EU-Mindestlohnrichtlinie – Hoffnung für Millionen Beschäftigte in Europa
Die EU-Mindestlohnrichtlinie ist trotz Gegenwind aus dem Unternehmerlager im November 2022 in Kraft getreten. Sie könnte die Situation von Millionen Beschäftigten in Europa verbessern. Dafür muss das europäische Gesetzeswerk nun schleunigst in nationales Recht umgesetzt werden.
Im November dieses Jahres muss die zwei Jahre zuvor in Kraft getretene EU-Mindestlohnrichtlinie in nationales Recht umgesetzt sein.
Mit der Richtlinie wird den EU-Mitgliedstaaten zum ersten Mal eine Verpflichtung auferlegt, die Lohnungleichheit zu verringern. Das Regelwerk gilt nur für Länder, in denen schon ein gesetzlicher Mindestlohn existiert. Unter den 27 EU-Mitgliedstaaten sind das insgesamt 22; die übrigen fünf (Dänemark, Schweden, Finnland, Italien und Österreich) haben ein System von tariflichen Lohnuntergrenzen, das die Richtlinie nicht berührt, sondern anerkennt. Insgesamt lässt der europäische Legislativakt den Nationalstaaten viel Spielraum bei der Umsetzung.
Worum geht es in dem europäischen Gesetz?
Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen müssen transparente Verfahren für ihre Festlegung und Aktualisierung schaffen. Hierfür werden bestimmte Kriterien zugrunde gelegt, um einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen und Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verringern.
Bei der Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne müssen die Mitgliedsstaaten zwingend „Referenzwerte“ zugrunde legen. Die Richtlinie empfiehlt die international üblichen Richtwerte von 60 Prozent des Bruttomedianlohns[1] und 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns (sogenannter Kaitz-Index[2]).
Deutschland war mit der Mindestlohnerhöhung von 10,45 Euro auf 12 Euro im Jahr 2022 von einem Nachzügler zu einem der Vorreiter in der EU geworden. Im Jahr 2023 erfolgte eine Erhöhung auf 12,41 Euro. Um den 60-Prozent-Richtwert zu erreichen, müsste nach Berechnungen des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Mindestlohn in Deutschland ca. 14 Euro betragen. Allerdings erreichen bzw. überschreiten diese Grenze in der EU nur Portugal, Slowenien und Frankreich.
Neben der Schaffung von armutsfesten Mindestlöhnen soll das europäische Gesetz Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung fördern. Angesichts der früheren politischen Ausrichtung der EU, die nicht nur Mindestlöhne, sondern auch Tarifbindung eher als ökonomische Hemmnisse denn als soziale Errungenschaften betrachtete, verwundert Art. 4 der Richtlinie: Hiernach muss jeder Mitgliedstaat, in dem die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb einer Schwelle von 80 Prozent liegt, zwingend unter Beteiligung der Sozialpartner einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen erstellen. Der Aktionsplan muss einen klaren Zeitplan und konkrete Maßnahmen zur schrittweisen Erhöhung der Tarifbindung enthalten. Damit im Einklang stehen auch die weiteren Verpflichtungen in Art. 4: nämlich, die Aktionspläne regelmäßig, mindestens alle fünf Jahre zu überprüfen und gegebenenfalls zu aktualisieren.
Wie der Politikwissenschaftler Felix Syrovatka herausstellt, erreichen in der EU nur Schweden, Finnland, Belgien, Österreich und Frankreich eine Tarifbindung von 80 Prozent.[3] Dass dennoch dieser hohe Wert als Schwelle gewählt wurde, spricht für das Bestreben der Union, den Prozess der rückläufigen Tarifbindung umzukehren, der in vielen EU-Mitgliedstaaten stattfindet.
Auch in Deutschland ist die Tarifbindung der Beschäftigten seit vielen Jahren rückläufig und mittlerweile mit circa 50 Prozent klar unter der Grenze. Es besteht somit die Verpflichtung, sie zu steigern. Waren im Jahr 1998 noch 76 Prozent der Beschäftigten in West- und 63 Prozent in Ostdeutschland tarifgebunden, so sank die Quote gemäß Zahlen des Statistischen Bundesamtes bis 2019 auf 53 Prozent im Westen bzw. 45 Prozent im Osten der Republik.
Hier ist also viel Luft nach oben und einiges an politischen Maßnahmen erforderlich. Möglich sind beispielsweise der Erlass eines Bundestariftreuegesetzes und entsprechender Ländergesetze und Erleichterungen beim Verfahren zu Allgemeinverbindlichkeitserklärung geltender Tarifverträge.
(Hinter-)Gründe für die Mindestlohn-Richtlinie
Der Entstehung des Legislativakts geht eine Entwicklung hin zu einem sozialeren Europa voraus. Eine ihrer Grundlagen ist die 2017 proklamierte „europäische Säule sozialer Rechte“. Dort heißt es in Kapitel II Grundsatz 6, dass Arbeitnehmer das Recht auf eine gerechte Entlohnung haben, die ihnen einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht.
