettokapitalrenditen, die Anleger anderswo erwarten. Wenn man darauf Einfluss nehmen will, liegt es nahe, nicht mit den Mitteln klassischer Kapitalverkehrskontrollen[ix] – Verboten und Genehmigungen – zu arbeiten, sondern mit einer Besteuerung, die die unterschiedliche Rentabilität in- und ausländischer Kapitalanlagen pauschalierend neutralisiert.
Eine Kapitalexportsteuer kann so dem Zwang entgegenwirken, die inländischen Verhältnisse an andere Länder anzupassen. Wenn die Steuer zweckmäßig gestaltet ist, werden die Steuerpflichtigen auch administrativ nur begrenzt belastet. Im Rahmen des geltenden Steuerrechts müssen sie ohnehin bereits fast alle relevanten Vorgänge erfassen. Alle größeren Steuerpflichtigen werden dies im Rahmen ihrer Datenverarbeitung erledigen. Und selbst wer im Sekundentakt mit Währungen handelt, muss seine Geschäftsvorgänge dokumentieren und unterhält eine EDV, die das ermöglicht.
Eine Regulierung der Kapitalmobilität verursacht trotzdem begrenzte Kosten. Aber die Verteidigung des demokratischen Staats lassen wir uns auch auf anderen Feldern etwas kosten, wenn wir politische Bildung, Verfassungsschutz und Justiz finanzieren oder wenn soziale Leistungen nicht nur einzelnen Menschen zugutekommen sollen, sondern einer friedlichen Gesellschaft insgesamt. Für die Kosten, die man zur Abwehr von Machtmissbrauch in Kauf nimmt, hat sich in den Wirtschaftswissenschaften der Begriff der Verfahrenspräferenzkosten gebildet. Um solche geht es in etwas anderer Form auch hier. Dabei wird es vielleicht gar nicht nötig sein, zu jeder Zeit eine Steuer in nennenswerter Höhe zu erheben. Denn womöglich ist zu manchen Zeiten an Kapital kein Mangel. Aber worum es zentral geht, ist, der Politik das Rückgrat zu stärken und demokratische Politik zu schützen. Die Frage der regulierten oder unregulierten Kapitalmobilität ist eine Weichenstellung im Ringen um die Regeln der Gesellschaft.
EU – ein „Laboratorium der Globalisierung“
Ein gut entwickelter Staat mit eigener Währung und der Option, Kapitalbewegungen steuerlich zu beeinflussen, hat die Fähigkeit, seine inneren Angelegenheiten abweichend von anderen Ländern demokratisch zu regeln. An Kostensenkungsstrategien muss er sich nicht beteiligen.
Eine Europäische Union, die wie ein Staat agierte, hätte diese Fähigkeiten grundsätzlich auch. Die Staaten innerhalb der Europäischen Union und der Währungsunion haben diesen Spielraum freilich nicht mehr. Und die Europäische Union selbst ist nicht in der Lage, das Defizit zu füllen. Mit dem Euro ist das Korrektiv der Wechselkurse in ihrem Innern entfallen. Und im Verhältnis zur übrigen Welt ist der Euro für die Einen, wie Deutschland, als Währung zu billig, während er für Andere zu teuer ist.
Für einen so heterogenen Wirtschaftsraum wie die EU macht eine gemeinsame Währung Transferleistungen – je länger desto mehr – zugunsten der schwachen Regionen erforderlich, die die Anstrengungen Westdeutschlands nach der Wiedervereinigung wohl bei weitem übertreffen müssten. Das dürfte kaum realistisch sein. Hohe Transfers erzeugen in den gebenden Regionen Unmut und in den nehmenden ein Gefühl der Demütigung, insbesondere, wenn sie mit politischen Auflagen verbunden werden. Wachsende Spannungen sind die Folge.
Zur Währungsproblematik kommt in der EU das Verbot einer Regulierung des Kapitalverkehrs dazu. Die EU hat fast jede Regulierung nicht nur im Innern, sondern auch im Verhältnis zur übrigen Welt ausgeschlossen. Im Innern ist das nachvollziehbar. Zur übrigen Welt ist der Verzicht dagegen ein Stück fixierter Weltanschauung. Er schwächt nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern die Souveränität der Europäischen Union insgesamt. Dem dahinterstehenden wirtschaftsliberalen Konzept entsprechen die Europäischen Verträge auch im Übrigen. Denn mit konstitutionellem Rang verleihen sie der Deregulierung nationaler Normen eine hohe Eigendynamik, während sie Bestrebungen einer gemeinsamen europäischen Re-Regulierung kaum überwindliche Hindernisse entgegensetzen.
Wer einen starken sozialen Staat will, kann mit den Wirkungen des europäischen Einigungsprozesses nicht zufrieden sein. Was für die Weltwirtschaft grundsätzlich nicht zutrifft – eine weitreichende ökonomische Konkurrenz der Staaten – wurde in der Europäischen Union gezielt herbeigeführt. Der europäische Binnenmarkt wird deshalb von manchen als „Laboratorium der Globalisierung“ bezeichnet.[x]
Und nun? Für einen längerfristigen Umbau der Union ist die deutsche Haltung ein wichtiger Faktor. Aber auch, wenn sich die deutsche Position einmal verändern sollte und zu Koalitionen mit anderen Ländern führte, würde ein Umbau sehr anspruchsvoll.
