Spitzenkandidaten?
Die SPD hält das Prinzip europäischer Spitzenkandidaten hoch. Das erweist sich bei Licht besehen als Heuchelei. Denn in ihrem Wahlkampf kommt Spitzenkandidat Nicolas Schmit praktisch nicht vor.
Der Europawahlkampf 2024 neigt sich dem Ende zu. Auf ihren Plakaten überbieten sich die Parteien mit so inhaltsleeren wie austauschbaren Slogans. Neben der FDP führt auch die SPD einen besonders personalisierten Wahlkampf. „Auf Katarina Barley und den Kanzler kommt es an“, lesen wir da. Gut, warum nicht – doch halt, war da nicht was? Das EU-weite Spitzenkandidaten-Prinzip, das der SPD bei den vorangegangenen EP-Wahlen so wichtig war, dass sie es zum Herzstück der europäischen Demokratie erklärte? Erinnert sich wer?
Würde sich die SPD konsistent verhalten, wäre zumindest auf einigen der Plakate jemand anderes zu sehen, und zwar Nicolas Schmit. Der war von 2009 bis 2018 luxemburgischer Arbeitsminister, seit 2019 fungiert er als EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, und nun ist er Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten. Im Wahlkampf der SPD wird er regelrecht versteckt. Das hat der wackere Fachpolitiker nicht verdient. Vor allem aber entlarvt der Wahlkampf der Sozialdemokraten ihr früheres Eintreten für das Spitzenkandidaten-Prinzip als Heuchelei.
Das Prinzip wurde im Vorfeld der EP-Wahlen des Jahres 2014 vom Europäischen Parlament einseitig, also am Rat vorbei, proklamiert: Man werde keinen Kommissionspräsidenten mitwählen, der nicht zuvor von einer der europäischen Parteienfamilien als Spitzenkandidat gekürt wurde. Das war ziemlich verwegen, denn Artikel 17 Absatz 7 des EU-Vertrags verlangt vom Rat lediglich, die Zusammensetzung des EP bei der Nominierung eines Kommissionspräsidenten, der dann vom Parlament bestätigt werden muss, zu berücksichtigen.
Die starke Stellung des Rats bei der Bestimmung des Kommissionspräsidenten ergibt sich folgerichtig aus der Tatsache, dass die Europäische Union keine parlamentarische Demokratie ist, sondern in weiten Teilen ein von den Mitgliedstaaten getragenes Behördengeflecht. Die europäischen Parteien hofften gleichwohl, mit der Proklamation des Prinzips einen schleichenden Verfassungswandel anzustoßen. Sei das Prinzip erst einmal praktisch etabliert, werde es schließlich auch in das unionale Staatsorganisationsrecht einwandern, so die Hoffnung. Dumm nur, wenn selbst seine nominell stärksten Befürworter das Prinzip durch ihre eigene Wahlkampfpraxis konterkarieren.
Auf den ersten Blick wirkt das Prinzip wie eine gute Idee. Wie, so fragte man sich, lassen sich die mitgliedstaatlichen Europawahlkämpfe schrittweise in einen gemeinsamen, europaweiten Wahlkampf überführen? Für einen publikumswirksamen Wahlkampf braucht man Gesichter. Sind diese in allen Ländern dieselben, könnte die Union zwar nicht plötzlich, aber zumindest doch nach und nach zu einem gemeinsamen politischen Raum zusammenwachsen. An die Stelle von 27 nationalen Polarisierungen könnte schließlich eine gemeinsame europäische Polarisierung treten, die die Identifikation mit der Union und damit letztlich auch die Legitimität europäischen Regierens fördert. Das Spitzenkandidaten-Prinzip könnte also helfen, die EU mittelfristig eben doch zu einer richtigen parlamentarischen Demokratie zu machen.
Die große Euphorie blieb außerhalb Deutschlands aber aus, aus nachvollziehbaren Gründen. Die Mitgliedstaaten müssen vertrauensvoll mit dem Kommissionspräsidenten zusammenarbeiten können. Dabei sind nicht nur Parteienbelange relevant, sondern auch Fragen des zwischenstaatlichen Ausgleichs. Viele innereuropäische Konfliktlinien verlaufen nicht zwischen den Parteienfamilien, sondern zwischen Ländergruppen: In der Währungsunion etwa zwischen Nord und Süd, bei Wertekonflikten vor allem zwischen Ost und West. Ein Kommissionspräsident muss für alle vertretenen Ländergruppen akzeptabel sein. Ist es vor diesem Hintergrund sinnvoll, dem Rat das Recht auf Nominierung streitig zu machen? Und was bedeutet das Prinzip für die Wahlkämpfe: Wer hat am Ende etwas davon, wenn die Parteien Politiker plakatieren, die inländisch praktisch unbekannt sind?
Dass die SPD solche Einwände nicht gelten ließ, hatte nach den Europawahlen des Jahres 2019 weitreichende Folgen, die bis heute nachwirken. Aus diesen Wahlen war die christdemokratische EVP-Fraktion als klare Siegerin hervorgegangen. Die zentristischen christdemokratischen, sozialdemokratischen und liberalen Fraktionen, die allesamt hinter dem Prinzip standen, hatten zusammen eine satte Parlamentsmehrheit. Gleichwohl musste die vom Rat nominierte Ursula von der Leyen um ihre Mehrheit bangen, denn die Fraktionen stimmten nicht geschlossen ab. Namentlich stimmten die deutschen Sozialdemokraten gegen die Kandidatin – mit der Begründung, dass sie ja keine der vorher benannten Spitzenkandidaten war. Sie zu wählen, wäre „ein riesiger Rückschritt bei der Demokratisierung der Europäischen Union“, so Katarina Barley (SPD).
Tatsächlich wurde von der Leyen dann nur mit einem knappen Ergebnis von neun Stimmen über der erforderlichen Mehrheit gewählt. Diese Erfahrung ist einer der Gründe, warum von der Leyen auf der Suche nach sicheren Mehrheiten derzeit auch Gespräche mit Giorgia Meloni führt. Die SPD kritisiert das in ihrem Wahlkampf heftig, weil Melonis Fratelli d’Italia keiner der zentristischen EP-Fraktionen angehört, sondern der gemäßigteren der beiden rechten Fraktionen (der EKR-Fraktion). Von der Leyen, deren EVP die Europawahlen mit äußerster Wahrscheinlichkeit gewinnen wird, ist nun in einer merkwürdigen Lage. Zwar ist sie Spitzenkandidatin und müsste nach den Regeln, die von den deutschen Sozialdemokraten hochgehalten werden, eigentlich auch von ihnen zur Chefin der Kommission gewählt werden. Da sie aber gelernt hat, dass auf die SPD bei der Wahl der Kommissionspräsidentin kein Verlass ist, sieht sie sich nach breiteren Mehrheiten um – und gibt den deutschen Sozialdemokraten damit einen neuen Vorwand, sie trotz eines wahrscheinlichen Wahlsiegs möglicherweise abermals nicht zu unterstützen.
Kurz, im Jahr 2019 noch hatte die SPD das Spitzenkandidaten-Prinzip über alles gestellt, und davon ist sie bisher auch nicht abgerückt. Vor diesem Hintergrund wirkt ihr Wahlkampf, in dem Spitzenkandidat Nicolas Schmit praktisch nicht vorkommt, reichlich schal.