Rechtlich gesehen ist dies ein unverbindliches Postulat. Entsprechend werden nach Grundsatz 6 Absatz 3 alle Löhne und Gehälter auch gemäß den nationalen Verfahren festgelegt. Ein über nationales Recht hinausgehender Anspruch besteht nicht. Nun ändert sich die Rechtslage, da mit der Richtlinie Verbindlichkeit geschaffen wurde.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Statement von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im September 2020. In ihrer Rede zur Lage der Union prangerte sie an, dass „sich Arbeit für viele Menschen nicht mehr lohnt.“Dafür seien Dumpinglöhne verantwortlich, weil sie den „Wettbewerb im Binnenmarkt“ verzerren. „Alle in Europa sollen einen Anspruch auf Mindestlohn haben, sei es im Rahmen einer Tarifvereinbarung oder dank eines gesetzlichen Mindestlohns.“
An von der Leyens Worten wird ein grundsätzlicher Perspektivwechsel deutlich: Nicht mehr hohe Sozialstandards verzerren den Wettbewerb. Diese Wirkung wird nunmehr Dumpinglöhnen zugesprochen.
Anscheinend hat die Kommission die empirische Wirklichkeit der Mindestlohnentwicklung zur Kenntnis genommen. So heißt es in Begründung zum Gesetzestext, dass in den meisten Mitgliedstaaten mit nationalen gesetzlichen Mindestlöhnen diese trotz ihrer Erhöhung in den letzten Jahren im Vergleich zu anderen Löhnen zu niedrig sind. Teilweise seien sie auch zu niedrig, um ein menschenwürdiges Leben zu garantieren.
Positive Effekte durch angemessene Mindestlöhne werden – auch dies ist bemerkenswert – nicht nur den betroffenen Arbeitnehmern zugesprochen, sondern auch den sie beschäftigenden Unternehmen. In dem Vorschlag für eine Mindestlohnrichtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates heißt es dazu:
„Bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, auch durch angemessene Mindestlöhne, kommen sowohl Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als auch Unternehmen in der Union zugute und sind eine Grundvoraussetzung für inklusives und nachhaltiges Wachstum. […] Der Wettbewerb im Binnenmarkt sollte auf hohen Sozialstandards, Innovationen und Produktivitätssteigerungen beruhen und unter gleichen Bedingungen stattfinden.“
Die Gesetzgebungsorgane der EU bedauern in der Begründung der Richtlinie, dass Tarifverhandlungsstrukturen in den letzten Jahrzehnten im Zuge der Zunahme atypischer und neuer Beschäftigungsformen und der damit verbundenen Schwächung von Gewerkschaften untergraben wurden.
Europa als Raum sozialer Angleichung
Die Ausführungen der Kommission veranschaulichen eine neue Sichtweise: Europa wird als Lebensraum konzipiert, in dem hohe soziale Standards für alle abhängig Beschäftigten gelten sollen, was auch für die Unternehmen von Vorteil sein soll. Die Richtlinie mit ihrem Ziel der Bekämpfung von Arbeitsarmut zeigt einen Wandel in der Konzeption der EU. Wettbewerb soll nicht über Löhne stattfinden, und Lebens- und Arbeitsbedingungensollen sollen sich nach oben angleichen.
Diese Sichtweise steht in Kontrast zu der bisherigen europäischen Politik und Rechtsprechung, in der zumindest kollektive soziale Rechte lange Zeit eher als Hemmnisse für den Binnenmarkt galten. Insbesondere die austeritätspolitischen Maßnahmen, welche die EU bzw. Troika (Europäische Kommission, Internationaler Währungsfonds und Europäische Zentralbank) infolge der Finanz- und Eurokrise implementiert haben, führten zu stark zunehmender Armut in den südeuropäischen Ländern. Auf Druck von EU und Troika haben die Mitgliedstaaten Sozialleistungen gekürzt, Gehälter und Mindestlöhne im öffentlichen Dienst gesenkt und Arbeitsmärkte und Tarifvertragssysteme dereguliert. Dadurch sank das Lohnniveau drastisch, und die Arbeitslosigkeit stieg teilweise immens.
Zudem war die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) lange von der Unterordnung kollektiver sozialer Rechte wie Streikrecht und Tariftreue unter die wirtschaftlichen Grundfreiheiten (freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital) der Europäischen Verträge geprägt.
Jetzt ist die Ampel gefragt
Die Mindestlohnrichtlinie könnte eine echte Wende zu einem sozialen Europa einleiten. Hohe Arbeitnehmerstandards wie ein angemessener Mindestlohn sowie die Sozialpartnerschaft inklusive Tarifverhandlungen und -bindung werden in einer bisher nicht gekannten Deutlichkeit positiv beschrieben. Wenn die wirtschaftlichen Grundfreiheiten in den Europäischen Verträgen nicht mehr einseitig zugunsten der Unternehmer, sondern auch im Sinne der Lohnabhängigen ausgelegt werden, würden sie ihre neoliberale Schlagseite verlieren.
Nun ist es höchste Zeit, das europäische Gesetz in deutsches Recht zu gießen und insbesondere ein bundesweites Tariftreuegesetz zu schaffen, nachdem öffentliche Aufträge nur an Unternehmen vergeben werden dürfen, die ihren Beschäftigten Tariflöhne zahlen.
Es bleiben noch wenige Monate, um die Richtlinie bis zur Frist im November 2024 umzusetzen. Setzt ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht fristgemäß um, kann die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Im Sinne der vielen „working poor“ in der EU, die auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation hoffen, wäre dies – falls notwendig – zu begrüßen. Besser wäre es, die Ampel-Regierung käme fristgerecht ihrer Verpflichtung nach – auch ohne Ermahnung aus Brüssel.
Derzeit befasst sich das Bundesarbeitsministerium mit der Angelegenheit. In Kürze will es einen Gesetzesvorschlag vorlegen. Bleibt zu hoffen, dass dieses Vorhaben nicht ampel-intern blockiert wird.
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