Bereits in kürzerer Frist sind jedoch Maßnahmen der wirtschaftlich leistungsfähigsten Mitgliedstaaten denkbar, um die Dramatik spürbar zu entschärfen. Dafür müsste Deutschland auf die Ausnutzung des Euro als für seine Verhältnisse unterbewertete Währung verzichten und ein weiteres Anwachsen seiner Gläubigerpositionen verhindern. Seine Exporte müssten in einem behutsam betriebenen Veränderungsprozess teurer werden, während es zugleich mehr Importe in Anspruch nähme, statt Auslandsguthaben anzuhäufen.[xi]
Deutschland könnte in einer gemeinsamen Strategie der Regierung und der Tarifparteien eine großzügigere Lohnentwicklung zulassen. Gesetzliche Regelungen könnten zudem das Gewicht der Gewerkschaften stärken und auf der Arbeitgeberseite die Position von Tarifverweigerern beschneiden. Die Lohnnebenkosten sollten weniger gedeckelt werden. Eine auskömmliche gesetzliche Rente, wie etwa in Österreich, läge im Bereich des Möglichen. Steuern, die ertragsstarke Unternehmen treffen, könnten mit dem Ziel erhöht werden, mehr öffentliche Investitionen zu ermöglichen. Davon würden auch ausländische Anbieter profitieren, die in Deutschland Ausschreibungen gewinnen und so zum Rückgang der Verschuldung ihrer Länder beitragen.[xii]
Für die Mehrheit der deutschen Gesellschaft wäre das sicher attraktiver, als weiter den Weg der Austerität zu gehen und gleichzeitig steigende Transfers zu leisten.
Abschied von der inszenierten Standortkonkurrenz
Gerade wegen der Möglichkeiten des mobilen Kapitals und internationaler Konzerne, Druck auszuüben und nationalen Regelungen auszuweichen, ist von einer schleichenden Erosion staatlicher Gestaltungsmacht die Rede. Aber ein Ersatz für den Staat – insbesondere den demokratischen Sozialstaat – ist nirgends in Sicht.
Auch supranationale Organisationen brauchen als Basis funktionierende Staaten. Die öffentlichen Aufgaben wachsen weiter – schon wegen der zunehmenden Komplexität entwickelter Industriegesellschaften. Die ökologischen Herausforderungen werden dringlicher. Gravierende Änderungen der Technik und des Arbeitsmarkts sind zu bewältigen, ebenso wie demographische Veränderungen. Zugleich ist die Bevölkerung heute fragmentierter, und die gemeinsamen kulturellen Standards haben sich verringert.
Dafür braucht es Antworten, die demokratisch verhandelt werden müssen. Dementsprechend wird es weniger darauf ankommen, das letzte Prozent an Wachstum und Effizienz herauszuholen, wie es das Ziel der klassischen Wirtschaftswissenschaften ist. Im Mittelpunkt muss stehen, die Gesellschaft zu stabilisieren und ihre Lebensgrundlagen zu erhalten. Dazu braucht der Staat die Mittel und geeignete Strukturen. Es wäre eine Illusion, zu glauben, sein Rückzug würde Kräften den Weg freimachen, die seine Aufgaben besser oder kreativer lösten. Aufgegebene staatliche Macht wird von mächtigen privaten Akteuren eingesammelt und genutzt.
Alle dafür denkbaren politischen Konzepte sind mit der Frage konfrontiert, wie sie gegenüber dem vermeintlichen Primat des Standortwettbewerbs bestehen wollen. Sie sind latent dem Verdacht ausgesetzt, zum wirtschaftlichen Niedergang zu führen. Umso wichtiger ist es, zu erkennen, dass der scheinbar übermächtige Standortwettbewerb ein Konstrukt ist, hervorgegangen aus nationalen Deregulierungen, Währungsmanipulationen, europäischen Weichenstellungen und ideologischen Deutungsmustern. Er ist weder Bedingung für allgemeinen Wohlstand noch ein unentrinnbares Schicksal.
In der nach wie vor neoliberal imprägnierten Gegenwart steckt viel von ihrem vielleicht prominentesten Vordenker Friedrich August von Hayek. Lassen wir ihm das letzte Wort – nicht politisch, aber für diesen Beitrag:
„Was für Politiker eine gegebene Grenze der Machbarkeit darstellt, welche ihnen die öffentliche Meinung aufzwingt, muss für uns keine solche Grenze darstellen. Die öffentliche Meinung (...) ist das Werk von Menschen wie uns, den Ökonomen und Philosophen der letzten Generationen, die das politische Klima geschaffen haben, in dem sich die Politiker unserer Zeit bewegen müssen.“[xiii]
Wesentliche Gedanken dieses Essays sind dem neuesten Buch des Autors entnommen: Rolf Klein: Demokratien im inszenierten Standortwettbewerb – Politik für die unteren 90 Prozent, Tectum-Verlag Baden-Baden, 2021
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